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Ehemalige jüdische Hamburger entdecken die Heimat ihrer Familie

In Hamburg begeben sich ehemalige jüdische Bürger und deren Nachkommen auf Spurensuche. Ein Gast aus Israel betet als Kantor nach den vom Vater erlernten Melodien.
Von Israelnetz

HAMBURG (inn) – Sie kommen aus Israel, Brasilien und den USA. Aber geboren sind die meisten von ihnen in ein und derselben Stadt – in Hamburg. Jetzt besuchten ehemalige jüdische Hamburgerinnen und Hamburger mit ihren Ehepartnern und weiteren Familienangehörigen auf Einladung des Senats ihre Herkunftsstadt, aus der sie mit ihren Eltern vor dem Rassenwahn des NS-Regimes fliehen mussten.

Die Besuche ehemaliger jüdischer Hamburgerinnen und Hamburger startete der Senat vor fast 60 Jahren: am 25. Oktober 1965, genau 24 Jahre, nachdem die braunen Machthaber erstmals jüdische Bürgerinnen und Bürger aus der Hansestadt deportierten, meistens in den Tod.

Zeitgleich erschien das erste Buch zur Erinnerung an die Opfer des Nazi-Terrors in Hamburg. Es sollte nicht nur an die Ermordeten erinnern, sondern auch die Überlebenden wieder zurück in ihre Stadt holen, und sei es nur zu Besuch. Der damalige Bürgermeister Herbert Weichmann (SPD) schaltete Anzeigen in jüdischen, deutschsprachigen Publikationen in Israel, Lateinamerika und den USA, um Kontakt zwischen der Senatskanzlei und den ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern Hamburgs zu knüpfen.

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Nach vierjähriger Pause organisierte die Kulturbehörde wieder einen Besuch ehemaliger Hamburger Jüdinnen und Juden. Die meisten indes hatten kaum Erinnerungen an ihre Kindheit in Hamburg, mussten sie doch im Baby- und Kleinkind-Alter mit ihren Eltern fliehen. Viele ehemalige jüdische Hamburgerinnen und Hamburger wurden von Kindern und Enkelkindern begleitet. Denn seit 2010 öffnet die Hamburger Bürgerschaft das Besuchsprogramm für die folgenden Generationen – einmal als Begleitung, aber auch, damit sie die Herkunftsstadt ihrer Eltern und Großeltern kennenlernen.

Verein ehemaliger Hamburger in Israel

Stark unterstützt wird die Organisation der Besuche vom „Verein ehemaliger jüdischer Bürger der Stadt Hamburg in Israel“, den Baruch Zwi Ophir (1910 bis 2004) Ende 1960 in Jerusalem gründete, um Kontakte zur alten Heimat Hamburg zu pflegen und zugleich Anregungen für das Gedenken an das zerstörte jüdische Leben in Hamburg zu geben. In Israel organisiert der Verein die Initiative „Brücken-Bauen“, die Gäste aus Hamburg in Israel begrüßt und begleitet.

Unter den Gästen weilte auch Anja Frida Streit-Daibert, deren Urgroß- und Großeltern Hamburger Kino-Geschichte schrieben. Eine Geschichte, die mit der Schoa verschwand beziehungsweise „arisiert“ wurde, eine Geschichte, die Anja Frida Streit-Daibert jetzt in ihrer Familienchronik „Light, Camera, Action … A Story about Overcoming“ darstellt und in der sie den Fokus auf das Leben ihrer Urgroß- und Großeltern legt. Es gibt weitere Literatur, aber alle schildern die Hamburger Kino-Geschichte, in der Anja Frida Streit-Daiberts Familie im wahrsten Wortsinn eine große, wenn nicht die Rolle spielte. Das Buch soll demnächst auf Deutsch erscheinen.

Anja Frida Streit-Daibert wurde von ihrem Enkelsohn Thiago begleitet. Die Familie lebt heute in Belo Horizonte, 440 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro in Brasilien. Der Name Streit hat in Hamburg auch heute noch einen berühmten Klang, steht er doch für eine Kino-Dynastie, für ein Premieren-Kino, in dem berühmte Filmstars ihre Filme feierten.

Das erste Theater weltweit, das nur als Kino diente

„Meine Urgroßeltern Jeremias und Frederica Henschel, die sich später James und Frida nannten, haben die ersten Kinos in Hamburg gebaut“, erzählte Anja Frida Streit-Daibert. 1895 hat das Ehepaar Kinos in Paris kennengelernt, als sie dort Grammophone für ein Geschäft kaufen und sie dann in Hamburg verkaufen wollten. Doch es wurden Kinos daraus. Das erste Kino richtete Urgroßvater James für 550.000 Mark ein, das „Palast-Theater“. Es war das erste Theater der Welt, das ausschließlich als Kino fungierte.

Doch dabei blieb es nicht – es wurden zehn Lichtspielhäuser. 1914 traten seine Schwiegersöhne Hugo Streit und Hermann Ulrich-Sass ins Kino-Geschäft ein. Erst entstand das Passage Theater, das es heute noch gibt, und der Grundstein für das Nobel-Kino „Streit’s“ war gelegt. Am 29. November 1919 stieg die UFA in das lukrative Unternehmen der Henschels und Streits ein. Die Familie fuhren die ersten Autos in Hamburg, hatten Tanzlokale, waren der Garant für das Vergnügen der Hanseaten.

Foto: Heike Linde-Lembke
Anja Frida Streit-Daibert zeigte ihrem Enkelsohn Thiago ihre Heimatstadt

Doch dann kam die braune Pest. Sie emigrierten in die Schweiz. Doch auch dort wurde das Leben immer schlechter. „Mein Vater Rolf Arno Streit emigrierte 1936 mit nur zehn Mark aus Deutschland nach Brasilien, spielte in Rio de Janeiro Klavier für Essen, zog zurück nach Holland, heiratete – und übersiedelte erneut nach Brasilien, nach Belo Horizonte, wo ich am 1. Dezember 1946 geboren wurde“, erzählte Anja Frida Streit-Daibert. Ihr Vater starb am 15. Februar 1993 in Belo Horizonte.

Zwischen Hamburg, England, den USA und Israel

Uri Hirsch indes wurde in Hamburg geboren, im Januar 1938. Im Sommer 1939, kurz vor dem Nazi-Überfall auf Polen, emigrierte sein Vater David Hirsch nach London, wenig später konnten seine Mutter, seine zwei Brüder und er folgen. „Zuerst hatte nur mein Vater eine Einladung nach England, für uns kam sie erst einige Wochen später“, erinnerte sich Uri Hirsch.

Vier Jahre blieb er mit seiner Mutter in England, während der Vater mit den Brüdern in die USA reiste. Eine Erinnerung an Hamburg habe er nicht, er sei zu klein gewesen. Doch der Vater ging noch einmal zurück nach Hamburg, er war Chasan (Vorsänger) an der Bornplatz-Synagoge. In der Reichs-Pogromnacht verhaftete ihn die Gestapo dort und deportierte ihn ins KZ Sachsenhausen. Sein Großvater starb und wurde auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf begraben. Seine Großmutter mütterlicherseits wurde im Todeslager Auschwitz ermordet, die Mutter seines Vaters deportierten die Nazis ins KZ Theresienstadt.

„Es ist unser Land“

Sie überlebte, emigrierte über Italien in die USA, wo sie später in New York starb. „Wir sind auch in den nächsten Generationen von der Schoa traumatisiert“, erzählt Uri Hirsch sichtlich berührt. Von 1973 bis 1976 lebte er in Israel, ging dann für seine Tochter in die USA. 2007 zog er endgültig nach Jerusalem. „Ich wollte immer in Israel leben, es ist unser Land, dort hat Gott uns die Tora gegeben, dort sollten wir sein“, ist Uri Hirsch überzeugt.

Der 7. Oktober ist für ihn eine zweite Schoa: „Die Hamas sind schlimmer als die Nazis, und wir müssen sie vollständig vernichten.“ Während seines jetzigen Besuchs in Hamburg betete Uri Hirsch als Chasan in der Synagoge Hohe Weide nach der Tradition und den Melodien, die er von seinem Vater gelernt hat, dieselben Melodien, die einst in der Synagoge am Bornplatz gespielt wurden.

Keine eigene Erinnerung an Hamburg

Auch Peter Jacob Loewenberg wurde in Hamburg geboren, am 14. August 1933 im legendären Israelitischen Krankenhaus auf Hamburg-St.-Pauli, das Salomon Heine, Onkel des Dichters Heinrich Heine, erbaute und in dessen damaligem Betsaal heute die Hamburger Reformsynagoge zuhause ist.

Sein Großvater Jakob Loewenberg hat die Israelitische Höhere Töchterschule in Hamburg gegründet. Geboren am 9. März 1856, war er ein großer Pädagoge, Dichter und Schriftsteller. „Mein Vater Dr. Richard Loewenberg war Oberarzt an der Uni-Klinik, aber die Nazis haben ihn 1933 sofort rausgeworfen hat“, sagte Peter Jacob Loewenberg, der heute Professor für Geschichte und Psychoanalytik ist. Der Vater sah die Gefahr des NS-Regimes für Juden und entschloss sich, mit der Familie nach Shanghai auszuwandern. Dort konnte er wieder als Arzt praktizieren.

Foto: Heike Linde-Lembke
Professor Peter Jacob Loewenberg (2. v. l.) mit seiner Ehefrau Josefine und den Kindern Samuel Richard (l.) und Jonathan Alexander

„Ich habe wie die meisten hier keine Erinnerung an Hamburg, denn ich war erst sechs Wochen alt, als wir flohen“, sagt Loewenberg, der heute in Los Angeles lebt und mit seiner Ehefrau Josefine und den Kindern Anna Sophie, Jacob, Ella und Samuel nach Hamburg kam. „Es ist eine sehr schöne Erfahrung, mit der Familie hier zu sein, die Stadt zu erleben und die Stätten zu besuchen, in denen meine Großeltern und Eltern wirkten“, freute sich Peter Jacob Loewenberg.

Von: Heike Linde-Lembke

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3 Responses

  1. Danke für den Bericht. Ich habe zum wiederholten Male den Eindruck, dass Hamburg eine besondere Stadt in Deutschland ist.
    Möge Hamburg mit seinen Jüdischen Gemeinden eine gute Zukunft haben !

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  2. Uri Hirsch meint, man müsse Hamas vernichten, sie seien schlimmer als die Nazis. Weiß er nicht, dass man die Nazis nie ganz vernichten konnte und glaubt er wirklich, dass dies bei Hamas gelingt?
    Er wird auch bei seinem Besuch in Hamburg mitbekommen, was zurzeit hier in DE abgeht.
    Ich wünsche ihm nur gute Erinnerung an Hamburg, wenn er wieder zurück nach Israel geht, wo er Heimat gefunden hat. Und ich wünsche seiner Heimat Israel Frieden, wohlwissend, dass er in weiter Ferne ist.

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  3. Das Böse kann nicht vernichtet werden, es ist im Menschen. Aber jeder Mensch kann sich gegen oder für das Böse entscheiden.

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