Suche
Close this search box.

Meinung

Ein israelischer Schriftsteller verarbeitet den 7. Oktober

Der 7. Oktober kam plötzlich, auch für den israelischen Schriftsteller Dror Mishani. In einem Tagebuch gibt er intime Einblick in seine Gedanken dazu. Es ist eine linke Perspektive auf den Krieg. Eine Rezension
Von Sandro Serafin

Bald ist es ein Jahr her, dass die Hamas Israel überfiel, wahllos Menschen abschlachtete, verbrannte, entführte. Den Epochenbruch, den dieses Ereignis markierte, haben wir alle nur schrittweise verstanden, wenn überhaupt. Er drückt sich wohl auch darin aus, dass bereits rund um den ersten Jahrestag am 7. Oktober eine Masse an Büchern erscheint, die auf das Ereignis zurückblicken – obwohl dieses ja eigentlich immer noch anhält.

Ein Buch aus diesem Kontext ist „Fenster ohne Aussicht“ von Dror Mishani. Mishani ist ein israelischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. 1975 in Cholon bei Tel Aviv geboren, ist er vor allem für seine Kriminalliteratur bekannt. Doch er greift auch für politische Essays zur Feder, die in der linksliberalen israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“ zu lesen sind.

Das Fenster ohne Aussicht

Jetzt hat er in Buchform eine Selbstreflexion vorgelegt, die Einblicke in sein Innenleben seit dem 7. Oktober gibt. Der Titel „Fenster ohne Aussicht“ meint dabei zum einen offenbar ein ganz konkretes, reales Fenster in Mishanis Tel Aviver Büro: Von dort aus blickt er auf das Gebäude des früheren Kunstmuseums, in dem 1948 der Staat gegründet wurde.

Seit Jahren ist es nur noch eine Bauruine. Wie es mit dem Gebäude weitergehen soll, ist unklar. Was wiederum auf die zweite, metaphorische Bedeutung des Titels „Fenster ohne Aussicht“ verweist. Ein bisschen scheint das Gebäude die israelische Gesellschaft zu symbolisieren: in ihrem Kern getroffen und ohne Aussicht auf eine geklärte Zukunft.

Foto: Sandro Serafin
Das ehemalige Kunstmuseum, auf das der Blick aus dem Büro des Autors fällt (Archivbild)

Mishani und der Verlag nennen das Buch ein „Tagebuch“. Ein solches ist es aber nicht im eigentlichen Sinne: Es gibt nicht tagtägliche Eintragungen des Autors wieder, sondern stellt eher eine selbstreflektierende Zusammenfassung dar. Stilistisch ist das eine gute Lösung, die für einen angenehmen Lesefluss sorgt.

„Hier geht’s drunter und drüber, aber so richtig“

Auch inhaltlich zieht der Autor den Leser sofort in die Materie hinein. Mishani nimmt uns noch einmal mit in diese furchterregenden vergangenen Monate, erinnert uns dadurch auch an unsere eigenen Gefühle. Für ihn begann diese Epoche in Toulouse, wo er sich anlässlich eines Krimifestivals aufhielt. Seine Frau textete ihm aus Zentralisrael: „Hier geht’s drunter und drüber, aber so richtig.“

Mishani drängt bei den Festivalorganisatoren darauf, zurückfliegen zu können. Um sie zu überzeugen, erzählt er ihnen, dass es Dutzende Tote gegeben habe. Zu diesem Zeitpunkt glaubt er noch, die Lage damit aufzubauschen. Nur langsam versteht er, was eigentlich passiert, was es für die israelische Gesellschaft bedeutet.

Umso stärker ist letztlich das Gefühl einer Zäsur: „Was habe ich denn gewusst über das Böse und Gewalt?“, fragt der Kriminalautor, für den der Einblick in Gewalt doch eigentlich zum Selbstverständlichen zu gehören schien. Gefühle von Hilflosigkeit und Zukunftsangst stellen sich ein, der Eindruck, die Kontrolle über das eigene Leben an andere verloren zu haben.

Einblicke in familiäre Spannungen

Interessant wird es vor allem da, wo der Autor intimsten Einblick in das gibt, was dieser 7. Oktober und der nachfolgende Krieg in seiner Familie ausgelöst haben. In die Spannungen, die hier existieren. Der Sohn etwa flüchtet sich in seine eigene Realität aus Fußball und Videospielen. Ganz anders die Tochter, die viele der grausamsten Videos gesehen hat und sich als Vertreterin einer harten Kriegslinie entpuppt.

Mishani selbst stellt das Gegenbild dazu dar. Er bleibt von einer flammenden Selbstkritik getrieben. Schon zu Beginn des Krieges veröffentlicht er in „Ha’aretz“ einen Essay, der gegen eine intensive Militäroperation im Gazastreifen argumentiert. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Geschehnisse zweifelt er zwar noch an dieser Linie. Letztlich bleibt er aber seiner linken Prägung verhaftet.

Scharfe Selbstkritik

So schreibt er zum Beispiel mit Blick auf „wachsenden Nationalismus“, womöglich sei Israel „irgendwann nicht mehr der Ort, an dem ich leben kann oder will“. Er lässt Kritik an den israelischen Medien durchscheinen, an der angeblichen „Jagd“ auf intellektuelle Kriegsgegner. Mishani will den Hamas-Angriff auch in einem „Kontext“ sehen.

Er kritisiert deshalb die „langen Jahre drakonischer Kontrolle über das Leben der Palästinenser“. Er vergleicht Israel mit dem biblischen Simson: „Ist das nicht exakt, was wir gerade tun? Wir bringen Gaza über uns zum Einsturz, stürzen gemeinsam mit Gaza ein?“ Und er zeigt sogar scheinbar viel Mitgefühl für einen palästinensischen Jungen, der am 7. Oktober nach Israel eindrang und Schlagsahne plünderte.

Erahnen lässt sich, dass Mishanis Haltung mit seinen persönlichen Traumata verbunden ist. Mit einer prägenden Zeit im Armeedienst, vor dem er als Jugendlicher Angst hatte, der ihm aber trotzdem nicht erspart blieb. Was ihn offensichtlich auch in Gegensatz zu seiner Mutter setzt, die eine klassisch-robuste Form des Israeli-Seins zu verkörpern scheint.

Biblische Bezüge

Bemerkenswert ist die Rolle, die nicht nur Homers Ilias, sondern auch die Bibel für den säkularen Literaten Mishani spielt. Da ist nicht nur die Bezugnahme auf Simson. Mishani nimmt auch wiederholt auf das Buch des Propheten Hesekiel Bezug, in dessen Prophetien sich der Schrecken des 7. Oktober widerzuspiegeln scheint, dessen seinerzeitigen Anklagen an Israel dem Autor aber auch eine Folie der Selbstkritik bieten.

Unter dem Strich bietet „Fenster ohne Aussicht“ eine lesenswerte Nahaufnahme der Folgen des 7. Oktobers für eine ganz konkrete Person. Dem Autor hoch anrechnen muss man vor allem, dass er auch sehr intime Einblicke gewährt. Kurios ist, dass das Buch zunächst nicht auf Hebräisch erscheinen wird und damit vor allem auf den ausländischen Markt zielt.

Das hat mit der Minderheitenperspektive zu tun, die Mishani vertritt. Und genau das sollte sich der Leser auch klarmachen: Mishanis Tagebuch gibt Einblicke in das Selbstverständnis eines israelischen Linken, der mit seiner Haltung nicht die israelische Gesellschaft repräsentiert. Zum Gesamtbild gehört es als kleines Puzzlestück dennoch dazu.

Bitte beachten Sie unsere Kommentar-Richtlinien

Schreiben Sie einen Kommentar

5 Antworten

  1. Danke für den Bericht. Natürlich sind nicht alle seiner Meinung, was die Darstellung der Situation ist.
    Da von Simson (od. Samson) die Rede ist in dem Bericht: Ich hoffe, dass es mal einen Simson gibt, der die Medien auseinandernimmt und eine Konterattacke gegen die HAMAS-Videos durchführt.
    Israel sollte sich nicht gegenseitig zerreißen, wir brauchen einen Kampf in dieser Welt mit der Stärke eines Simsons, damit die Welt erkennt, dass die Stunde kommen wird, in der es Israel wieder besser geht.
    Ich glaube an ein Fenster MIT Aussicht, nur der Glauben an den lieben Gott kann uns diese Aussicht geben,

    5
  2. Schriftsteller Dror Mishani will den Hamas-Angriff auch in einem „Kontext“ sehen. Kann man dem zustimmen? Nein.

    4
    1. Ich habe von Dror Mishani bilang einen Krimi gelesen – spannend, mit einer orginellen Intrige – , in dem er beiläufig ein ziemlich düsteres Bild seines Landes zeichnet. Manches ist durchaus diskutabel, aber das ist die Freiheit der Fiktion. Gewundert hat mich dabei, dass in diesem Roman kein Araber/Palästinenser auftaucht, wie sonst bei eher linken Schriftstellern. Eines der Opfer ist in diesem Fall eine Frau aus Riga, wenn ich mich recht erinnere, die als Pflegekraft ausgebeutet wird.

      1
  3. Aufgrund der Rezesnion habe ich mir das Buch gekauft und finde es lesenswert und kann es weiterempfehlen.

    0

Israelnetz-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen