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Einschränkung von Entscheidungskontrolle in erster Lesung genehmigt

Die Knesset genehmigt in erster Lesung ein Gesetz, das die richterliche Überprüfung von Regierungsentscheidungen einschränkt. Schon im Vorfeld kommt es zu zahlreichen Protesten. Auch nach der Abstimmung halten sie an.
Von Israelnetz
Gazastraße Protest

JERUSALEM (inn) – Knessetabgeordnete haben in der Nacht zum Dienstag in erster Lesung den Gesetzesentwurf zur Frage der richterlichen Bewertung von „Angemessenheit“ genehmigt. Nach stundenlanger Sitzung stimmten 64 von 120 Abgeordneten für den Entwurf, 56 dagegen. Seit Monaten sorgt die geplante Justizreform für Proteste und Spannungen im Land. 

Der Entwurf sieht vor, dass es dem Obersten Gerichtshof künftig nicht mehr möglich sein soll, eine Entscheidung der Regierung als „unangemessen“ zu bewerten. Kritiker befürchten, dass dies Korruption sowie die willkürliche Besetzung hochrangiger Posten begünstigen könnte.

Das Gesetz würde nicht grundsätzlich die Überprüfung von Entscheidungen von Regierung oder Parlament aufheben. Im geplanten Gesetzesentwurf heißt es: „Der Oberste Gerichtshof ist befugt, die Entscheidungen staatlicher Behörden gemäß Artikel 15 des Grundgesetzes zum Gerichtswesen gerichtlich zu überprüfen.“ Dieser Artikel regelt unter anderem die Rolle des Obersten Gerichtshofes. Weiter heißt es: „Kraft dieser Befugnis übt das Gericht eine Verwaltungskontrolle über die Handlungen der Exekutive aus.“

Strittiges Prinzip

Das „Prinzip der Angemessenheit“ erlaube es aber derzeit dem Gericht, eine Entscheidung, die „durch Unvernunft gekennzeichnet“ ist, zu verwerfen. Kriterium sei dabei, dass die Entscheidung „die verschiedenen Interessen, die die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung berücksichtigen sollte, nicht angemessen gewichtet“. Der Gesetzestext argumentiert weiter, dass die „Anwendung des ‚Prinzips der Angemessenheit‘ auf Entscheidungen der gewählten Ebene … den gewählten Politikern und nicht dem Gericht überlassen werden sollte“.

Zu Beginn des Jahres hatte der Oberste Gerichtshof die Ernennung von Arje Deri (Schass) zum Innenminister wegen dessen krimineller Vergangenheit als „unangemessen“ eingestuft. Daraufhin war Regierungschef Benjamin Netanjahu (Likud) gezwungen, seinen Koalitionspartner zu entlassen. Analysten vermuten, dass die Regierung diesen Schritt rückgängig machen will. 

Spannung zwischen Regierung und Oberstem Gericht

Der Staat Israel hat keine Verfassung, aber eine Sammlung von Grundgesetzen. Das Oberste Gericht hat sich in der Vergangenheit die Rolle zugeschrieben, Gesetze anhand dieser Grundgesetze zu bewerten. Die Regierung erhebt jedoch den Vorwurf, das Gericht habe damit zu viel Macht und mische sich zu stark in die politischen Entscheidungen ein.

Deshalb gehört zu den Reformplänen auch das Ansinnen, gewählten Politikern bei der Ernennung der Richter mehr Einfluss zu geben. Israelischen Medienberichten zufolge soll dieses Kernvorhaben in der nächsten Sitzungsperiode im Herbst weiter vorangebracht werden. Ende März hatte Netanjahu angesichts heftiger Proteste eine Reformpause verkündet.

Für den Dienstag haben Gegner der Reform bereits Tage zuvor als Reaktion auf den aktuellen Gesetzesentwurf zu einem „Tag der Störung“ aufgerufen. Landesweit blockierten Hunderte Israelis Straßen und protestierten vor Häusern von Politikern. Autofahrer wurden aufgefordert, besonders langsam zu fahren, „um ein Zeichen zu setzen“, berichtet die Onlinezeitung „Times of Israel“.

Auch eine der Zugangsstraßen zu Jerusalem wurde durch Demonstranten blockiert. Die Polizei löste die Menge mit Wasserwerfern auf. Ein Video von einer Straße in der Küstenstadt Herzlia zeigt, wie Demonstranten Reifen verbrennen und den Protestslogan „Die Regierung besteht aus lauter Verbrechern“ singen. Bis zum frühen Nachmittag wurden fast 70 Menschen inhaftiert.

Szene aus dem Protest-Alltag

Am Dienstagmittag marschieren Dutzende Protestler durch die Straßen des Jerusalemer Stadtteils Rechavia. Sie sind mit Fahnen und Tröten ausgestattet. Ihr Ziel ist die Gaza-Straße. An deren Ende befindet sich die Residenz von Premierminister Netanjahu. Auf der anderen Seite liegt eine seiner Privatwohnungen. Diese wird seit Monaten noch stärker durch Sicherheitskräfte bewacht als ohnehin schon. 

Angesichts der Demonstration stehen Polizei und Barrikaden bereit, innerhalb von wenigen Minuten ist die Straße gesperrt. Autos irren umher und wurden auf andere Wege umgeleitet. Ein Fahrer ruft den Demonstranten wütend zu: „Könnt ihr nicht endlich damit aufhören? Es reicht uns!“

In diesen Tagen herrscht eine Hitzewelle im Land. Bei 30 Grad Celsius wendet sich ein Anwohner verzweifelt an eine Frau, die eine Plastiktröte in der Hand trägt: „Ich habe Verständnis für euren Protest. Aber bitte: Krach machen könnt ihr auf den Demos, nicht hier, wo ihr lärmend durch die Straßen lauft. Mein Baby schläft. Wozu das Ganze?“ Die Frau faucht ihn wütend an: „Wozu? Wir wollen stören. So wie die da oben unser Leben stören.“ 

Im Gehen ruft sie zurück: „Du solltest uns dankbar sein, dass wir für dich und dein Baby auf die Straße gehen.“ Der junge Vater scheint wenig überzeugt und geht in sein Haus zurück. Indes laufen weitere Demonstranten mit Fahnen „in Richtung Gaza“ – wie die Israelis zur Gaza-Straße sagen. „Heute Nachmittag geht es am Flughafen weiter. Und heute Abend um z Uhr von der Tschernichowski- zur Herzog-Straße.“ Ein weiterer Passant rollt mit den Augen. (mh)

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8 Responses

  1. Es regt mich dermaßen auf! Unsere Sicherheitskräfte müssen gegen unsere Bevölkerung vorgehen, die
    nicht damit einverstanden sind, dass die Justiz in Israel beschnitten wird.
    Es regt mich auf, dass der Premier, der einst Gutes tat für sein Volk, in seinem Machtgehabe mit Religiösen
    und anderen Parteien das Land spaltet. Wohin führt das? Ich sehe nichts Gutes. Er spielt mit diesen
    berechtigten Demos den Feinden in die Hände. Sie werden diese Unruhen weiterhin zu Nutzen wissen, ganz abgesehen von dem “ Anblick in der Welt.“ Hoffentlich fällt diese Koalition bald.
    Warum spricht der Präsident nicht jeden Tag ein Machtwort? Das Hohe Gericht ist nicht antastbar.
    Der Premier sagte, er sei demokratisch gewählt. Dann soll er sich wie ein Demokrat verhalten.

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  2. Likud sowie seine rechtsradikalen und rechtsextremistischen Koalitionspartner setzen also den Abbau des Rechtsstaates weiter fort. Israel gehört damit nicht mehr zu den „liberalen Demokratien“, sobald dieses Gesetz rechtlich gültig wird..
    Israel befindet sich dann auf einer Stufe mit Ungarn, Polen und den Bestrebungen von Trump/Republikanischer Partei für die zukünftige USA (was der Wähler Ende 2020 noch verhinderte).

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  3. Hm, die Linke in Israel ist in der Knesset bedeutungslos geworden. Sie kann nur noch über die Justiz eingreifen. Dies mag von Fall zu Fall richtig sein, ist aber oft zu schwammig formuliert und greift zu stark in den politischen Prozess einer gewählten Regierung ein. Das sollte korrigiert werden.

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  4. Shalom. Schade, dass Sie eine irreführende Überschrift für den Bericht gewählt haben. Es geht nicht um die Einschränkung der Entscheidungskontrolle! Es geht um die Einschränkung einer vom Obersten Gericht sich selbst erfundenes und zugelegtes Prinzip einer angeblichen „Angemessenheit“, die in keinem Gesetz Israels oder eines anderen Staates der Freien Welt festgelegt ist!!!! Traurig: Dass Sie unter dem Titel „Strittiges Prinzip“ nicht mindestens der deutschsprachigen Leserschaft fair erklären, dass kein israelisches Gesetz es je dem Obersten Gericht oder einem anderen Gericht erlaubte, sich selbst eigene von den Richtern erfundene pseudo-juristische Kriterien zur gerichtlichen Prüfung der Gesetzmässigkeit von Regierungshandlungen oder Entscheidungen oder Personalbesetzungen zurecht zu legen!
    Traurig, dass eine wichtige Infromationsquelle wie ISRAELNETZ sich verleiten lässt, einseitig über derartig kritische juristische Themen unausgewogen zu berichten. Das ist unter Ihrem früher üblichen Niveau. Es verwundert mich, dass Sie es machen, nachdem man in den letzten Monaten öffentlich im Prozeß gegen MP Netanyahu wiederholt erfahren konnte, dass die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen keinen Halt haben, bzw. völlig falsch waren. Vor diesem Hintergrund wäre ratsam, besonders Berichte über juristische Angelegenheiten Israels fairer und sachlich korrekter zu berichten. Mit bestem Dank und Shalom, Ari Lipinski.

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    1. Herr Lipinski sollte aus seiner Parallelwelt herabsteigen in die reale Welt: Denn da ist Netanjahu ein bestimmter krimineller Taten (Korruption, Selbstbereicherung etc.) aufgrund von „hard evidence“ verdächtiger Politiker, dessen Schuld nicht nur nach Meinung der israelischen Staatsanwaltschaft feststeht.
      Herr Netanjahu macht die sog. „Justizreform“ ja eben auch, um selbst in Zukunft nicht mehr angeklagt zu werden. Wer sich informieren möchte, mit welchen grotesken Argumentation die sog. „Justizreform“ vorgeht – der findet genug Material im vorstehenden Beitrag von Herrn Lipinski!
      Und was die von Herrn Lipinski beklagte „eigene von den Richtern erfundene pseudo-juristische Kriterien“ angeht: Dahinter verbirgt sich die WELTWEIT zu beobachtende Ausweitung verfassungsrechtlicher Zuständigkeiten zugunsten von Individualrechten, also der Freiheitsrechte der Staatsbürger. Sogar ein Land wie Frankreich, das dem Staat immer viele Rechte zuwies, der Judikative aber eher beschränkte Rechte, konnte sich dieser Ausweitung von individuellen Verfassungsrechten nicht entziehen. Der „Conseil constitutionel“ konnte von dieser Entwicklung profitieren, wie auch die Freiheitsrechte der französischen Bürger!

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  5. In juristischen Fragen kenne ich mich zu wenig aus, um zu der Angemessenheitsklausel etwas zu schreiben.
    Aber ich habe den Eindruck, dass die Anführer des Wiederstandes, über den Prodest gegen die Justitsreform hinaus, auch die Regierung stürzen wollen.

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  6. Ein oberstes Gericht sollte eigentlich Gesetze kippen, die klar verfassungswidrig sind. Sie sollten wie vor ein paar Tagen in D geschehen, einschreiten, wenn Abgeordnete nicht genügend Zeit haben sich mit Gesetzen, die zur Abstimmung stehen, zu beschäftigen.

    Aber was heißt angemessen? Einen Politiker zu verhindern? Hätte dann in D ein Politiker Minister werden dürfen, der die RAF verteidigte?

    Was ist dann die nächste Unangemessenheit? Dass sich der israelische Staat weigern muss, gegen Terroristen vorzugehen? Weil vielleicht Richter drunter sind, die der Meinung sind, dass man Terroristen als Freiheitskämpfer ansehen muss?

    Sind dann Milchpreise zu unangemessen? Oder im Wohnungsmarkt wird keine Rücksicht mehr auf Einkommensschwache genommen? Mit Unangemessenheit kann man unglaublich viel begründen. Aber vielleicht sollte man den Begriff erst mal für ein Gericht definieren. Und dann sollte sich ein Gericht überlegen, welche Aufgaben sie eigentlich haben. Und dies muss auch in Israel vorhanden sein.
    Zurück zum Minister: in D schlägt der Kanzler seine Minister vor, sie werden vom Staatspräsident ernannt. Meines Wissens nach hat noch kein Gericht in D gesagt, aber der passt uns nicht. Noch nicht mal bei einem Innenminister, der Mitglieder der staatsgefährdeten RAF verteidigt hatte.

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    1. Bei Christin kommt wieder die evangelikal-reaktionäre Gesinnung durch, die allem Rechten erst einmal den Anschein der Rechtsmäßigkeit verleiht. Zwischenzeitlich hatte sie sich da ja rausgehalten, als der Chor der Netanjahu-Kritiker auch israelische Reihen erreichte.
      Es geht letztlich bei der „Justizreform“ um nichts anderes als die Abschaffung des juristischen Kontrollrechts des Obersten Gericht, und um die Gewährung der Selbst-Exculpierung von kriminellen Aktionen (Korruption, Selbstbereicherung, etc.) von nach Meinung der israelischen Staatsanwaltschaft überführter Politiker wie Netanjahu. Die unheilige Dreier-Allianz von Netanjahu, Rechtsradikalen und Rechtsextremisten (darunter sogar verurteilte „Überzeugungstäter“!) ohne ein die Gesetze achtendes Oberstes Gericht auf die Wähler und den Staat Israel loslassen – was wird denn dann noch kommen?
      Wer einen der Hauptpfeiler des Rechtsstaates und der liberalen Demokratie abschaffen will, der/die sollte sich dann schon fragen lassen, ob seine/ihre Werte noch zur bundesdeutschen Demokratie passen.
      Sogar in den USA passten diese „Werte“ auch nur zu Trump, aber nicht zur Wähler-/Stimmenmehrheit 2020 (sowie auch 2016!).
      Und was die Polemik gegen den ehem. Bundesinnenminister angeht: Seine Rolle war etwas zwielichtig, ging evtl. über seine Pflichten als Verteidiger hinaus. Im Unterschied zu Netanjahu gab es gegen ihn aber nie einen „hard evidence“ – in Deutschland wäre er dann nämlich verurteilt worden. Und nach seinem Wechsel von den Grünen zur SPD bzw. als Bundesinnenminister nahm er seine Rolle vorbildlich wahr!

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