Eine Frau teilt ihren Schmerz

Während das Schicksal der Geiseln im Mittelpunkt steht, ist der Schmerz über die Todesopfer des 7. Oktober groß. Die Rechtsanwältin Ifat Zinner fährt zum Schutzraum, in dem ihre Nichte ermordet wurde.
Von Merle Hofer
Ifat Zinner Autofriedhof

Es ist ein sonniger Tag im Süden Israels. Der Kibbuz Jad Mordechai liegt nur wenige Kilometer von der Nordgrenze des Gazastreifens entfernt. Dort wohnt Ifat Zinner. Seit einigen Jahren arbeitet die Rechtsanwältin auch als Reiseführerin für Israelis. Im vergangenen Jahr zeigt sie vor allem Orte der Tragödie des Terrormassakers am 7. Oktober 2023, bei dem auch ihre Nichte Hadar Choschen ermordet wurde. Auf ihrer Website steht: „Für die Sicherheit unseres Landes, die moralische Stärke seiner Bewohner und Soldaten sowie das Gedenken an die am 7. Oktober Ermordeten, einschließlich Hadar Choschen“.

Eine Wand aus Autos

Von der Hauptstraße biegt Zinner zunächst in Richtung Tkuma ab. Dort führt sie drei Besucherinnen über den Autofriedhof, oder, wie er auf Hebräisch genannt wird, die Autowand. „In den Kibbuzim standen an jenem Schabbatmorgen auf manchen Gemeinschaftsparkplätzen 15 bis 20 Autos. Die Terroristen haben sie angezündet. Sie zwangen Bewohner, sie in ihren eigenen Fahrzeugen herumzufahren, manche gar bis nach Gaza. Darunter waren auch kleine Elektromobile, die ältere Bewohner zur Fortbewegung innerhalb der Kibbuzim nutzen.“

Die Armee evakuierte später die Leichen aus den Autos und brachte die ausgebrannten und zerschossenen Autos auf einen großen freien Platz. Schon wenige Wochen später wurde der Ort zum zentralen Zeugen des Grauens. Bis heute kommen Israelis und Solidaritätsbesucher aus dem Ausland. Der Treffpunkt gleicht einem Museum, es gibt einen Sonnenschutz. Schilder erzählen, was den Autos und ihren Besitzern widerfuhr. „Jedes Auto hat seine eigene Geschichte“, sagt Zinner.

Auf ein Auto ist das Gesicht des 31-jährigen Ben Schimoni gedruckt. Neben ihm sind Flügel angebracht. Zinner berichtet: „Ben war auf dem Nova-Festival. Nachdem er sich und seine Freunde mit dem Auto in Sicherheit gebracht hatte, fuhr er zurück, um weitere zu retten. Neun Menschen verdanken ihm sein Leben. Als er noch einmal zurückfuhr, wurden er und zwei seiner Mitfahrer erschossen. Die vierte Insassin, Romy Gonen, wurde nach Gaza verschleppt.“ Erst Ende Januar, nach 471 Tagen, ließ die Hamas die 24-Jährige im Rahmen des Geiseldeals frei.

Die Todes-Schutzräume

Von der Autowand fährt Zinner wieder auf die Straße 232, die seit dem 7. Oktober „Straße des Todes“ genannt wird. Dort stehen „Miguniot“, aus Beton errichtete Schutzräume, die gegen Raketenangriffe schützen sollen. „Sie sind nicht abzuschließen und gegen das Eindringen von Terroristen helfen sie auch nicht“, erklärt Zinner. Auch diese haben inzwischen unter dem Namen „Todes-Schutzräume“ einen eigenen Eintrag auf Wikipedia.

„Es gibt viele Helden-Geschichten von diesem Tag“, erzählt Zinner und zeigt auf den Schutzraum von Re’im: „In diesem zum Beispiel kam Aner Schapira um, während er mehrere Granaten mit der Hand abfing und aus dem Raum warf. Sein Freund Hersh Goldberg-Polin wurde in den Gazastreifen entführt.“ Kurz bevor die Armee ihn im Sommer 2024 befreien konnte, richtete die Hamas ihn und fünf weitere Geiseln mit einem Genickschuss hin.

Gegenüber von diesem Schutzraum hält Zinner an einem Migunit, am Rand der Straße, die Richtung Norden führt: „Hier wurde meine Nichte Hadar Choschen ermordet. Sie floh gemeinsam mit vier Freundinnen von der Party. Drei weitere fuhren in einem Auto. Hadar sagte allen: ‚Geht in den Migunit. Dort sind wir sicher.‘ Die anderen drei hörten nicht auf sie und fuhren mit dem Auto weiter. Sie konnten sich retten.“

Aus dem Migunit kommen drei Menschen. Keiner von ihnen spricht. Von außen ist der Betonklotz komplett mit Stickern beklebt. Auf ihnen sind die Gesichter der Opfer und Aussprüche, die an sie erinnern: „Lebe heute, als gäbe es kein Morgen“, steht auf einem, „Israel vertraut auf Gott“ auf einem anderen.

Bilder mit lächelnden Menschen

Nach dem 7. Oktober war der Migunit von innen komplett schwarz, es war alles verbrannt. Inzwischen ist er gestrichen, doch die Einschusslöcher der Terroristen sind noch deutlich zu erkennen. Die Innenwände sind mit Stickern und Inschriften bestückt. Zinner erzählt: „Sie kamen und haben Granaten geworfen. Sie haben mit Gewehren in den Migunit gefeuert.“ Ifat deutet auf ein Poster. Eine junge Frau lächelt den Besuchern zu. Durch ihr Lächeln und die langen Haare über der roten Bluse wirkt sie beängstigend lebendig. „Das ist Hadar“, sagt Zinner emotionslos. „In diesem Migunit waren 41 Menschen. Nur zwölf haben überlebt.“

Hadars Tante zeigt ein Video, das die letzten Momente der im Betonklotz Zusammengepferchten zeigt: „Wir sind im Migunit“, rufen sie ihren Freunden zu. „Auf der rechten Seite. Ihr dürft nur nach rechts abbiegen, von links lauert Gefahr.“ Das Video zeigt, wie die jungen Leute dicht gedrängt an den Wänden stehen. Schüsse sind zu hören und die Schreie der Terroristen.

Ein Vater, der seine beiden Töchter Roja und Nurel an diesem Ort verloren hat, wird später erzählen: „Die Terroristen mussten nicht mal zielen, um zu treffen. Sie waren ja alle dicht zusammengedrängt. Männer legten sich auf Frauen, um diese zu schützen, doch es half alles nichts.“

Gegen Viertel vor 7 hatten sich die jungen Menschen im Schutzraum versammelt, teilweise standen sie noch telefonisch in Kontakt zu ihren Eltern. Eine Stunde später war jeglicher Kontakt aus dem Bunker abgebrochen, die Überlebenden stellten sich tot. Hadars Eltern hielten den Schabbat und erfuhren erst am Abend von der Tragödie.

Zinner erzählt, dass in diesem Migunit auch zwei Schwesternpaare ums Leben kamen: „Das Motiv der Geschwister müsste uns allen zu denken geben. Auch wenn wir unterschiedliche Eltern haben, sind wir doch alle Brüder und Schwestern. Diese Einheit müssen wir verstehen und verinnerlichen. Die andere Seite, das Böse, versteht das nicht. Sie wollen die Welt zerstören und nicht aufbauen. Früher war das Hitler, heute sind es der Iran und die Hamas – das alles sind aber nur Verkleidungen. Wir müssen uns entscheiden, auf welcher Seite wir stehen.“

Als Zinner den Bunker verlassen möchte, kommt eine junge Frau in Uniform hinein, von ihrem Vater begleitet. Zinner sagt ihr: „Du tust das Richtige. Du bist die richtige Person zur richtigen Zeit. Wir stehen hinter euch.“ Die Soldatin lächelt, bedankt sich schüchtern und sieht sich dann die an die Wand geschriebenen Botschaften in dem kleinen Raum an.

Fahne auf dem Nova-Gelände

Zinner fährt mit ihren Gästen weiter zum Gelände des Nova-­Festivals. Hunderte Autos säumen die Straßen. Viele kommen, weil sie hoffen, zu verstehen, was am 7. Oktober an diesem Ort passiert ist. Große Schilder und Poster zeigen Bilder der Toten. Lächelnd schauen die jungen Menschen auf die Besucher herunter.

Auf einem freien Feld sind junge Bäume gepflanzt. An ihrem dünnen Stamm stecken kleine Tafeln mit den Namen der 364 Opfer. An einem Eukalyptusbäumchen direkt am Straßenrand hält Zinner und zieht eine kleine Israelfahne hervor: „Das ist der Baum für meine Nichte Hadar.“ Lakonisch sagt sie: „Die Fahne muss ausgetauscht werden“, und drückt sie einer ihrer Begleiterinnen in die Hand.

Ihre Nichte ist tot, doch Zinner wünscht sich, dass Hadars Geist der Freude und Fröhlichkeit erhalten bleibt. Deshalb bauen sie in ihrem Andenken eine Veranstaltungshalle. „Jeder Mensch muss eine Entscheidung treffen, auf welcher Seite er steht.“ Was sie sich außerdem für die Zukunft wünscht? „Dass alle Geiseln freikommen.“ Vielleicht kann dann endlich ein Heilungsprozess in der israelischen Gesellschaft beginnen.

Israelnetz Magazin

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3 Antworten

  1. „Jeder Mensch muss eine Entscheidung treffen, auf welcher Seite er steht.“ Gilt das auch für die Palästinenser in Gaza? Ja, sie haben sich längst entschieden.

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  2. Wenn man diese und viele andere Berichte vom schwarzen Shabbat liest, fühlt man sich auch als nicht oder nur mittelbar Betroffener unwillkürlich an die Shoah erninnert , mit dem einen Unterschied ,daß die Mörder einen anderen religiösen Hintergrund hatten.
    Aber die Gesinnung ist dieselbe………SHALOM

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    1. @ Hallo Klaus
      Hitler war zwar Katholik, hatte aber mit christlichen Werten nichts am Hut. Die Nazis damals verhielten sich wie Chamäleone. Solche haben die Eigenschaft, immer die Farbe anzunehmen, die der Hintergrund hat. So haben es auch die Nationalsozialisten mit dem Religionsthema gehalten. Wenn es angesagt war, dann gab man sich kirchen- und christentumsfreundlich, wenn andere Kontexte waren, dann distanzierte man sich wieder mehr davon.
      Die Terroristen und die Nazis haben eines gemeinsam: Den Hass und die Vernichtung der Juden! Und dabei wechseln sie nicht die Farbe und auch nicht die Methode: Menschen zu verbrennen!

      1

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