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Ehemalige Geisel erzählt von Hunger und Eisenketten

Als erste der seit Mitte Januar freigelassenen Geiseln gibt Eli Scharabi ein Interview. Der Hunger sei schlimmer gewesen als die Schmerzen, sagt der 53-Jährige.
Von Israelnetz

JERUSALEM (inn) – Eli Scharabi war 491 Tage unter unzumutbaren Bedingungen als Geisel im Gazastreifen. Seine Frau und seine beiden Töchter wurden am 7. Oktober 2023 von der Hamas ermordet. Doch in seinem ersten Interview nach der Freilassung sorgt er sich vor allem um einen Mitgefangenen, der sich noch in der Gewalt der Terroristen befindet.

Das Interview führte Ilana Dajan. Sie ist Moderatorin des Investigativformates „Uvda“ (Tatsache) beim israelischen Sender „Kanal 12“. Es wurde am Donnerstagabend veröffentlicht. Auf die Frage, warum er das Interview gebe, antwortete Scharabi: „Weil man niemanden dort zurücklassen darf.“

Nach seiner Entführung wurde er zunächst 51 Tage mit einem Thailänder in einem Haus gefangen gehalten. Dort habe er nur Angst vor Luftangriffen gehabt. An den ersten drei Tagen trug er enge Fesseln, konnte vor Schmerzen nicht schlafen. Nur ab und zu verlor er für ein paar Stunden das Bewusstsein. Danach hätten die Entführer ihm die Fesseln abgenommen.

Am 27. November 2023 wurde er in einen Tunnel gebracht. Dort traf er auf Or Levy, Elia Cohen und Alon Ohel. Drei Tage lang waren außerdem drei junge Männer vom Nova-Festival bei ihnen: Hersh Goldberg-Polin, Ori Danino und Almog Sarusi.

Ihre vier Kameraden gingen davon aus, dass sie freigelassen würden, weil sie verletzt waren. Doch sie wurden in einen anderen Tunnel gebracht und mit drei weiteren Geiseln im September hingerichtet. Dass sie selbst bei einem Befreiungsversuch der Armee eine Kugel in den Kopf bekommen hätten, war Scharabi und seinen Leidensgenossen klar.

„Ich habe Alon versprochen, um ihn zu kämpfen“

Er und Levy wurden am 8. Februar freigelassen, Cohen am 22. Februar. Der 24-jährige Alon Ohel blieb allein in dem Tunnel zurück. „Er sagte, dass er sich für mich freut.“

Der 53-Jährige erzählte von ihrer Beziehung: „Er kam in mein Herz. Ich habe ihn vom ersten Augenblick an adoptiert. Wir haben einander unterstützt, 24 Stunden an sieben Tagen zusammen.“ Er wisse alles über seine Familie und seine Hobbys. „Wie kann ich ihn zurücklassen?“ Allein im Tunnel zu bleiben, sei sehr schwer. Zu viert hätten sie einander Kraft gegeben. „Ich versprach ihm, dass ich ihn nicht verlasse, dass ich um ihn kämpfen werde.“

Scharabi erfuhr eine Woche vorher von der bevorstehenden Freilassung. Ihm war klar, dass es erst sicher sein würde, wenn er sich in den Händen der Armee befinde. Dass die Sache bis zuletzt platzen könne.

Im Tunnel gab es weder Radio noch Fernsehen. Am Verhalten der Wächter hätten sie gemerkt, was für Nachrichten es gibt. Ein Terrorist zeigte ihm in einem Laptop die 33 Namen derjenigen, die in der ersten Phase des Deals freikommen sollten – und dass 25 von ihnen am Leben und acht tot seien.

Hamas-Lüge: „Deiner Frau und deinen Töchtern geht es gut“

Dann wurde Scharabi in einen anderen Tunnel gebracht, wo er seinen Kollegen Ohad Ben-Ami aus dem Kibbuz Be’eri wiedersah. Bei dessen Anblick erkannte er erstmals, wie abgemagert er selbst aussehen musste. Dort erfuhr er auch, dass sein Bruder Jossi Scharabi in der Geiselhaft ums Leben gekommen war.

Vom Schicksal seiner Frau Lianne und der beiden Töchter wusste er hingegen nichts. Er habe die Terroristen immer wieder nach seiner Familie gefragt und die Antwort erhalten: „Deiner Frau und den Töchtern geht es gut.“ Eli und Lianne Scharabi waren 30 Jahre lang ein Paar. Sie lernten sich kennen, als sie als Freiwillige in Be’eri arbeitete. In der Geiselhaft befürchtete er irgendwann, seine Frau kehre nach dem Überfall auf den Kibbuz in ihre Heimat England zurück.

Am Tag der Freilassung seien die drei Geiseln um 5 Uhr morgens aufgestanden und hätten ihre Texte für die Inszenierung der Hamas einstudiert, erzählte er. Scharabi musste unter anderem sagen, dass er sich auf seine Frau und die Töchter freue.

Nach der Propagandashow auf der Bühne wurden Scharabi, Levy und Ben-Ami an das Internationale Rote Kreuz übergeben. Letzterer habe im Auto gefragt: „Wo wart ihr?“ Die sichtlich beeindruckte Moderatorin fragte nach der Reaktion: „Sie sagte, dass sie ihnen nicht erlaubt haben, sich zu nähern.“

Bei der Übergabe an die Armee traf Scharabi auf eine Sozialarbeiterin, die er kannte. Sie erzählte, dass seine Mutter und seine Schwester am Militärstützpunkt auf ihn warteten. Er fragte nach Lianne und den Mädchen – und erhielt zur Antwort, dass die beiden es ihm sagen würden. Da habe er gewusst, dass etwas Furchtbares geschehen sei. Er hofft, dass sie schnell gestorben sind und nicht leiden mussten.

„Ein Kühlschrank ist eine ganze Welt“

Bei der Freilassung wog Eli Scharabi 44 Kilogramm, er hatte mehr als 30 Kilogramm verloren. Zu essen gab es die meiste Zeit entweder eine Schale mit Pasta oder eine Viertelpita. Letzteres sei ihm lieber gewesen, merkte er in dem Interview an: Das Brot habe er aufheben und vor dem Schlafengehen Stück für Stück verzehren können – um die Nacht besser zu überstehen.

„Ilana, wissen Sie, was es bedeutet, einen Kühlschrank zu öffnen?“, fragte der Interviewgast die Moderatorin. „Das ist eine ganze Welt.“ Er fügte an: „Allein die Vorstellung, dass ein freier Mensch dort Obst oder Gemüse oder ein Ei oder Wasser oder eine Tüte Brot herausnehmen kann. Davon träumt man den ganzen Tag.“ Schläge und Narben seien hingegen unwichtig. Ein halbes Jahr lang habe er nur ein Zehntel von dem zu essen erhalten, was er brauche.

Gibt es Gott im Tunnel?

Er habe von Essen geträumt, von einer Schabbat-Mahlzeit mit der Familie am Freitagabend – und vom Beten. „Ich bin kein religiöser Mensch. Aber dort, vom Tag meiner Entführung an, sagte ich jeden Morgen ‚Schma Israel‘. Ich machte Kiddusch. Ich sprach ‚Eschet Chajl‘ für meine Mutter und für meine Schwester und“ – mit tränenerstickter Stimme – „für meine Frau und meine Töchter.“ Kiddusch ist der Segen über den Wein. Das Gedicht „Eschet Chajl“ steht im biblischen Buch der Sprüche im 31. Kapitel. Es preist die „tüchtige Hausfrau“ und wird am Schabbatabend in jüdischen Familien gesungen.

„Gibt es Gott im Tunnel?“, fragte die Moderatorin. Das Gebet gebe viel Kraft, erwiderte die ehemalige Geisel. „Es gibt etwas, das über dir wacht. Darin findet man viel Trost.“

Die vier Geiseln wurden 50 Meter unter der Erde in einem 10 Quadratmeter großen Raum festgehalten. Scharabis Füße steckten in Eisenketten, mit denen er nur sehr kleine Schritte machen konnte. Das sei auch eine Vorsichtsmaßnahme gewesen, damit die Terroristen die Geiseln im Falle eines Befreiungsversuches leichter töten könnten. Einmal im Monat konnten sie mit einer Wasserflasche duschen. Um über ihre Aufseher sprechen zu können, dachten sie sich Codenamen für sie aus, erfanden eine gemeinsame Sprache.

Eines Tages erhielt einer der Terroristen im Nebenraum einen Anruf: Das Haus seiner Familie sei zerstört worden. Er sei in den Bereich der Geiseln gestürzt, wo Scharabi direkt am Eingang sein Nachtlager hatte. Der Terrorist verprügelte ihn. Alon Ohel versuchte, ihn zu schützen.

Da er vermutete, dass er vor dem jungen Mann herauskommt, habe er ihm Verhaltensweisen beigebracht, die ihm beim Überleben helfen sollen. Überhaupt habe er sich wie ein Vater für die jüngeren Haftgenossen gesehen. Alon Ohel hat durch einen Splitter eine Verletzung am rechten Auge.

Scharabi: Staatlicher Untersuchungsausschuss nötig

Eine staatliche Untersuchung der Versäumnisse vor dem Terrormassaker ist für Scharabi eine Frage der Moral. Sie sei nötig. „Und wenn sie herausfinden, dass ich schuld bin – dann sollen sie trotzdem einen Ausschuss einrichten“, scherzte er. Es gehe dabei nicht um rechts oder links, sondern um geradeaus. Dabei handele es sich nicht um eine Frage der Politik: „Haben sie die Bibas‘ gefragt, welche Politik sie haben?“

Israel nimmt die ehemalige Geisel so wahr: „Ich bin in einen Staat zurückgekehrt, der sich in einem Trauma befindet.“

Trotz allem, was er durchgemacht hat, ist Eli Scharabi gewiss, dass er eines Tages glücklich sein wird: „Ich habe bereits glückliche Augenblicke“, sagte er. Und: „Ich bin nicht wütend.“ Er sei an sich ein Glückspilz: 30 Jahre habe er mit Lianne erleben dürfen, er habe sich an den Töchtern erfreut, sei nicht getötet worden – und nach 16 Monaten zu seiner übrigen Familie zurückgekehrt. (eh)

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5 Antworten

  1. Die Schilderungen sind kaum zu ertragen beim Lesen. Tunnels 50 m unter der Erde. Die kann Armee nicht finden. So überlebt Hamas. Die müssen Jahrzehnte gebaut haben. Das muss zivile Bevölkerung gewusst haben. Noch 60 Geiseln in der Hölle von Gaza? Es ist furchtbar.
    Shalom.
    Ohne Text: Abbas log. Er zahlt weiter an Terror- Familien Gelder. ICEJ

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    1. Mir ist wirklich übel geworden beim Lesen. Man mag gar nicht mehr an den Kühlschrank gehen. Ich denke auch, dass es diese Tunnel noch gibt und sie werden derzeit wieder repariert. Oberirdisch ist viel zerstört, aber dort unten ist noch viel intakt.
      Dass Eli Sharabi nicht verbittert und wütend ist, sondern schon jetzt wieder von glücklichen Momenten spricht, ist bewundernswert. Eine dankbare und demütige Haltung gegenüber dem eigenen Leben. Danke dir lieber Gott und himlischer Vater, dass du ihn bewahrt hast. Hilf ihm gesund zu werden und bring bitte auch die anderen Geiseln heim.

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    2. Am isfael chai!!!!! Stärkste menschen. Aber die welt will blind sein, mehr als einmal mehr …
      Es zerreisst einem das herz.
      Wie kann ein mensch so böse und niederträchtig sein.

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  2. Wow, denke ich gerade, was für ein Mann!
    Danke mächtiger Herr, dass du ihn durch diese Hölle hindurch gebracht hast. Bitte lass seine Wunden heilen und setze ihn weiterhin zum Segen für andere. Schenke du ihm bitte die Gnade, zu erleben, dass Alon Ohel lebendig befreit wird und hilf ihm, in seiner Trauer und beim Verarbeiten des Schreckens.
    Bitte Herr, da sind noch so viele Geiseln gefangen, so viele in Not. Bitte Herr,lass sie nicht im Stich . Sorge du für sie und lass sie freikommen.
    Bitte hilf Israel zu heilen. Dass dein Volk dich sucht und bei dir Heilung findet.

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