Israel ist eine komplexe Angelegenheit, und damit auch seine Geschichte. Deshalb ist es äußerst schwer, diese zusammenzufassen. Das zeigt sich einmal mehr an dem neuen Büchlein „Geschichte Israels“ des Wiener Historikers Noam Zadoff. Dessen Absicht ist es, die „Dissonanzen, Unüberbrückbarkeiten und paradoxen Intentionen in den Vordergrund zu stellen und zu analysieren“.
Der Untertitel lautet „Von der Staatsgründung bis zur Gegenwart“. Doch natürlich berücksichtigt der Autor auch die Vorgeschichte, etwa die Entstehung des Zionismus oder die Zeit des britischen Mandates. Den Ursprung des israelisch-arabischen Konflikts in den Jahren vor der Staatsgründung beschreibt er als „eine Geschichte der absoluten Inkompatibilität zweier Kulturen“: „Die zionistische Ideologie, die das akute Problem des Antisemitismus zu lösen suchte, konnte die Bedürfnisse der Araber im Land weithin nicht in ihr nationales Projekt mit einbeziehen, und die Araber, die den Zionismus mit den kolonialen Mächten identifizierten, reagierten auf die Erfahrung von Land- und Machtverlust mit Gewalt.“ Dass die Lage viel komplexer war und auch orientalische Juden im Land lebten, übersieht der Autor hier.
Ähnlich ist es bei seinem Gebrauch der Begriffe „Tauben“ und „Falken“, die er – wie es auch sonst üblich ist – ausschließlich für israelische Politiker verwendet. Dass die meisten von ihnen nicht eindeutig in diese Kategorien einzuordnen sind, stellt Zadoff indirekt selbst fest: Er wundert sich, dass Menachem Begin als „Falke“ der erste israelische Regierungschef war, der Frieden mit einem arabischen Nachbarland schloss – nämlich 1979 mit Ägypten.
Ungenauigkeiten bei Daten
Komplex ist zudem der jüdische Kalender, der sich vom allgemein gebräuchlichen unterscheidet. Zadoff beginnt seine Ausführungen mit dem Satz: „Der 14. Mai 2018 war in Israel ein besonderer Tag.“ Damit verweist er auf den 70. Jahrestag der Staatsgründung. Doch die Israelis feierten ihn entsprechend dem jüdischen Datum bereits am 18. April. Der Autor verwendet diesen Einstieg, um verschiedene Ereignisse eines Tages darzulegen – und damit die Widersprüchlichkeit des Landes. Die Methode ist an sich originell, wirkt hier allerdings sehr künstlich.
In dem Buch finden sich weitere Ungenauigkeiten. So gibt Zadoff gleich zweimal den Beginn der „1. Intifada“ mit dem Jahr 1988 an, obwohl sie bereitsim Dezember 1987 anfing. Den Begriff „Palästinenser“ verwendet er ausschließlich für Araber etwa mit Bezug auf gewaltsame Auseinandersetzungen der Jahre 1921 oder 1936 – obwohl in jener Zeit auch die jüdischen Bewohner des Mandatsgebietes als palästinensisch galten.
Ablehnung des Teilungsplanes: Erst ignoriert, dann erwähnt
Über den Unabhängigkeitskrieg schreibt der Historiker: „Durch den Krieg von 1948 erhielten die beiden Narrative – das israelische und das palästinensische – ihre endgültige Fassung.“ Den positiven israelischen Bezeichnungen wie „Unabhängigkeitskrieg“ oder „Befreiungskrieg“ stellt er den palästinensischen Ausdruck „Nakba“ (Katastrophe) gegenüber: Dadurch sei nicht nur die Chance zerstört worden, einen palästinensischen Staat zu gründen, sondern „etwa 700.000 der 1.200.000 Araber, die 1947 im Land lebten“, hätten im Exil geendet. Dass die Araber zuvor die im UNO-Teilungsplan vorgesehene Gründung eines arabischen Staates in Palästina abgelehnt hatten, ignoriert Zadoff an dieser Stelle.
Ein paar Seiten später merkt er hingegen an, in den ersten vier Wochen des Krieges sei Israels Existenz am meisten gefährdet gewesen. „Die Menschen waren erschöpft und ausgezehrt, aber es gab auch ein Gefühl von Hoffnung.“ Der Historiker ergänzt: „Gleichzeitig war unübersehbar, dass die arabischen Staaten den Teilungsplan der UNO nicht respektierten, auch nicht in Bezug auf einen palästinensischen Staat, und vielmehr jeder so viel Land wie möglich für sich zu erbeuten suchte.“ Diese Deutung spricht für ihn.
Positiv ist zudem, dass Zadoff nicht nur den Holocaust thematisiert, sondern auch das Schicksal der zahlreichen jüdischen Flüchtlinge aus arabischen Ländern. So weist er etwa auf den Integrationsprozess der irakischen Juden hin, die allen Besitz in ihrer Heimat zurücklassen mussten. Der Prozess sei langwierig und schmerzhaft gewesen, aber letztlich gelungen. Der Autor erwähnt auch den Vorschlag des israelischen Historikers Benny Morris, „das Flüchtlingsproblem als Bevölkerungsaustausch zu betrachten“.
Dazu schreibt er weiter: „Während allerdings Israel seine Flüchtlinge in die eigene Gesellschaft aktiv aufnahm, hatten die arabischen Länder kein Interesse daran, die palästinensischen Flüchtlinge in ihre Gesellschaften zu integrieren. Denn für sie dienten die Flüchtlingslager in der internationalen Politik als Druckmittel gegen Israel.“
Wissenswertes zur Zeit nach dem Sechs-Tage-Krieg
Der Autor bringt auch wissenswerte Einzelheiten, die den meisten Lesern nicht bekannt sein dürften. So erwähnt er etwa, dass nach dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 Araber im Westjordanland erstmals seit Jahren ihre Herkunftsorte auf dem israelischen Staatsgebiet besuchen konnten. Das war während der jordanischen Besatzung nicht möglich. Auch greift er auf, dass Israel mit seiner „Politik der offenen Brücke“ den Warenverkehr zwischen dem Westjordanland und Jordanien weiter ermöglichte.
Zadoff fügt an: „Selbst die Schulbücher blieben jordanisch – in Gaza ägyptisch –, nachdem die antiisraelischen und antisemitischen Inhalte entfernt worden waren.“ Um was für Inhalte es sich handelte, führt er nicht aus. Unlogisch wirkt seine einleitende Bemerkung dieses Absatzes: „Für die palästinensische Bevölkerung bedeuteten die Ergebnisse des Krieges den Anfang eines Lebens unter der Besatzung, die bis heute ihren Alltag definiert.“ Das bezieht er auf die israelische Besatzung, lässt also die vorangegangene jordanische und ägyptische Besatzung außen vor.
Nicht immer differenziert
Einerseits verlässt der Autor den Boden der Wissenschaftlichkeit, wenn er etwa eine unkritische Haltung gegenüber der Bewegung „Breaking the Silence“ einnimmt. Hier hätte er entweder auch die Gegenargumente bringen oder auf eine Erwähnung verzichten müssen. Andererseits zeigt er genau diese wissenschaftliche Herangehensweise, als er auf den palästinensischen Jungen Mohammed al-Durah eingeht. Dabei schreibt er explizit, dass unklar ist, ob und wie der Zwölfjährige starb. Ähnlich differenziert ist er im Zusammenhang mit der Sperranlage, die palästinensische Selbstmordattentäter abhalten soll. Dass sie aus Zaun und Mauer besteht und sich als wirksam erwiesen hat, nennt Zadoff in seinen Ausführungen.
Das Buch ist in der Reihe „Wissen“ des Verlags C. H. Beck erschienen. Und es vermittelt in der Tat Wissen über die Geschichte des Staates Israel. Allerdings enthält es sowohl sachliche Fehler als auch einseitige Darstellungen. Dem stehen wiederum Ausführungen zu bestimmten Aspekten gegenüber, die trotz der gebotenen Kürze differenziert dargestellt sind. Leser sollten nicht ausschließlich dieses Buch als Informationsquelle verwenden. Dann ziehen sie bei einer kritischen und vergleichenden Lektüre durchaus Gewinn daraus.