Der UNO-Sicherheitsrat hat die Resolution 1701 einstimmig verabschiedet. Darin wird ausdrücklich der Hisbollah-Angriff am 12. Juli auf Israel als Auslöser für den Krieg erwähnt, die bedingungslose Freilassung der beiden israelischen Soldaten, Ehud Goldwasser und Eldad Regev, sowie ein Waffenstillstand und die Umsetzung der UNO-Resolution 1559 gefordert. Zur Umsetzung dieser Forderungen, die einen Rückzug und eine Entwaffnung der Hisbollah einschließen, wird die UNIFIL-Truppe im Südlibanon von 2.000 auf 15.000 Mann verstärkt und mit einem so genannten „robusten Mandat“ versehen, das heißt, sie ist keine reine Beobachter-Truppe mehr, sondern kann ihrer Autorität mit Waffengewalt Nachdruck verleihen.
Doch wann die Waffen tatsächlich ruhen werden, weiß bislang noch niemand. Das kann Tage oder Wochen dauern. Die israelische Armee macht keine Anstalten, die gerade von der Regierung beschlossene Großoffensive einzustellen und rückt weiter in Richtung Litani-Fluss vor. Weiterhin fallen Raketen auf Nordisrael – und noch immer sitzen eine Million Israelis in ihren Schutzräumen und Bunkern fest. Dort liegen die Nerven nach einem Monat blank.
„Hau ab! Wir haben die Schnauze voll von neugierigen Journalisten!“, begrüßt mich der etwa 20-jährige Jakir und wird fast handgreiflich. An der Wand steht hinter einem Tisch mit Essensresten ein Bett, von dem sich Jakirs Großmutter erhebt. Beschwichtigend hebt sie die Hand in Richtung auf ihren aufgebrachten Enkel und zieht mich aus der potentiellen Kampfzone. Alice Buskila ist 1962 mit ihrem Mann Avraham aus Marokko eingewandert, hat dreizehn Kinder großgezogen und freut sich mittlerweile über 34 Enkel und zwei Urenkel.
Nach ihrer Ankunft in Kirjat Schmonah haben die Buskilas ein paar ruhige Jahre erlebt. Doch seit mehr als drei Jahrzehnten gehören die Katjuscha-Raketen zum Alltag in der Stadt am nördlichsten Zipfel Israels. „Aber so schlimm, wie in den vergangenen vier Wochen, war es noch nie!“, erklärt Alice. Avraham wurde Ende März von einem Lastwagen angefahren und schwer verletzt. Er ist direkt vom Krankenhaus in den Bunker gekommen und kann sein Lager nicht verlassen. Es ist allerdings nicht der Gesundheitszustand ihres Mannes, sondern die neuen, verheerenderen Katjuscha-Raketen, die sie im Schutzraum festhalten. „Das sind heute ganz andere Katjuschas!“
Während sie erzählt, klingelt das Telefon. Jakir nimmt ab und berichtet, dass zum dritten Mal eine Katjuscha in das Haus eines der Buskila-Brüder eingeschlagen hat. In der Ecke kauert der jüngste Sohn von Alice und Avraham. Schlomi Buskila ist 30 Jahre alt und hat seine 22-jährige Maja im Bunker geheiratet. „Der Rabbi hat verboten, die Hochzeit aufzuschieben. Deshalb hatten wir am 20. Juli nur 100 Gäste hier“, erklärt Schlomi, während sich Maja an ihn schmiegt und scheu lächelt. Wenn sie die Flitterwochen im Bunker hinter sich haben und es wieder friedlicher geworden ist, wollen sie eine richtige marokkanische Hochzeitsfeier nachholen, mit 800 bis 1.000 Gästen, wie es sich gehört.
Eine Gruppe von Physiotherapeuten und Masseuren aus Zentralisrael trifft im Bunker ein. Sie bieten den verängstigten und verärgerten Bewohnern an der Nordgrenze Massagen und vor allem ein offenes Ohr. Jossi Tomer aus Ra´anana bei Tel Aviv leitet die Gruppe der Volontäre. Er ist promovierter Arzt für Naturheilkunde und berichtet, dass die Leute nach einem Monat im Bunker vor allem an Verspannungen, Depressionen, Angstzuständen und Atemnot leiden.
Draußen auf der Straße treffe ich Joe wieder, der mir vorhin beim Luftalarm den Weg in den Bunker der öffentlichen Schule gezeigt hat, in dem die Großfamilie Buskila Unterschlupf gefunden hat. Joe ist ganz offensichtlich verwirrt, redet von der Fußballweltmeisterschaft, und dass die Hisbollah Raketen schießt. Während ich mich, mit Helm und kugelsicherer Weste bekleidet, auf der Suche nach einem Schutzraum beeilt hatte, lief Joe ganz unbekümmert und ungeschützt durch die menschenleeren Straßen von Kirjat Schmonah, so als hörte er die ohrenbetäubenden Einschläge der Raketen und den Geschützdonner der Artillerie schon gar nicht mehr.
Oberhalb von Kirjat Schmonah liegt die kleine Siedlung Margaliot. Kaum mehr als hundert Meter entfernt sind die ersten libanesischen Häuser auf dem Bergrücken zu sehen, von deren Dächern noch immer die zerfledderten gelben Flaggen der Hisbollah wehen. 99 Prozent der Einwohner von Margaliot haben sich nach Süden abgesetzt und sind wie schätzungsweise 300.000 weitere Israelis auf der Flucht im eigenen Land.
Josef Davidi ist mit seiner Frau zu Hause geblieben. Er weiß nicht, wo er hinfliehen soll. Der 71-jährige ist in Kermascha im Iran geboren, „dort, von wo jetzt die Raketen kommen“, erklärt er mit einem ironischen Lächeln. 1958 ist er nach Israel eingewandert. Regelmäßig hört Josef die Nachrichten aus seiner alten Heimat, hört, wie Israel an allem schuld ist und die Juden verflucht werden. Verträumt erzählt er davon, was für ein schönes und reiches Land Persien ist. „Aber die haben eine schlechte Regierung. Der Schah hat sich nicht um das Volk gekümmert. Deshalb ist er gefallen.“ Im Blick auf die jetzige Regierung und deren verlängerten Arm im Südlibanon, die Hisbollah, meint Josef Davidi: „Das ist ein Hitler der neuen Sorte.“
Josef behauptet, keine Angst vor den Katjuschas zu haben. Aber die pausenlosen Explosionen, und dass man zur Untätigkeit verurteilt ist, zermürbt. Dann beklagt er sich darüber, dass ein ganzes Jahreseinkommen der Landwirtschaftskommune Margaliot vernichtet ist. Die Nektarinen, Pfirsiche, Birnen und Äpfel verrotten auf den Plantagen. „Und die Kinder sind in Panik. Sie haben Angst und manche kommen überhaupt nicht mehr unter der Bettdecke hervor.“ Eine Mutter ist ganz verzweifelt, dass ihr Sechsjähriger wieder ins Bett macht – lehnt aber psychologische Hilfe hysterisch ab: „Mein Junge ist doch kein Irrer!“
Während Josef Davidi erzählt, gesellt sich seine Tochter Ilana zu uns. Wir schlürfen den starken orientalischen Kaffee und Ilanas Mann, Michael Gabai, berichtet, dass ihr Haus in Kirijat Schmonah und ihre beiden Autos durch Raketeneinschläge vollkommen zerstört wurden. Die Gabais haben sich auch nach Zentralisrael abgesetzt und wollen jetzt nur ein paar persönliche Dinge holen. Der Handwerker sieht sich und sein Volk in einem Existenzkrieg. „Wenn wir uns nicht selbst verteidigen, beschützt uns niemand“, weist er die Aussicht auf eine internationale Friedenstruppe im Südlibanon mit einer entsprechenden Handbewegung von sich. „Nach dem Krieg muss es einen Untersuchungsausschuss geben, der feststellen muss, wo unsere Politiker und Sicherheitsexperten in den vergangenen Jahren waren, während die Hisbollah auf Sichtweite von uns ihr Waffen- und Raketenarsenal aufgebaut hat.“
Um Margaliot herum raucht der verkohlte Wald, der am Vortag durch Katjuschaeinschläge in Brand gesetzt worden war. Die noch vor wenigen Wochen saftig grün bewaldeten Hänge um Kirijat Schmonah sind zu weiten Teilen verkohlt und abgebrannt. Diplomaten, die zwischen Beirut und Jerusalem pendeln, berichten, wie die israelische Luftwaffe gezielt bestimmte Stadtteile in Beirut bombardierte, andere dagegen seien vollkommen unversehrt. Der Raketenregen auf Israel dagegen ist vollkommen ungezielt und unterscheidet nicht zwischen Wohngegenden und Wäldern.
Die Raketen der Hisbollah unterscheiden auch nicht zwischen jüdischen und arabischen Dörfern in Israel. Da die Einrichtung von Schutzräumen Sache der jeweiligen Kommunen ist und sich die arabischen Einwohner von Galiläa nur wenig um die Bauvorschriften scheren, sind viele israelische Araber weitgehend schutzlos. Während ich im Auto an endlosen Panzerkolonnen vorbei fahre, die auf den Marschbefehl in Richtung Libanon warten, meldet das israelische Radio, dass im galiläischen Dorf Deir el-Assad eine junge Mutter und ihre kleine Tochter durch einen direkten Raketentreffer getötet wurden. Die Einwohner der arabischen Ortschaft beklagen sich darüber, Bürger zweiter Klasse zu sein, und spiegeln die Stimmung unter einem großen Teil der arabischen Bürger Nordisraels wider, die ihre eigene Regierung für den Krieg verantwortlich machen und ihre Toten gerne von „Bruder Nasrallah“ zu „Märtyrern“ erklären lassen.
Am Nachmittag erlebe ich meinen letzten Luftalarm des Tages in Ma´alot. Aus sicherer Entfernung sehen wir, wie eine Rakete im jüdischen Kfar Vradim einschlägt, eine andere in dem benachbarten arabischen Dorf Tarschiha. Ma´alot-Tarschiha haben die einzige gemeinsame jüdisch-arabische Stadtverwaltung in Israel. Nicht alle Bewohner von Tarschiha schließen sich der anti-israelischen Stimmung vieler arabischer Israelis an. Ein christlicher Araber aus Tarschiha meint vor laufender Fernsehkamera nach der Beerdigung von drei arabischen Teenagern, die bei einem Raketenangriff ums Leben gekommen waren: „Ich fühle wie jeder jüdische Israeli. Wir sind Brüder. Was ihnen passiert, geschieht uns.“ Und: „Man muss die Hisbollah auslöschen. Ich nenne [den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah] ‚Hassan HaSatan‘, ‚Hassan, den Teufel‘.“
(Das Bild zeigt Avraham und Alice Buskila. Foto: Johannes Gerloff)