Das jüdische Fest Simchat Tora wird in Israel als letzter Tag und Abschluss des Laubhüttenfestes am 22. Tischrei begangen. In der Diaspora ist es oft einen Tag später, am 23. Tischrei.
Das Fest der Freude an der Tora zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass in der Synagoge das letzte Kapitel des Buches Devarim (5. Mose) und das erste des Buches Bereschit (1. Mose) gelesen wird. Dadurch feiern Juden auch den Lesezyklus der Tora und erinnern an die immerwährende Gültigkeit der Weisung Gottes. Am folgenden Schabbat beginnt dann die Toralesung in der Synagoge mit der Paraschat Bereschit („Im Anfang“), dem ersten Wochenabschnitt.
Der jüdische Festkalender beinhaltet auch einen Lesezyklus, der aus insgesamt 54 Wochenabschnitten besteht. Diese werden im Laufe des jüdischen Jahres bis zum Laubhüttenfest gelesen. An manchen Schabbattagen gibt es zwei Abschnitte zusammen.
Simchat Tora bietet vermutlich wie kaum ein anderes Fest den Anlass, eine Neuerscheinung eines Buches mit wöchentlichen Auslegungen der Tora vorzustellen: Die Wochenlesungen der Thora: Auslegungen der fünf Bücher Mose. Denn welches Fest könnte sich besser eignen, um in die Welt der jüdischen Tora-Lesung und -Auslegung einzusteigen?
Israelischer Autor aus Frankreich
Der Autor des umfassenden Bandes ist der französisch-stämmige, in der israelischen Küstenstadt Aschkelon lebende Israeli Haïm Ouizemann (auf Deutsch Chaim Weizmann). Ouizemann ist Absolvent des „Institut National des Civilisations et Langues Orientales de Paris“ (INALCO) sowie des „Institut Catholique de Paris“ (ICP). Er ist Hebraist und unterrichtete viele Jahre lang die Grammatik des biblischen Hebräischen. 1989 machte er mit seiner Frau Myriam Alija.
Ouizemann ist zudem Autor verschiedener französischer Bücher, unter anderem zur hebräischen Grammatik, zur biblischen Ethik und dem biblischen Veganismus. Der Autor unterhält auch französischsprachige Blogs auf den Websites des „Israel Magazine“ und der „Times of Israel“.
Sein ebenfalls ursprünglich auf Französisch erschienenes Werk Die Wochenlesungen der Thora wurde von der Baseler Hebraistin Cathy Faes ins Deutsche übersetzt. Das broschierte Buch im A4-Format ist im Juli 2024 erschienen. Es bietet sehr ausführliche, bis zu neunseitige Auslegungen der 54 Paraschot (Wochenabschnitte). Diese 54 Kapitel, eingebunden in fünf Teile entsprechend der fünf Bücher Mose, sind eine verschriftlichte Variante seiner ursprünglich im Bibel-Kurs „Campus biblique“® mündlich vorgetragenen Auslegungen des hebräischen Textes.
Jüdisch-christlichen Dialog fördern
Ouizemann setzt sich mit seinen Auslegungen für den jüdisch-christlichen Dialog ein, ohne dabei die Unterschiede zwischen den zwei Religionen aus dem Auge zu verlieren. Er möchte vor allem Christen dabei helfen, die Hebräische Bibel besser zu verstehen, aber auch die hebräischen Wurzeln der Evangelien neu zu entdecken. Seine Kommentare richten sich besonders an interessierte Laien.
In der deutschen Übersetzung seiner Tora-Kommentare werden die biblischen Texte entsprechend der revidierten Elberfelder Bibel (ELB) zitiert. Die Kommentare sind von der rabbinischen, philologischen Auslegungsmethode geprägt. Dies bedeutet, dass auf die Bedeutung der Sprache und Grammatik bei der Interpretation des biblischen Textes großer Wert gelegt wird. In diversen Kommentaren bietet der Verfasser hilfreiche grammatikalische und lexikalische Erklärungen an.
Dazu kommen immer wieder Anmerkungen und Verweise auf andere biblische und außerbiblische jüdische Texte, wie Midraschim und Talmud-Traktate, die zum besprochenen Text in Bezug stehen. Regelmäßig werden Kernaussagen zusammenfassend hervorgehoben. Die Übersetzerin erklärt Ouizemanns Methode wie folgt: „Sie basiert einerseits auf einer akribischen grammatikalischen Analyse des hebräischen Bibeltextes und andererseits auf der vergleichenden Auslegungsmethode, die Bibelstellen verknüpft.“
Ohne Hebräischkenntnisse verständlich
Dabei wird auch der Zusammenhang der Paraschot in den Vordergrund geschoben. Vorkenntnisse im Hebräischen sind für die Leser von Vorteil, aber nicht zwingend erforderlich, da die sprachlichen Kommentare verständlich gehalten sind. Tatsächlich kann das Werk auch Hebräisch-Schüler beim Lernen unterstützen, da es die exegetische Anwendbarkeit der Grammatik verdeutlicht.
Cathy Faes beschreibt den thematischen Ansatz so: „Die gewählten Themen fokussieren sich auf die grundlegenden Lehren der Thora. Die Texterklärungen lassen neue Aspekte sehen; überraschende, teils neue Bedeutungen und Zusammenhänge ergeben sich. Jede Parascha lehrt uns ethische Lebenshaltungen. Uns Christen werden unsere jüdischen Wurzeln liebgemacht.“
In seinen Auslegungen sind dem Autor „die Werte der Toleranz, der Liebe und der Würde des Anderen“ besonders wichtig, wie auch „der Respekt vor der Tier- und Umwelt“. Im Verlaufe der Kommentare schälen sich in den Worten des Verfassers drei fundamentale Themen der Tora heraus: „Der ungebrochene Fortbestand. Die Berufung der Nachfolge. Die kosmische Wiederherstellung der Welt.“
Ouizemanns Auslegungen werden von Illustrationen, Karten und Diagrammen zu historischen Realia ergänzt. Der Anhang erklärt grammatikalische und hebräische Begriffe. Er weist auf berühmte antike, mittelalterliche und moderne jüdische Exegeten sowie auf französische Bibelübersetzer und Nachschlagewerke zur Tora hin. Das Buch eignet sich somit nicht nur zum kontinuierlichen Tora-Studium gemäß dem jüdischen Festkalender, sondern auch als Nachschlagewerk bei der Exegese bestimmter Passagen sowie bei systematischen theologischen Fragestellungen.
Aufteilung in fünf Abschnitte
Im ersten Teil zum Buch Bereschit (1. Mose) führen die zwölf Auslegungen den Leser von der Schöpfung und der Berufung Abrahams durch dessen Familiengeschichte bis zu den Kindern Jakobs.
Im zweiten Teil zum Buch Schemot („Namen“, 2. Mose) wird in zehn Kommentaren die Erwählung Moses erklärt, der Auszug der Israeliten aus Ägypten, die Gesetze für das Volk, der Unterschied zwischen Stiftshütte und Tempel, und das Verhältnis von Gesetz und Barmherzigkeit.
Der dritte Teil ist dem Buch Wa’Jikra („Und Er redete“, 3. Mose) gewidmet. Die Auslegungen zu den sieben Paraschot handeln vom Sinn des Opferdienstes, von göttlicher Strafe für Ungehorsam und Rebellion, von Heiligung und den Festen des HERRN.
Der vierte Teil, dem Buch Bemidbar („In der Wüste“, 4. Mose) gewidmet, erklärt neun Paraschot. Diese beschäftigen sich mit Moses Dienst und Charakter, mit den zwölf Kundschaftern, Bileams Flüchen und dem Gebot der Zurückhaltung gegenüber Gelübden.
Der fünfte Teil, elf Auslegungen zum Buch Dewarim (5. Mose), diskutiert Moses Vision von der Zukunft der Israeliten, Gottes Liebe zu seinem Volk, die göttlichen Prüfungen vor der Landnahme sowie die Rechte und Pflichten des Königs und der einfachen Menschen. Hinzu kommen der Schutz des Lebens und der Umwelt, die Erwählung Israels, der Begriff der „Teschuwa“ (Rückkehr zu Gott), Moses Größe und das Verhältnis der Nationen zu Israel.
Israel als „Mikro-Labor“
Zwei Auszüge sollen einen kleinen Einblick in die Kommentare geben. Die Auslegung zur ersten Parascha, Bereschit, heißt „Das Verb BaR’a – erschaffen: Die zwei Perspektiven der Schöpfung“. Darin wird neben der Erschaffung der Welt und der Rolle des Menschen auch das Verhältnis des Menschen zur Erde und die Bedeutung des Landes Israel erörtert. Ouizemann schreibt dazu:
„Das Land Israel ist sozusagen das Mikro-Labor, wie es eigentlich auf der Welt aussehen sollte. Israel musste ins Exil, so wie Adam auch verbannt wurde. Wenn Israel zurückkehrt, bringt das Land Früchte wie von selbst (siehe Jeremia). Vor der Rückkehr von Israel gab das Land den Nationen gar nichts. Die Nationen besaßen das Land durch Gewalt und die Erde antwortete nicht. Es fehlte die enge Verbindung zwischen dem Land und Israel. Die Früchte sind für Israel reserviert. […] Wenn der Mensch richtig handelt, antwortet die Erde.“
In seiner abschließenden Auslegung, „Inwiefern ist Mose der Fortführer der Patriarchen? Warum ist das Erbe der Patriarchen für Mose so wichtig?“ zum Abschnitt We Sot Ha’Bracha, geht es unter anderem um „Tikkun Olam“, die „kosmische Wiederherstellung“. Ouizemann kommentiert:
„Israel wird immer als Ganzes angesehen. Es geht nicht um die Israeliten im Einzelnen. Es gibt eine kollektive Verantwortung. Jeder Einzelne hat seine eigene Berufung, aber es gibt auch die generelle, kollektive Berufung des Volkes Israel. Wir ergänzen uns gegenseitig. Als ganzes Volk gesehen, wird Israel die Wiederherstellung der Welt ermöglichen.“
Ermutigung zum Bibelstudium
Zum Abschluss weist der Autor darauf hin, welche Bedeutung das Lesen der Heiligen Schrift und der Erwerb von Hebräisch-Kenntnissen hat:
„Es gibt in der ganzen Geschichte von Israel keinerlei Bruch oder Unterbrechung von Abraham über David bis heute. Die Überlieferung der Tradition wurde nie abgeschnitten. Wenn man die Bibel rasch liest, ist man sich darüber nicht im Klaren. Deshalb ist es wichtig, Hebräisch möglichst gut zu lernen, um die Schlüsselwörter im Bibeltext ausfindig zu machen. Weiter müssen Zuordnungen von Bibelstellen hergestellt werden, was eine sehr gute Kenntnis der Bibeltexte voraussetzt.“
Zusätzlich erhält der Leser den Rat zur gründlichen Lektüre:
„Es ist unabdingbar, dass man den Bibeltext langsam, sorgfältig liest, mit dem Bleistift in der Hand, um Notizen zu machen. Man sollte die Bibel nicht zu schnell lesen. Diese Art und Weise erlaubt es uns, alle diese Zusammenhänge zu entdecken. Denn kein einziges Wort ist an einer unbedeutenden Stelle gesetzt. Es gibt keine Zufälle in der Bibel, jedes Wort ist an seiner genauen Stelle. Es ist an uns, die Verbindungen herzustellen und ihren inneren Sinn zu verstehen.“
Ouizemanns hervorragend übersetzte und gut zu lesende Wochenlesungen der Thora sind eine exzellente Möglichkeit für Christen, die jüdische Bibeltradition und Hermeneutik besser kennenzulernen. Ebenso mögen sich jüdische Leser durch die Lektüre in ihrem Verständnis der Tora und deren ethischem Reichtum inspiriert fühlen.
Haïm Ouizemann: „Die Wochenlesungen der Thora: Auslegungen der fünf Bücher Mose“, Aus dem Französischen übersetzt von Cathy Faes, Tredition GmbH, 374 Seiten, 58 Euro, ISBN: 978-3-384-26986-7
Von: Nicolas Dreyer
2 Antworten
Habe ich mir gerade eben bestellt.
Bin des Hebräischen leider nicht (noch nicht)
mächtig, daher laut Beschreibung ideal zum Lernen………..SHALOM
Toda raba. Die dieswöchige Sidra zu Shabbat beinhaltet die Liebe Abrahams zu G’TT und das Leben Saras. Shalom