Die Wiederentdeckung eines Malers

Pinchas Litvinovsky verkaufte keine Gemälde, der israelische Künstler lebte von Auftragsarbeiten. Er malte ausschließlich nachts und hörte dabei Musik.
Von Gundula Madeleine Tegtmeyer

Lange war er in Vergessenheit geraten, der israelische Maler Pinchas Litvinosvsky. Die Ausstellung You Must Choose Life – That is Artim Jerusalemer „Beit Avi Chai“ bietet Einblicke in Litvinoskys fesselnden Malstil. Die Arbeiten der Ausstellung „Du musst das Leben wählen – das ist Kunst“ geben eine Ahnung von seinem künstlerischen Lebenswerk – und von dem, was verloren gegangen ist.

Die Avi-Chai-Stiftung wurde Anfang der 2000er Jahre gegründet, um in einem Kulturzentrum das Verständnis und die Beziehungen zwischen Juden und Jüdinnen aller Strömungen des Judentums zu fördern. Das imposante Gebäude befindet sich neben der Jeschurun-Synagoge im Zentrum Jerusalems. Bis Juli 2025 bietet die Stiftung die Möglichkeit, in die Welt des vielseitigen Malers Litvinovsky einzutauchen und nachzuvollziehen, was ihn antrieb und wie der eigenwillige Künstler tickte.

Pinchas (Pjotr ​​Wladimirowitsch) Litvinovski wurde 1894 in Nowogeorgiewsk – damals Russisches Reich, heute Ukraine – als Sohn einer religiösen jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Mit 18 Jahren begann er sein Studium an der Kunsthochschule Odessa, wo er Boris Schatz (1866<–1932) kennenlernte. Dieser ermutigte ihn, an seiner Schule, der Bezalel-Akademie für Kunst und Design, zu studieren. Der junge Litvinovsky folgte der Einladung und ging nach Jerusalem.

Doch nach nur einem Jahr rebellierte Litvinovsky und verließ 1912 die Institution. Auch der rumänisch-stämmige Maler Reuven Rubin (1893–1974) ging auf die Barrikaden und verließ die Akademie. Grund ihres Ausscheidens waren grundlegende Meinungsverschiedenheiten über Kunstkonzeption, Stil, Inhalte und Lehrmethoden.

Nach Hochzeit in Jerusalem angesiedelt

Litvinovsky kehrte nach Russland zurück, wo er an der Russischen Akademie der Künste in Petrograd, heute Sankt Petersburg, sein Studium fortsetzte. Während seines Studiums lernte Litvinovsky Lisa kennen – die junge Frau studierte Medizin und wollte an sich Ärztin werden, konnte aber ihre Abschlussprüfungen aufgrund äußerer Umstände nicht ablegen.

Pinchas und Lisa heirateten kurze Zeit nach ihrem Kennenlernen. 1919, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, wanderte das Paar an Bord des Schiffes „Ruslan“ nach Palästina aus. Mit an Bord waren auch der Architekt Se‘ev Rechter, der Tänzer Baruch Agadati, die Dichter Jonatan Ratosch und Rachel (Bluwstein), der Sammler Jacob Fermann, die Künstler Jizchak Frenkel, Mosche Ziffer und Joseph Constant sowie viele weitere jüdische Intellektuelle, woraufhin die Ruslan den Spitznamen „zionistische Mayflower“ erhielt.

In Palästina ließen sich Pinchas und Lisa im Jerusalemer Stadtteil Katamon nieder. Dank seiner Bekanntschaft mit Mosche Dajan erhielten sie die Erlaubnis, in der Kaf Tet-beNovember-Straße 10 eine Wohnung im zweiten Stock zu beziehen.

Litvinovsky renovierte und erweiterte die Wohnung, um zusätzlichen Platz für ein Malatelier und Stauraum für seine Werke zu schaffen. Im Mai 1948, mit dem Ende des Britischen Mandats über Palästina und der Gründung des Staates Israel, zogen alle anderen Bewohner aus. Litvinovsky blieb bis zu seinem Tod.

Lisa arbeitete als Krankenschwester im Hadassah-Krankenhaus auf dem Jerusalemer Skopusberg. Sie starb unerwartet im Alter von nur 45 Jahren. Der Tod seiner Frau war ein schmerzhafter Verlust für den Maler. Das Paar hatte zwei Töchter, Chloe und Dafna. Litvinovski heiratete nie wieder. Der Künstler mied meist die Öffentlichkeit und Menschen. Mit seinen beiden Töchtern blieb er zeitlebens innig verbunden.

Lebensunterhalt durch Auftragsarbeiten bestritten

Pinchas Litvinovsky zeichneten einige Eigenarten aus: Seine Gemälde und Zeichnungen verkaufte er grundsätzlich nicht, sondern hortete sie zuhause. Fand jemand aus seinem kleinen Freundes- und Bekanntenkreis Gefallen an einem seiner Werke, verschenkte er es großzügig. Kunst galt für Pinchas Litvinovsky als höchster Wert, er lehnte deren kommerzielle strikt Nutzung ab: „Das ist Prostitution“, pflegte der Maler zu sagen.

Den Lebensunterhalt bestritt er ausschließlich durch Auftragsarbeiten im Genre Portrait-Malerei. Unter den Porträtierten finden sich der Schriftsteller Chaim Nachman Bialik, Präsident Salman Schasar, der erste israelische Premierminister David Ben-Gurion, Mosche Dajan, Golda Meir, der Journalist Berl Katznelson, der Unternehmer Pinchas Ruthenberg sowie US-Präsident John F. Kennedy, um nur einige zu nennen. Seine wirtschaftliche Lage war oft sehr angespannt, Mäzene sprangen immer wieder ein und unterstützen ihn finanziell.

Musik als Inspiration

Pinchas Litvinovsky malte ausschließlich nachts und hörte dabei Musik. Das Thema Musik taucht in vielen seiner Werke auf. Die Serie „Der Geiger“ entstand in den 1950er Jahren. Inspiration fand Litvinovsky auf seinen Reisen durch Europa, auf denen er den kubistischen Musikergemälden Pablo Picassos und George Braques begegnete sowie der Abstraktion Joan Mirós und den farbigen Papierschnitten der „Jazz“-Serie von Henri Matisses.

Als Mittelpunkt seiner Musiker-Serie wählte Litvinovsky eine Geige, das Musikinstrument, das wohl am stärksten mit jüdischer Identität und Kultur assoziiert wird. Mit seiner Wahl knüpfte er auch an Marc Chagalls (1887–1985) Geigengemälde, die Klezmer-Bands von Emmanuel Mané-Katz und Werke anderer jüdischer Künstler der Pariser Schule an. Ihr stand Litvinovsky in den 1930er Jahren nahe.

Über die Jahre seines künstlerischen Schaffens veränderte sich Litvinovskys künstlerischer Stil zunehmend unter ihrem Einfluss: Vom anfänglichen Konstruktivismus und russischen Impressionismus über modernistische und expressive Strömungen bis hin zu formalen und farbenfrohen Abstraktionen in seinem späteren Lebensabschnitt. Traditionelle jüdische Themen, wie Synagogen und Rabbiner, interpretierte er neu. Zudem beschäftigte sich der Maler intensiv mit der Philosophie des Zen-Buddhismus und seinen ästhetischen Ausdrucksformen. In einigen seiner Rabbiner-Portraits ist der fernöstliche Einfluss deutlich erkennbar.

Auch als Zeichner war Pinchas Litvinovsky mit großem Talent gesegnet. In all seinen Schaffens-Perioden und unterschiedlichen Stilen war die Qualität seiner forschen zeichnerischen Linie ein beständiges und kontinuierliches Element.

„Ideen sind immer schädlich“

Immer wieder kramte Litvinosvsky abends alte Zeichnungen aus seinen überquellenden Kisten heraus, um sie in einem Spiel freier Farbtöne, in einem anderen Medium und Format, zu überarbeiten: „Für mich funktioniert die Hand besser als der Kopf“, sagte Pinchas Litvinovsky. „Ideen sind immer schädlich, in allem“, lautet eine weitere seiner Überzeugungen.„Kunst ist Liebe“, zitierte er seinen verehrten russischen Dichter Leo Tolstoi.

Der Maler rühmte sich für Zeichnungen, die er in zwanzig Minuten fertigstellte. Diese unmittelbare Sinnlichkeit garantiert – so die Überzeugung von Pinchas Litvinovsky – den anderen Inhalt, die „Liebe“, die Menschlichkeit, Eigenschaften, die von selbst zum Vorschein kommen würden, als Qualität eines Prozesses, der in der eigenen Lebenserfahrung und Persönlichkeit verankert ist. „Mensch-Zeichnung-Malerei-Prozess-Mensch“, lautete seine intuitive Formel.

„Ich bin erstaunt über das Ergebnis“

„Sehen Sie sich das an, heute habe ich ein Bild gemalt, obwohl ich beschlossen hatte, nicht zu malen. Ich bin erstaunt über das Ergebnis. Wie habe ich das geschafft? So sollte es sein“, lautet eine weitere überlieferte Aussage.

Der angestrebte Inhalt ist nicht im Voraus bekannt, er entsteht durch die Authentizität des Künstlers, der die Anregungen der figurativen Form nutzt, um die abstrakte Farbe zu beflügeln. Es ist ein spontaner Prozess, dessen Höhepunkt unbekannt ist, dessen Fundament jedoch solide und nicht zufällig ist. Er basiert auf der Kenntnis der Kunst und wurzelt in einer Malfertigkeit: ein Prozess, der sich in jedem Gemälde und während des gesamten Malprozesses vollzieht.

Pinchas Litvinovsky verfolgte aufmerksam die künstlerischen Entwicklungen im Westen und den USA, wusste aber, dass er seine Originalität nur dann voll entfalten und bewahren konnte, wenn er sich auf seine eigene künstlerische Unabhängigkeit konzentrierte. Er isolierte sich zunehmend auch gesellschaftlich, um völlig auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, umgeben nur von seinen Malfarben, Leinwänden, Papieren und der Musik, Nacht für Nacht.

Zum Anbruch eines jeden neuen Morgens ein neues Bild, obsessives Malen. Malen als ein Akt der Erkenntnis. Bei seinem Tode waren es 6,000 Gemälde und Zeichnungen.

Wenige Ausstellungen zu Lebzeiten

Im Jahr 1924 hatte Litvinovsky an der Ausstellung der „Hebräischen Künstlervereinigung“ im Davidsturm teilgenommen, so auch 1925. Er wurde in der Tageszeitung „Davar Hajom“ hoch gelobt.

Ein Jahr später entwarf und malte er das Bühnenbild für das von Gnessin inszenierte Theaterstück „Der Dibbuk“. Es folgten weitere Teilnahmen an Ausstellungen bis in die 1930er Jahre. 1944 feierte ihn das Tel Aviv-Museum in einer groß angelegten Einzelausstellung. 16 Jahren sollten vergehen bis zu einer nächsten. retrospektiven Einzelausstellung 1960 im Helena Rubinstein Pavillon. Sie umfasste 250 Werke.

A.D. Friedman schrieb seinerzeit in der Tageszeitung „Davar“: „Er (Litvinovsky) gehört keiner Schule an, er ist eine Schule für sich.“ Ob dieser Kommentar allein ausschlagend war, wir wissen es nicht, aber von nun an mied Pinchas Litvinovsky Ausstellungen, mit einer einzigen Ausnahme: Seine Gemäldeserie „Wurzel des Lebens“ wurde 1978 in der Galerie „Arta“ in Jerusalem gezeigt. Diese Serie spiegelt eindrücklich seine Suche nach dem Ursprung des Lebens und der Schöpfung.

Foto: Gundula M. Tegtmeyer
Im Laufe der Zeit sahen die Bilder eher wie Kinderzeichnungen aus – hier sind Kamele dargestellt

In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich Litvinovsky zunehmend auf die Kernmerkmale seiner früheren Bilder. Er reduzierte diese auf die Essenz von Farbe und Form. Sie vermitteln den Eindruck von Kinderzeichnungen. Der Einzelgänger gehörte zeitlebens keiner Künstlergruppe an und benannte oder datierte ­– bis auf wenige Ausnahmen – seine Kunstwerke in der Regel nicht. 1980 wurde er mit dem Israel-Preis für Malerei ausgezeichnet.

Nach seinem Tod forderte die Stadt Jerusalem die Räumung des Hauses. Seine Familie stand vor der Herausforderung, für 6.000 Gemälde ein neues Zuhause zu finden. Sie äußerte den Wunsch, die Sammlung vollständig zu erhalten und das Wohnhaus in ein öffentliches Museum für Litvinovskys Kunst umzuwandeln. Finanzielle Engpässe verhinderten jedoch die Verwirklichung dieser Vision.

Künstlerischer Nachlass verkleinert

Mehrere Bitten der Erben an die Stadt um Unterstützung für ein Museum blieben unbeantwortet. Die Stadt Jerusalem genehmigte lediglich, die umfangreiche Sammlung vorerst in einem einzigen Raum zu belassen, die anderen ehemaligen Wohnräume nutzte sie fortan selbst. Litvinovskys Familie sah sich gezwungen, den umfangreichen künstlerischen Nachlass erheblich zu verkleinern, was tragischerweise in der Zerstörung tausender seiner Werke gipfelte und sein Lebenswerk auf 600 reduzierte.

Pinchas Litvinovsky starb 1985 in Jerusalem am Vorabend von Rosch HaSchana, dem jüdischen Neujahrsfest. Er wurde 92 Jahre alt, seine letzte Ruhe fand der ruhelose Künstler auf dem Har HaMenuchot-Friedhof. Die Ausstellung „Du musst das Leben wählen – das ist Kunst“ zeigt eine repräsentative Auswahl jener 600 geretteten Werke.

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3 Antworten

  1. Ich habe noch mal mehrere andere Bilder im Netz recherchiert. ,,Ideen sind immer schädlich“, ist natürlich für einen Künstler eine verheerende Aussage. Wie er es gemeint hat, bleibt sein Geheimnis. Natürich ist die Idee Maßstab allen künstlerischen Schaffens, was sonst?
    Seine Arbeiten, die im Internet sichtbar waren, finde ich alle gut. Sie entspringen einem Sammelsurium von Vorbildern, auch wenn er sich dagegen sicher gewehrt hätte. Man erkennt ganz klar das Werk Marc Chagalls wieder, das von Max Beckmann, ebenso die Brücke Künstler E.L. Kirchner, E. Heckel, K. Schmidt -Rottluff und auch Matisse/Picasso. Der Unterschied dieser Vorbilder besteht aber darin, dass sie ihre Formwelten schon vor 100 Jahren entwickelt haben und zwar mittels Ideen.
    Der Künstler ist also ein Epigone, ein Nachzügler, ein Spätentwickler seiner Zunft, darum ist er kunsthistorisch nicht besonders interessant. So erklärt sich das Desinteresse an ihm. Die Bilder sind trotzdem eigenständig und nicht lediglich abgekupfert.
    Mit der Hand hat noch keiner gemalt, sondern immer nur mit dem Kopf. Auch diese Aussage hätte er besser unterlassen.

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    1. @Otto

      Autsch.
      Vielleicht lesen Sie Ihren Kommentar nochmals.
      Er klingt erstaunlich hochnäsig…
      Im Detail will ich ihn nicht bewerten.

      Aber gewiss würde es gut sein, wenn Sie Ihren Kommentar mit jemandem, der Ihnen wohlgesonnen ist, besprechen.

      Ein weites Lernfeld.
      Shalom
      HiOB

      0
  2. Dies ist eine ganz wunderbare Wiederentdeckung und Würdigung hoch interessanten und unkonventionellen künstlerischen Schaffens der Jishuv-Zeit und Israels der frühen Jahre. Vielen Dank der Avi Chai Stiftung den Künstler wieder aus dem Schatten der Vergangenheit zu holen.
    An Mane-Katz konnte (kann?) man sich im kleinen, aber feinen Haifaer Museum erinnern. In Ein Hod hatte Marcel Janco , der z.T. auch ähnlich wie Litvinovsky skizzierte/zeichnete , seinen Platz gefunden.
    Die frühe israelische Kunst sollte noch intensiver erforscht, beleuchtet und an sie erinnert werden. Manchmal ist sie erstaunlich aktuell.

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