„Tätowierung mit Erbe seit 1300“ – mit dieser englischen Aufschrift preist das Holzschild vor dem kleinen Laden in der Jerusalemer Altstadt die Dienste von Wassim Razzouk an. Der palästinensische Christ ist stolz auf die jahrhundertealte Tradition seiner Familie, christliche Pilger zu tätowieren. Sie begann in Ägypten, wo Kopten wegen ihrer Verfolgungssituation nur mit einer Kreuz-Tätowierung eine Kirche betreten durften. Vor rund 500 Jahren zogen seine koptisch-orthodoxen Vorfahren nach Jerusalem, das genaue Datum ist nicht bekannt.
Die Tradition selbst komme nicht von seiner Familie, sondern aus dem Heiligen Land, betont der 44-Jährige im Gespräch mit Israelnetz. „Es war eine Tradition, die seit dem Mittelalter und davor bestand. Die Kreuzfahrer wurden im Heiligen Land tätowiert. Meine Familie hat die Tradition adoptiert – und sie von Generation zu Generation weitergereicht.“ Im Laden hängen Schwarz-Weiß-Fotos von seinem Großvater, seinem Urgroßvater und weiteren Vorfahren. Dass die Familie die Tradition bewahrt hat, ist für ihn „etwas sehr Schönes und Wertvolles, und für mich persönlich ist es etwas, worauf ich sehr stolz bin“.
Doch nicht nur das geistige Erbe haben seine Vorfahren weitergegeben, sondern auch etwas ganz Handfestes: jahrhundertealte Holzstempel mit Mustern von urchristlichen Motiven, die beim Tätowieren helfen. Der neueste von ihnen sei 105 Jahre alt. Ein Pilger hat einst seine Tätowierung dokumentiert und das Bild mit der Jahreszahl 1669 versehen: „Die Zeichnung ist genau dieselbe, die wir auch in unserer Stempelsammlung haben, der Stempel ist ein wenig zerbrochen, aber man kann sehen, dass es derselbe ist.“ Dass diese alten Stempel bis heute gebrauchsfähig sind, passt zu seiner Arbeit: Auch die Tätowierungen haben eine lange Haltbarkeit.
Wassim Razzouk ist nicht nur stolz auf die Familientradition, sondern er liebt seine Arbeit – obwohl es nicht sein erster Berufswunsch war: „Um ehrlich zu sein, ich wollte das nie tun, weil ich jung und rebellisch war. Nur weil es in der Familie war, musste ich es ja nicht automatisch fortführen. Aber dann wurde ich älter und weiser.“ Er habe erkannt, dass es ein großer Verlust wäre, wenn er das Erbe der Familie nicht fortsetzte. „Ich bin sicher, dass die Tradition des Tätowierens von Pilgern weitergegangen wäre – mit anderen Künstlern, vielleicht israelischen, jüdischen oder auch russischen Künstlern, die in Israel leben.“ Aus diesem Grund ist er stolz darauf, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Ich habe die Tradition weitergetragen.“
Sohn will Tradition fortführen
Er hat keine Brüder, und seine Schwestern interessieren sich nicht für das Tätowieren. Aber er hat vier Kinder, und ein Sohn will in seine Fußstapfen treten. „Das ist sehr gut, ich freue mich sehr darüber. Ich brauche ihn nicht einmal zu zwingen. Er mag das, was wir tun.“ Überhaupt werde in der Familie von jeher niemand gezwungen, das Handwerk zu erlernen. Als Kind habe er, ebenso wie vorher sein Vater und seine Tante, mitgeholfen, wenn Not am Mann war. So habe er den Betrieb allmählich kennengelernt.
In die Lehre ging Razzouk bei seinem Vater. Manche Methoden gefielen ihm nicht, weil er sie als primitiv empfand. „Aber ich habe viel von meinem Vater gelernt.“ Anschließend brachte er sich selbst bei, „wie man auf modernere, hygienischere, sauberere Weise tätowiert, indem man diese alte Kunst benutzt“. Außerdem verbesserte er die Kunstfertigkeit, etwa durch neue Techniken bei der Schattierung. Sein eigener linker Arm ist voller Tattoos. Einen Teil hat er selbst gemacht, ein Teil stammt von seiner Ehefrau Gabrielle – einer Künstlerin, der er das Tätowieren beigebracht hat.
Ein besonders beliebtes Motiv bei Pilgern ist von jeher das sogenannte Jerusalemkreuz: ein griechisches Kreuz, bei dem sich in den vier Quadranten je ein weiteres Kreuz befindet. Jemandem dieses Symbol einzutätowieren, dauert zehn bis fünfzehn Minuten, sagt der Experte. Generell sei es „nicht so schmerzhaft, und es geht schnell, also ist das Leiden sehr gering“. Wirklich gläubige Menschen wollten allerdings den Schmerz ein wenig spüren. „Das ist für sie, als würden sie ein wenig mit dem Schmerz Jesu mitfühlen. Vor allem in der Osterzeit.“
Seine Kunden sind nicht nur Katholiken und Mitglieder von orthodoxen Kirchen, sondern auch Protestanten. Deren Lieblingsmotiv ist ebenfalls das Jerusalemkreuz. Doch selbst Muslime besuchen das Studio in der Nähe des Jaffatores. „Sie haben einen anderen Geschmack. Sie wollen ihren Namen oder den Namen ihrer Freundin oder den Namen ihres Vaters oder wessen Namen auch immer in Kalligraphie auf Englisch, weil sie denken, dass Englisch cool ist.“
Während des Gespräches kommt ein junger Tourist – ein orthodoxer Christ aus Serbien. Ursprünglich war er in der Annahme nach Israel gereist, er werde ein weiteres unbekanntes Land kennenlernen. Doch schnell merkte er nach eigener Aussage, dass Jerusalem ein einzigartiger Ort ist – und blieb zwei Monate. Offenbar um seine Erkenntnis zu untermauern, möchte er nun einen Termin vereinbaren, um sich zum Abschluss der Reise ein oder zwei Motive eintätowieren zu lassen.
Seelsorge für ein Terror-Opfer
Dass Razzouks Arbeit auch einen seelsorgerischen Aspekt haben kann, zeigt das Projekt „Healing Ink“ (Heilende Tinte). Dabei erhielten Opfer von Terrorangriffen und Kriegsveteranen im vergangenen Oktober auf eigenen Wunsch eine Tätowierung. Zu Razzouk kam die britisch-israelische Reiseleiterin Kay Wilson. Sie war im Dezember 2010 von Arabern angegriffen worden, als sie mit einer christlichen Freundin in einem Jerusalemer Wald unterwegs war. Bei dem Anschlag erlitt sie schwere Verletzungen. Die Freundin, die Amerikanerin Kristine Luken, wurde ermordet.
Als Motiv für ihre Tätowierung wählte Wilson ein jüdisches Gebet in hebräischer Sprache. Für den Christen, der in der Altstadt eine koptische Gemeinde besucht, war die Begegnung mit der Britin eine Gelegenheit, eine humanitäre Tat und einen Akt der Nächstenliebe zu verüben. Denn er selbst habe einen anderen Hintergrund als das Opfer – „denselben Hintergrund wie die Menschen, die sie angegriffen hatten“. Das sollte der Britin helfen, ihre schlimme Erfahrung verarbeiten zu können. „Ich bin sicher, dass ein einfaches Tattoo nicht wirklich viel ändert. Doch die Tat selbst, von einem Araber und Palästinenser, ist etwas sehr Besonderes für sie. Und genau das hat sie empfunden, und ich wollte, dass sie genau das empfindet.“
Trotz der Unterschiede und trotz aller politischer Angelegenheiten zwischen Israelis und Palästinensern seien Menschen immer noch Menschen, und sie kümmerten sich umeinander, sagt Razzouk. „Vor allem, weil wir Christen sind, sind wir aufgerufen, unseren Nächsten und unseren Feind zu lieben, jeden zu lieben. Angegriffen worden und beinahe gestorben zu sein, das ist eine Erfahrung, die niemand durchmachen will.“
Ein wenig Heilung bringen
Er hofft, dass seine Tinte einen kleinen Teil ihrer Schmerzen geheilt habe. „Natürlich nicht alle ihre Schmerzen, die werden nie verschwinden, aber ein wenig eine schöne Erinnerung von einem Palästinenser, der ihr Schmerz verursacht und sie viele Male mit seiner Nadel gestochen hat – als Gegensatz zu einem Palästinenser, der mit einer Machete oder einem Messer auf sie eingestochen hat. Aber mein Stechen war eine Liebestat für sie, damit sie für immer eine Erinnerung an ihrem Körper hat.“
Razzouk folgt Wilson auf Facebook. Aufgrund ihrer traumatischen Erfahrung hat er Verständnis dafür, dass ihr Tonfall mitunter ein wenig aggressiv und manchmal sogar feindselig gegenüber Palästinensern sei. „Ich verstehe, wo sie herkommt, und ich bin wirklich in keiner Position, um über sie zu urteilen. Natürlich ist sie frei, und ich respektiere sie immer noch und werde ihr immer meine Hilfe anbieten. Aber ich hoffe, dass meine kleine Liebestat ein wenig in ihr verändert, um ihr zu helfen, zu vergeben und nicht zu verallgemeinern. Nicht alle Palästinenser in eine Schublade zu stecken – als böse Menschen, als Feinde.“
„Christen brauchen Unterstützung von außen“
Ein Thema, das den Kopten beschäftigt, ist die Abwanderung von Christen aus dem Heiligen Land. Einen Grund dafür sieht er in der fehlenden Unterstützung aus dem Ausland: „Die Juden und Israelis haben eine Menge Unterstützung und viele große Pläne von großen Körperschaften in der Welt, die ihnen zum Beispiel Geld geben und sie unterstützen und sie ermutigen, in Israel zu bleiben und sich auszubreiten und Familien zu gründen.“ Die ortsansässigen Christen seien sehr empfindlich, weil sie eine Minderheit seien, viele wollten nicht in den Feindseligkeiten zwischen Arabern und Israelis leben und verließen deshalb das Land.
„Wenn die christlichen Palästinenser von hier verschwinden, dann wird es für Christen in aller Welt nichts geben, wo sie hingehen können, weil alles verschwinden wird“, meint der Araber. Die einzigen, die sich um die christlichen Besitztümer und die Kirchen kümmerten, vor allem in Jerusalem, seien die christlichen Palästinenser.
Der Tätowierer aus Leidenschaft allerdings denkt trotz aller Widrigkeiten nicht daran, fortzugehen: „Ich werde noch 500 Jahre hier sein. Wir sind seit 500 Jahren hier, ich weiß sicher, dass es weitere 500 Jahre werden.“
Von: Elisabeth Hausen