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Ein Buch bricht das Schweigen

Die Schoah hatte nicht nur Einfluss auf die Überlebenden, sondern auch auf deren Kinder. Die israelische Schriftstellerin Nava Semel gehört zu den ersten, die diese Zusammenhänge in der Literatur deutlich gemacht haben. Mit Israelnetz sprach sie über das Schweigen ihrer Mutter, die "zweite Generation" und die Reaktionen der Israelis auf ihr Werk.

Israelnetz: In einem Ihrer Bücher schreiben Sie über Kinder, die in der Schule die Biographien ihrer Eltern verändern, damit sie nicht ausgelacht werden. Sie wollten keine Schoah-Überlebenden als Eltern haben. Haben Sie Lügengeschichten über Ihre Mutter erzählt?

Nava Semel: Nein, überhaupt nicht. Das war ein völliges Tabu. Nicht weil wir dachten, dass man darüber nicht sprechen darf. Sondern weil die Israelischkeit so stark war. Und deren Botschaft lautete, dass die Vergangenheit beendet war. Deshalb sprach niemand über die Vergangenheit der Eltern. Das ist selbstverständlich in der erwähnten Geschichte sehr radikal. So ist es in der Literatur. Sie ist wie eine Granate.

Ihr Vater kämpfte gegen die Nazis, Ihre Mutter war in Auschwitz. Sie hat jahrelang nichts von ihrer Vergangenheit erzählt. Wie sind Sie als Kind mit der Diskrepanz zwischen dem heldenhaften Vater und der schweigsamen Mutter umgegangen?

Auch mein Vater hat freiwillig keine Informationen preisgegeben. Aber er war kein Überlebender eines Konzentrationslagers. Das ist ein bedeutender Unterschied. Er hat vom zionistischen Widerstand gesprochen. Leute, die die Vernichtungslager überlebt hatten, schützten sich selbst. Hätten sie sich täglich an das erinnern müssen, was sie durchgemacht hatten, hätten sie nicht leben können. Ich hatte sehr große Angst. Auch wenn ich nicht wusste, was Auschwitz genau war, war mir als Kind klar, dass es sich um etwas Entsetzliches handelte und meine Aufgabe darin bestand, die Mutter vor der Erinnerung zu schützen. Sonst würde etwas Schreckliches passieren. Deshalb war die Erinnerung an das Entsetzliche, das begriffen wir von klein auf, eine Bedrohung.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Ihre Mutter Anfang der 80er Jahre endlich ihr Schweigen brach?

Nicht sie hat das Schweigen gebrochen, sondern das Buch "Gläserne Facetten". Ich wollte ein Buch über Helden in meinem Alter an den Stationen ihres Lebens schreiben, ihren Reifeprozess, Karriere, Ehe, Kinder. Doch beim Schreiben entdeckte ich, dass ein völlig anderes Buch entstand. Ich war schockiert. Alle meine Helden waren Kinder von Schoah-Überlebenden. Und alle mussten, um erwachsen zu werden, zu den Eltern gehen und diese "schwarze Schachtel" öffnen. Sie haben es vor mir getan. Ich habe das nachgeahmt, was meine Helden auf dem Papier taten. Dann ging ich zu meiner Mutter, um das Schweigen zu brechen. Von meinen Protagonisten bekam ich den Mut dafür. Aber zu meiner Überraschung war meine Mutter Anfang der 80er Jahre bereit zu sprechen. Das ist sehr charakteristisch für jene Jahre. Ich denke, sie hatte weniger Angst, dass ihre Erinnerung eine Bedrohung für uns sein würde. Denn, warum haben die Überlebenden nichts erzählt? Weil sie nicht wollten, dass die Narbe auf ihre Kinder übergeht. Jetzt waren wir erwachsen, ich war selbst eine Mutter, und sie dachte, dass ich ihre Erinnerung ertragen kann. Dass wir gemeinsam diese Bestie überwinden können und uns das nicht zerstört. Verstehen Sie?

Dass Sie also die Kraft haben, Ihrer Mutter zu helfen, damit fertig zu werden.

Ja. Als ich weiterschrieb, habe ich sie interviewt und empfunden, dass ich quasi drei Hüte trage: Ich war selbstverständlich ihre Tochter. Dann war ich der Chronist, der Fakten sammelt. Und der dritte Hut – ich war eine Art Psychologin. Die drei Hüte habe ich gleichzeitig getragen. Danach war der Dialog sehr offen. Zusammen mit mir hat sie sich dafür entschieden, Geschichten über gute Menschen zu erzählen, über Rettung. Sie entschied, nicht die entsetzlichen Dinge zu erzählen, sie bemühte sich, es nur anzudeuten.

Und hat das die Beziehung zwischen Ihnen verändert?

Ja. Es hat uns zu Erwachsenen gemacht. Nicht eine Mutter und ihr Baby, das man vor der Erinnerung schützen muss. Und das Kind seinerseits schützt den Elternteil vor der Erinnerung. Plötzlich wurde es zu einer Begegnung auf Augenhöhe. Wie meine Helden habe auch ich einen Reifeprozess durchlebt.

Ihr Vater war in Europa in der zionistischen Bewegung und im Widerstand, später wurde er Knessetabgeordneter. Hat Sie sein politisches Engagement beeinflusst?

Mein Vater war einer der ersten Männer, die sich in der Versöhnung mit Deutschland engagierten. Das war seinerzeit äußerst umstritten. Er dachte, dass Feindschaft zwischen zwei Völkern eine Katastrophe ist, ein Rezept für die Fortsetzung des Antisemitismus; dass Versöhnung zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volk nötig ist. Das hat mich zweifellos beeinflusst. Als vor 20 Jahren erstmals der Vorschlag kam, ein Buch in Deutschland zu veröffentlichen, gab es in meiner Umgebung noch Stimmen von Freunden, die fragten: "In Deutschland willst du ein Buch veröffentlichen?" Und ich erinnere mich, dass ich wirklich mit der Stimme meines Vaters sprach. Ich sagte: "Es ist wichtig, dass unsere Stimme in Deutschland zu hören ist, die Stimme der Israelis, der Juden, und die der Literatur. Ich vertrete eine wichtige Generation, die gehört werden muss, denn sonst wird es leichter sein, zu vergessen. Wenn das Buch in der deutschen Kultur existiert, ist es für mich wie eine Gedenkmünze." Mein Vater sagte immer, man muss empfindsam gegenüber anderen Minderheiten sein, über die Lehre der Schoah sprechen: Weil wir diese entsetzlichste Erfahrung in der Geschichte der Menschheit durchgemacht haben, müssen wir die Torhüter sein – damit so etwas nicht anderen Völkern passiert, und natürlich auch uns nicht noch einmal. Man muss empfindsam für Menschenrechte sein. Darum hat er sich auch in der Knesset bemüht.

Ihr Buch "Gläserne Facetten" war das erste Prosastück in Israel, das sich der "zweiten Generation" widmete, also den Kindern der Überlebenden. Wie haben Ihre Altersgenossen reagiert?

Sehr negativ. (lacht) Gerade die Israelis aus meiner Generation waren schockiert, weil ich sagte, wir hätten eine Verbindung zur Vergangenheit. Uns wurde doch im Staat Israel beigebracht, wir seien ein neues Blatt in der Geschichte. Und die Vergangenheit war entsetzlich. Die meisten Leute in meinem Alter sagten: "Was haben wir mit der Schoah zu tun?" Manche sagten mir: "Was sagst du? Wir sind keine Erfolgsgeschichte? Wir sind gescheitert, weil sich unter diesem starken, kräftigen Israeli ein verabscheuter Jude verbirgt? Das gefiel ihnen überhaupt nicht. Die erste Unterstützung für das Buch kam erstaunlicherweise von den Überlebenden selbst. Sie schrieben mir und kauften es auch für ihre Kinder. Oft diente das Buch nicht als Literatur, sondern als Schlüssel für einen Dialog zwischen Eltern und Kindern. Später wurde es zu einem Klassiker.

Der Dichter Natan Jonathan hat vorhergesagt, dass die Reaktion auf das Buch nicht leicht sein würde. Er gab das Buch heraus, und er war so israelisch, wie man es sich nur denken kann: hochgewachsen, ein Palmachnik, im Lande geboren, der mythologische Sabra. Er sagte mir: "Sie werden es mit diesem Buch sehr schwer haben. Sie begehen literarischen Selbstmord. Eine junge israelische Sabra-Frau beginnt ihre Karriere mit einem Buch über die Schoah. Aber ich bin bereit, mit Ihnen Selbstmord zu begehen." Er hat mich sehr unterstützt. Meine Generation brauchte etwas Zeit, um sich damit abzufinden.

Wie reagierten Ihre Angehörigen?

Meine Eltern haben es sehr unterstützt, mein Bruder war total dagegen. (lacht) Genau dasselbe. Er wollte partout nicht, dass ich das herausgebe. Er dachte, dass es sein israelisches Image beeinträchtigt und uns erneut mit dem Stigma der Diaspora befleckt, von der wir uns zu lösen versuchten. Ich hatte Diskussionen zu Hause. Damals begriff ich, was mich draußen erwartet – und dass Natan Jonathan Recht hatte.

Wie schwer ist es Ihnen gefallen, das Thema "Schweigen" in Worte zu fassen?

Gute Frage. Das ist meiner Meinung nach die Herausforderung der Literatur. Zu versuchen, mit Worten zu schweigen. Oder dem Schweigen in Worten Ausdruck zu verleihen. Ich kann Ihnen nicht beantworten, wie genau ich das tue. Aber ich weiß, dass es mein Mandat ist, die verletzten und blutenden Orte in der Seele meines Helden zu finden und ihnen Ausdruck zu verleihen, so dass sich der Leser mit ihnen identifizieren kann. Das ist die größte Herausforderung. Oft fühle ich, dass mir die Worte nicht ausreichen.

Wie haben Sie Ihren Kindern die Schrecken der Schoah und die Erlebnisse Ihrer Mutter vermittelt?

Meine Kinder sind darin aufgewachsen. Wie bei der Enkelin in "Und die Ratte lacht" gibt es heute zwei Stationen zur Weitergabe der Erinnerung im Lehrplan, den ein Kind in Israel durchnimmt. In der siebten Klasse geht es um die Wurzeln. In der elften Klasse vor der Fahrt nach Polen geht es tiefer. Als sie an diese Stationen gelangten, kamen sie von selbst zu meiner Mutter und sprachen mit ihr. Sie fragen mich aber oft nach meiner Kindheit: Wie ist es, bei einem verwundeten Elternteil aufzuwachsen? Mit diesen Träumen in der Nacht?

Ihre Großmutter, ebenfalls eine Überlebende, war ultraorthodox. Sie sprechen seit Ihrer Kindheit abends das "Höre Israel". Welche Rolle spielt der Glaube heute in Ihrem Leben?

Ich möchte das nicht die Rolle des Glaubens nennen, sondern die des Denkens in Israel. Für mich sind es nicht die Gebote. Für mich ist Judentum eine Schatzkammer des jüdischen Denkens, des Pluralismus. Die Hebräische Bibel ist eine Quelle. Sie liegt immer offen auf meinem Tisch. Fast jedes Buch von mir wird mit der Bibel geschrieben. Ich bin mit dem jüdischen Fundament in mir verbunden, mit den Gebeten. Ich definiere mich auch nicht als säkulare Jüdin, sondern als liberale Jüdin. Das ist ein geistiger Reichtum für mich. Ich habe mit meiner Großmutter im selben Zimmer gelebt, während ich einen Minirock trug und Beatles hörte, und sie betete. Und wir lebten in Harmonie.

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