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Erwartung einer Neuausrichtung israelischer Identität

Die säkulare Gesellschaft in Israel wendet sich wieder stärker jüdischen Werten zu. Damit könne das aktuelle ideologische Defizit in der israelischen Identität überwunden werden, äußert ein Referent auf einer Konferenz in New York.
Von Israelnetz

Am 3. Juni hielt die größte englischsprachige israelische Tageszeitung Jerusalem Post  in New York ihre alljährliche Konferenz ab. Die Jerusalem Post Conference brachte Journalisten und Medienvertreter mit einflussreichen Persönlichkeiten aus der israelischen und amerikanischen Politik und Gesellschaft zusammen.

Dabei wurden die verschiedenen Themen, die Israel außen- und innenpolitisch betreffen, besonders vor dem Hintergrund der Hamas-Angriffe im Oktober 2023 und des noch andauernden Gazakrieges, eingehend diskutiert. Unter anderem ging es auch um die Folgen des neuen Krieges für das israelische Selbstverständnis.

Bei der Konferenz war eine Diskussionsrunde der jüdischen Erziehung und Bildung in Israel gewidmet („Jewish Education: A Delicate Balance“). Es kamen Aktivisten unterschiedlicher jüdischer Verbände, Organisationen und Anliegen zu Wort. An dieser Stelle soll der Beitrag von Terry Newman hervorgehoben werden. Der 43-Jährige Unternehmer ist Vorsitzender des öffentlichen Vorstandes des israelischen Bildungsvereins „Bina – Jüdische Bewegung für gesellschaftliche Veränderung“.

Demokratie und jüdische Werte stärken

„Bina“ bedeutet übersetzt „Verstand“ und ist das hebräische Akronym für „Ein Haus für die Bildung der Seelen unserer Nation“. Der Verein (www.bina.org.il) sieht sich als „israelische Bewegung, die jüdische Bildung mit gesellschaftlichem Aktivismus verbindet und Demokratie, Pluralismus und Gerechtigkeit in Israel und der jüdischen Welt vorantreiben möchte. Dies geschieht durch ‚limmud‘ (Studium), ‚ma-ase‘ (Handeln) und ‚kehila‘ (Gemeinde), durch die Betonung jüdischer Kultur und der Werte des ‚tikkun olam‘ (Heilung der Welt).“

Die Organisation ist darum bemüht, eine politische Kultur zu fördern, die die Stärkung der Demokratie mit einer Stärkung von jüdischen Werten verbindet. Damit soll auch einem religiös-inspirierten politischen Extremismus, der das Judentum über den Staat stellt, entgegengewirkt werden. Die Macht der Ultraorthodoxie bei der Gestaltung der Normen für das israelische Judentum, das „halachische Monopol“ soll dazu gebrochen werden. Das israelische Judentum solle sich auf der „Graswurzelebene“ selbst bestimmen dürfen. Gleichzeitig wird versucht, den säkularen Juden das jüdische Erbe und die Werte des Judentums nahezubringen, ohne ihnen dabei eine bestimmte religiöse Praxis aufzuzwingen.

Terry Newman beschrieb 2021 seine Aufgabe: „Die Start-up-Nation muss sich der Herausforderung stellen. Wir erleben eine Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist und sich selbst heraussucht, welche Inhalte sie annimmt oder ablehnt. Wir müssen unser Judentum so gestalten, dass es kraftvoll und relevant ist und haften bleibt. Das ist die Aufgabe unserer Generation.”

Der gemeinnützige Verein wurde 1996 von Kibbuz-Erziehern und Intellektuellen als Antwort auf die Ermordung von Premierminister Jizchak Rabin gegründet. Das Attentat 1995 war durch religiösen Fanatismus motiviert. Die Bildungsarbeit findet vor allem in Kooperation mit dem staatlichen Schulsystem, dem Militär in Israel und der jüdischen Zivilgesellschaft weltweit statt.

Zuwendung zur jüdischen Kultur

Der in Großbritannien geborene Newman vertrat in seinem kurzen Redebeitrag auf der Jerusalem Post-Konferenz die Überzeugung, dass Israel im Zuge des 7. Oktober eine „stille Revolution“ bezüglich seines Selbstverständnisses zwischen Säkularität und Religiosität erlebe.

Im Ergebnis werde die jüdische Identität gegenüber der israelischen gestärkt. Das bisherige „israelische Jahrhundert“, das er seit der Pionierzeit vor der Staatsgründung bis in die heutige Zeit berechnet, werde nun von einem „jüdischen Jahrhundert“ abgelöst. Der Sprecher meint damit, dass die säkular-israelische Gesellschaft sich wieder stärker der jüdischen Kultur und jüdischen Werten zuwendet. Das somit zurückgewonnene moderate Maß an Religiosität soll aber unbedingt demokratisch und nicht länger von den Religionsbehörden gestaltet werden, und nicht in Konkurrenz zum Staat treten.   

Der Bildungsaktivist bezeichnete in seinem Vortrag den Zionismus seit Ende des 19. Jahrhunderts und den Staat Israel seit 1948 als Modell der „Israelifizierung“ des Judentums. Das Verhältnis zum Zionismus sei zu einem Fokus der jüdischen Identität geworden; weltweit hätten sich die Juden in Bezug auf Israel zustimmend oder ablehnend positionieren müssen.

Die jüdische Religion habe mit ihrer Kultur ein säkulares Staatswesen hervorgebracht, das ein Land umfasst, eine historische Sprache zur Nationalsprache wiederbelebt hat, moderne Streitkräfte besitzt und eine hochtechnologische Wirtschaft hat. Damit seien die ideologischen Forderungen des Zionismus weitestgehend erfüllt und der Staat Israel besitze keine herausragende sinnstiftende Bedeutung mehr. Dass israelische Kinder heute in der Schule Hebräisch lernen, sei so normal wie das Erlernen der Landessprache durch Schüler in anderen Ländern und stelle daher keine besondere ideologische Leistung mehr dar.

Nur wenige Juden fliehen aus ärmeren Ländern nach Israel

Selbst die zionistische Kernvision Israels, das Land für die „Sammlung der Zerstreuten“ aus dem weltweiten Exil zu sein (5. Mose 30,1–5), sei inzwischen nicht mehr essentiell für das israelische Selbstverständnis. 99 Prozent aller Juden lebten in OECD-Ländern. Es gebe also nur noch wenige Juden, die aus einem ärmeren Land nach Israel fliehen müssten.

Auch wenn vielleicht noch im Himalaya Angehörige eines jüdischen Stammes entdeckt und diese nach Israel gebracht würden, sei die Alija, der „Aufstieg“ der Juden aus der Diaspora nach Israel, nicht mehr ausreichend identitätsstiftend für die Menschen im Land. Daher sei eine Neubestimmung der jüdischen Religion in Israel nötig, um den moralischen Grundkonsens für die Bestimmung des Staates zu erneuern. 

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Obwohl Israel natürlich große Herausforderungen habe, ob wegen der wachsenden Bevölkerung oder der begrenzten Wasserressourcen und des Elektrizitätsbedarfs, sei es eine „unglaubliche Erfolgsgeschichte“: es sei die größte Volkswirtschaft und habe die stärksten Streitkräfte im Nahen Osten. Dennoch stellten sich mehr und mehr Israelis die Frage, was es bedeute, israelisch und jüdisch zu sein. Junge Leute fragten sich, was sie als Israelis noch von zum Beispiel jungen Nicaraguanern unterscheiden solle, ergänzte Newman.

Viele Menschen seien nicht mehr bereit dazu, den „Gesellschaftsvertrag“ von 1947 zu akzeptieren, der die Regelung jüdischer Praxis an die staatlich sanktionierten Religionsbehörden delegiert habe. Inzwischen forderten viele Israelis, selbst an den Prozessen beteiligt zu werden, die die Rolle der jüdischen Religion in der Gesellschaft festlegen. Damit machten sich die Bürger Israels die „privatwirtschaftliche“ Erkenntnis zu eigen, dass, „wenn der Staat zu viele Aufgaben übernehme, die Preise stiegen und die Qualität abnehme“. Bei diesen Prozessen der Neudefinierung des Jüdisch-Seins in Israel nehme auch die Forderung zu, dass das Judentum der Diaspora einbezogen werden müsse.

Globales Judentum beteiligen

Terry Newman argumentiert, dass das 21. Jahrhundert infolge der von ihm prognostizierten Entwicklung zu einem „jüdischen Jahrhundert“ werde. Seiner Vision nach soll das Judentum in Israel demokratisch neujustiert werden, auch unter Mitwirkung des globalen Judentums; die israelische Identität würde sich weniger spezifisch israelisch und wieder stärker jüdisch ausprägen.

So reformiert könne die jüdische Religion das gegenwärtige ideologische Defizit in der israelischen Identität zu überwinden: „Das Judentum wird die Zukunft Israels bestimmen, und es wird es auf eine Art tun, in der es die Juden in Israel mit Juden auf der ganzen Welt verbindet.“

Newmans Vorstellungen über die neue jüdisch-israelische Identität werden bald auf Hebräisch als Buch mit dem Titel „Das jüdische Jahrhundert“ erscheinen, später in englischer Übersetzung („The Jewish Century“). Es ergibt Sinn, dass Newmans Ideen hiervon in einem Forum der Jerusalem Post in Amerika vorgetragen wurden. Die Jerusalem Post ist ein wichtiges mediales Bindeglied zwischen Israel und dem anglo-amerikanischen Judentum – der größten und einflussreichsten jüdischen Bevölkerung außerhalb Israels – mit seinen unterschiedlichen Strömungen. Daher legt sie auch großen Wert auf die Berichterstattung zu Entwicklungen im jüdischen religiösen Leben und Identitätsfragen in Israel.

Von: Nicolas Dreyer

Nicolas Dreyer war unter anderem für den Ebenezer Hilfsfonds Deutschland e.V. in Hamburg und den Jüdischen Nationalfonds JNF-KKL e.V. in Frankfurt a.M. tätig. Er ist 2. Vorsitzender eines deutschen Fördervereins für den israelischen Rettungsdienst, Christliche Freunde des Magen David Adom in Israel (CFMDA) e.V., und ist Mitglied der General Assembly des „AMI Jerusalem Center for Biblical Studies and Research“. Der promovierte Slawist ist Lehrbeauftragter an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er forscht zu jüdischer Literatur und Geschichte in Russland und der Ukraine.

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6 Antworten

  1. Herzlichen Dank für diesen interessanten und aufschlussreichen Artikel!
    Und ich finde die Gedanken von Terry Newman sehr klug und zukunftsweisend, Zitat: „Inzwischen forderten viele Israelis, selbst an den Prozessen beteiligt zu werden, die die Rolle der jüdischen Religion in der Gesellschaft festlegen.“ Prima, wenn diese Gedanken aus der Mitte der Gesellschaft kommen und damit eine Offenheit verbunden ist und jeder den Glauben nach seinem jeweiligen Vermögen leben kann.

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  2. Ich wünsche dem Judentum auf dem Weg zum Jüdischen Jahrhundert alles Gute.
    Der Bericht ist sehr aufschlussreich.
    Ich meine, dass die eingepfropften Zweige des Baums einen guten Beitrag dazu leisten können. Wir können Israel und das Judentum stärken, wenn wir die Bibel richtig verstehen und wenn wir am Fortschritt aus Israel teilhaben: Viele Umweltschützer/innen werden erkennen, dass Israel für den Erhalt der Umwelt wichtig ist, und in vielen Bereichen wird es nach dieser schweren Zeit wieder eine gute Z. geben, weil die Menschheit begreift, wie wichtig das Judentum und Israel sind. Es gibt aus der 2.biblischen Weltreligion Kräfte, die es verstehen werden, mit starkem Glauben und Weisheit für eine pro-jüdische und pro-israelische Welt zu sorgen, wenn denn diese schrecklichen Jahre vorbeigehen. Und die wahren ökologischen Kenner werden den Wert Israelischer Forschungen anerkennen, ich nehme hier den Umweltschutz als ein Beispiel für viele heraus, wo gesellschaftlicher Aktivismus sich für die ganze Welt auszahlen wird.
    Aber bei allen zukünftigen Entwicklungen gilt es jetzt, die Kriege auf der richtigen Seite zu gewinnen, der liebe Gott wird Gerechtigkeit bringen.

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  3. Es ist nicht war, Binah heißt nicht Weisheit.
    Binâh בינה heißt Verstand und Khochmâh חכמה heißt Weisheit.
    Das war schon so, als es das Wort ‚Weisheit‘ noch nicht gab.

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  4. Es war eine stark vom linken
    Zionismus geprägte Kibbuz Bewegung die Israel mit aufbaute . Davon ist leider nicht mehr viel übrig. Der auch in Israel herrschende sozial ungerechte Neoliberalismus führt eben zu diesen Problemen. Da müsste mensch ansetzen.

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