Wann immer mein Opa für den Tscholent – den Schabbat-Eintopf der aschkenasischen Juden – Kartoffeln schälte, prahlte er: „Ich war der schnellste Kartoffelschäler im ganzen Lager!“ Für ihn war die Scho’ah kein Ereignis, das der Vergangenheit angehörte, sondern Teil des Alltags, auch 50 und 60 Jahre später noch. Stattdessen war sie immer präsent, sogar in so alltäglichen Kleinigkeiten wie dem Kartoffelschälen. Die Scho’ah war nicht einzelnen Tagen im Jahr zur Erinnerung und deren Zeremonien vorbehalten, sondern gehörte zum Alltag meiner Großeltern.
Ich erinnere mich, wie wir am Schabbatmittag zu Omas Hühnersuppe und Opas Tscholent in ihrem Haus in Bat Jam zusammensaßen. Zwischen den Sätzen „Reichst du mir mal bitte die Schkedei Marak?“ – die crouton-ähnlichen „Suppenmandeln“, die in keinem israelischen Haushalt fehlen – und „wer möchte noch Hühnersuppe?“ erzählte Opa von diesem aus jener Straße oder von jenem aus diesem Ort. Seine Frage, ob wir uns an diese Menschen erinnerten, begann oder endete immer mit dem Satz „er war auch mit mir im Lager“. Bei diesen Geschichten gab es keine Pointe, es war einfach nur eine Tatsache, ein biografisches Detail.
Der Krieg war irgendwie immer da
Dass wir offenbar nie zu jung waren, um von der Scho’ah zu hören, kam mir nie seltsam oder unangemessen vor. Überhaupt sprachen meine Großeltern meist nicht von der „Scho’ah“, sondern von „DEM Krieg“. Obwohl sie hier die Operation Kadesch (Suezkrise 1956), den Sechs-Tage-Krieg, den Jom-Kippur-Krieg und den Ersten Libanonkrieg durchgemacht hatten – für meine Großeltern gab es immer nur einen Krieg. Eben DEN Krieg. Irgendwie war er immer da, ob es in Opas Alltagsgeschichten war oder in Omas Gutenachtgeschichten – etwa wenn sie von einem Mädchen erzählte, das allein durch einen Wald lief und von Hunden verfolgt wurde.
Erst als ich größer wurde, begann ich zu verstehen, dass sie mir in Wirklichkeit ihre Geschichte erzählte, oder zumindest ihre Erinnerungssplitter, die ihr von ihrer Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr geblieben waren – dieselbe Kindheit, die ausgelöscht wurde, als die Nazis kamen. Und mit ihr ihre ganze Familie. Und auch ihre Erinnerungen.
Oft hab ich mich gefragt, was wohl besser ist: Sich an alles erinnern zu können, so wie mein Opa, der sich an jeden einzelnen seiner Brüder, Schwestern und Neffen erinnerte, die umgebracht wurden – es waren Dutzende! – oder sich an nichts zu erinnern wie meine Großmutter. Was ist schlimmer? Mit der Last des Vergessens zu leben, mit der Distanziertheit und dem Fehlen der Wurzeln, so wie meine Oma? Oder mit der Schwere des Schmerzes von Opas Erinnerung, die ihn bis zum letzten Tag in Albträumen heimsuchten?
Trotz alledem war ihr Haus kein trauriges Haus. Es gab dort Lebensfreude, Spaß und Gelächter. Oma kitzelte uns, bis wir vor Lachen nicht mehr atmen konnten. Sie nahm uns mit zum Meer, ins Schwimmbad und ins Einkaufszentrum – alles an einem Tag. Ferien bei ihnen waren immer vollgepackt mit Spaß und Attraktionen. Vielleicht begriff sie diese Zeiten als eine Art Entschädigung für ihre eigene zu früh beendete Kindheit. Oma war immer ein Stück weit ein kleines Kind geblieben. Geduldig und begeistert spielte sie mit uns und mit unerschöpflicher Energie, eben wie ein kleines Mädchen. Sie schummelte beim Kartenspielen, versteckte Joker in ihrem Ärmel und ließ uns nie gewinnen.
„Das Leben war sein Sieg“
Einmal fragte ich Opa, warum sie nach Deutschland fahren würden, nachdem doch die Nazis ihre ganze Familie umgebracht hätten. Er erzählte mir von einem Ballsaal, in dem Hitler mal getanzt hatte, doch nun tanzte er dort, zusammen mit Oma. Das sei sein Sieg über die Nazis: zusammen mit meiner Oma in dem Saal tanzen zu können, wo 60 Jahre vorher der Mann tanzte, der sie habe vernichten wollen. Hitler sei nun tot. Doch meine Großeltern lebten!
Das Leben war sein Sieg! Weiterzuleben, eine Familie zu gründen, als freier Mann Kinder und Enkel großzuziehen – das alles im Staat Israel. Er sagte mir, wenn man ihm im Lager erzählt hätte, dass seine Enkel mal im israelischen Militär kämpfen würden, dann hätte er gedacht, man wolle ihn demütigen, im Leben hätte er das nicht geglaubt. Wir waren sein Sieg über die Deutschen und seine Rache an den Nazis!
Neues Leben aus der Asche
Wie viel Kraft sie wohl brauchten, um aus der Asche herauszukommen und weiterzuleben! Wie viel Kraft, um nach Israel auszuwandern, ganz von vorn anzufangen, aus dem Nichts, sogar aus dem Weniger als Nichts, eine eigene Familie zu gründen! Ohne Wurzeln, ohne Rückhalt, ohne Familie, ohne Sprache. Wie viel Kraft sie benötigten, um morgens aufzustehen und überhaupt zu funktionieren. Wie konnten sie das alles durchstehen, ohne verrückt zu werden?! Ich hätte das nicht überlebt, ich hätte keine viertel Stunde im Lager überlebt. Und hätte ich doch irgendwie überlebt, wäre ich vollständig durchgedreht! Wie viel Kraft sie gehabt haben!
Vor zwei Wochen in der Seder-Nacht habe ich mich sehr ernsthaft mit der vierjährigen Tochter meines Cousins unterhalten. Sie ist die erste Urenkelin meiner Großeltern. Leider haben sie sich nicht mehr kennengelernt. Ich dachte daran, dass sie und Oma Hadassah wirklich gute Freunde geworden wären. Und dann kam mir dieser Gedanke, der von einer kleinen Prise Wehmut und von einer größeren Prise Sehnsucht begleitet war: Schau mal Opa – so viele Jahre nach eurem Tod siegt ihr immer noch über die Nazis!
Der Großvater Schmuel Goldfreund wurde 1922 in einem kleinen Städtchen nahe dem polnischen Krakau geboren. Er war in sieben Konzentrationslagern inhaftiert, unter anderem in Plaszow. 1945 wurde er aus Theresienstadt befreit.
Die Großmutter Hadassa Rotenberg wurde 1936 im polnischen Proszowice geboren. Eine polnische Familie adoptierte sie und erzählte ihr, dass sie eine Verwandte sei. Von ihrer jüdischen Identität wusste sie nichts, bis 1948 ein Nachbar ihrer Familie sie zufällig erkannte und der jüdische Staat sie nach Israel brachte.
In Israel lernte sie Schmuel kennen, die beiden heirateten 1954. Sie bekamen zwei Söhne und sieben Enkel. Seit ihrem Tod – Hadassa verstarb 2005, Schmuel 2009 – sind sechs Urenkel geboren, zwei weitere sind auf dem Weg.
Die Enkelin Neta Amit ist Mitte 30 und arbeitet als Psychologin in Tel Aviv. Mit der Hochzeit ihrer Eltern änderten diese den jiddischen Familiennamen Goldfreund in die hebräische Bezeichnung Amit – bester Freund.
Aufgezeichnet von mh
Eine Antwort
Das Leben war sein Sieg.
Berührend, wie der ganze Artikel.🕎