„Die Wahrheit schreit zum Himmel“

Ein Holocaust-Überlebender berichtet aus seinem Leben. Wichtig ist ihm, dass Menschen seine Geschichte hören. Aber für noch wichtiger hält er die Lehren, die aus der Zeit der Schoa zu ziehen sind.
Von Israelnetz
Zvi Eyal Zikaron BeSalon

In Jerusalem liegt ein beißender Brandgeruch in der Luft. Der trockene Wüstenwind Scharaw sorgt für ungewöhnlich hohe Temperaturen im gesamten Land, die zu starken Feuern im Jerusalem Umland führten. Trotzdem sitzen am Mittwochabend in Jerusalem fast 200 Israelis auf Stühlen und dem Boden unter freiem Himmel im Garten.

Die israelische Naturschutzbehörde hat in ihren Garten eingeladen. Sie hat im historischen Viertel Rechavia und der Residenz der ersten Premierminister Israels ihren Sitz. Vor den Israelis sitzt Zvi Ejal an einem Tisch. Als Professor leitete er viele Jahre die chirurgische Abteilung im Krankenhaus Hadassa im Jerusalemer Stadtteil Ein Kerem.

Doch heute spricht der Professor nicht über Medizin. Er beginnt seinen Vortrag mit den Worten: „Es gibt ein Problem: Ich bin fast 100 Jahre alt.“ Die Anwesenden lachen. Ejal sagt weiter: „Doch es gibt ein noch größeres Problem. Ich soll mit Worten beschreiben, was nicht zu beschreiben ist.“

Die Zuhörer werden ernst. Der Rahmen für Ejals Bericht ist das Projekt „Sikaron beSalon, Erinnerung im Wohnzimmer“. Längst hat das Projekt in den Herzen der Israelis einen festen Platz. Allein am Jom Ha Schoa, dem israelischen Holocaust-Gedenktag, gibt es Hunderte Orte in Jerusalem, an denen Israelis ihre Wohnungen öffnen und Institutionen ihre Hallen. Allen ist gleich, dass es um das Gedenken an den Holocaust geht. In den Tagen davor und danach sind es zusätzlich nochmal ein paar Hundert Veranstaltungen.

Ein Schrei, der bis heute anhält

Ejal hält ein Bild hoch: Darauf ist „Der Schrei“ des norwegischen Malers Edvard Munch abgebildet. „Das bin ich“, erklärt er. „Es ist mein Schrei. Und ich schreie bis heute.“ Der Schrei gelte dem Unverständnis der Welt über die Schoa durch die, die sie nicht erlebt hätten. Selbst die bekannte Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem verstehe die Schoa nicht. „Es ist wichtig, danach zu fragen, wie diese Schrecken möglich werden konnten und was in der westlichen Kultur falsch lief, dass sie solche Taten hervorbrachte.“

Ejal wird 1925 als Harry Klafter im niederländischen Utrecht in eine jüdische Familie hineingeboren. „Mein Vater stammte aus Galizien und war glühender Zionist. Auch mein sieben Jahre älterer Bruder war Zionist und so war auch ich als kleiner Junge schon mit der zionistischen Idee vertraut.“ Sein großes Vorbild sei Chaim Weizmann gewesen, der spätere erste Präsident des Staates Israel. „Der war Chemiker und Zionist. Ich wollte werden wie er.“

Im Buch „Offene Türen“ ist Ejals Lebensgeschichte zu lesen. Es ist zuerst auf Niederländisch erschienen, inzwischen gibt es eine hebräische Übersetzung. Nach Veröffentlichung des Buches erzählte er in den Niederlanden an mehr als 30 Orten seine Geschichte, vor allem vor christlichen Israelfreunden.

Abitur im Arbeitslager

Im Alter von 16 Jahren sei er in ein Arbeitslager in Holland verschickt worden. In dieser Zeit habe er mit eisernem Willen und dank Beziehungen sein Abitur ablegen können. „Als die Deutschen nach Holland einmarschierten, wussten wir, was uns erwartet. Wir wollten vom ersten Tag an fliehen. Wir versuchten es auf einem Schifferboot, doch die holländische Gestapo schnappte uns sofort. Mein Vater kam ins Gefängnis, meine Mutter ins Lager Westerbork. Auch ich wurde dort im Januar 1942 hingebracht, doch sie schickten uns immer noch nicht nach Deutschland.“

Im Juni habe dann die Vernichtung der Deutschen begonnen. „Sie gingen sehr langsam vor und sagten dem Lagerkommandanten, dass sie vor allem starke Leute bräuchten. Meine Mutter wehrte sich energisch dagegen, dass wir getrennt würden und sagte: ‚Bis mein Mann aus dem Gefängnis kommt, bleibt mein Sohn mit mir zusammen.‘ Tatsächlich durfte ich bleiben und wir blieben noch einige Zeit zusammen.“

Ejal erinnert sich: „In einem großen Saal in Westerbork wurden Musicals und große kulturelle Veranstaltungen abgehalten, zu denen auch SS-Soldaten kamen. Am nächsten Tag wurden von dort Juden nach Auschwitz verschickt, die nie zurückkamen. Meinen Bruder erwischten sie mit gefälschten Dokumenten, und ich konnte ihm helfen, zu entkommen: Ich kannte einen Arzt, der ihm eine Spritze verpasste, sodass er 40 Grad Fieber bekam. Wir wussten, dass kranke Menschen nicht nach Auschwitz verschickt wurden.“

Der Überlebende erzählt vom Leistenbruch seiner Großmutter. Die Polizei habe sie in ein Krankenhaus außerhalb des Lagers gebracht und operiert. Danach sei sie nach Auschwitz geschickt und umgehend ermordet worden. „Mein Bruder und ich wussten: Genau das ist Teil der Täuschung: Du denkst, du befindest dich in einem rationalen System, du passt dich der neuen Realität an, doch es ist ein Todesurteil.“ Als die Nachricht kam, dass auch Ejal und sein Bruder nach Auschwitz deportiert werden sollte, durchschnitt er mit einer Schere den Stacheldraht des Lagers.

„Das war am 3. September“, erinnert sich Ejal. „Von dort sind wir geflohen.“ Drei Menschen hätten ihr Leben riskiert, um ihn zu retten. Er und sein Bruder hätten überlebt, seinen Vater habe er nie wiedergesehen.

„Die westliche Welt stellt sich nicht der Realität“

1947 sei er ins britiche Mandatsgebiet Palästina ausgewandert, doch bis heute treibe ihn die Frage um: „Wie kann es sein, dass die Menschheit nichts aus den Schrecken der damaligen Zeit gelernt hat?!“ Er erklärt es sich damit, dass sich die westliche Kultur bis heute der Realität verweigere. Weil die Demokratie auf Kompromissen beruhe, habe sich die westliche Welt niemals mit den Schrecken der Schoa auseinandergesetzt und sei deshalb auch nie zum Kern des Problems durchgedrungen.

„Um die Schoa zu verstehen, muss man verstehen, was davor geschah und dass die Menschen blind waren.“ Der jüdisch-russische Schriftsteller Wladimir Zeev Jabotinsky habe bereits in den 1930er Jahren die Menschen angefleht, Europa zu verlassen, aber die jüdische Führung wusste damit nichts anzufangen. „Die Welt legt sich einen Filter um Augen, Ohren und Mund, um die Wahrheit nicht sehen. Doch diese schreit zum Himmel.“

Zur Veranschaulichung hält Ejal ein Bild von den drei Affen hoch: Einer sieht nichts, einer hört nichts, einer sagt nichts. „Bis heute hat sich das nicht geändert. Die Welt ist blind, taub und stumm und ignoriert komplett die 59 Geiseln, die im Gazastreifen festgehalten werden.“ Stattdessen sprächen Studenten an Amerikas Universitäten und der kürzlich verstorbene Papst von einem Völkermord in Gaza. Demokratien hielten deshalb mit der Realität nicht mit, weil sie Kompromisse mit Menschen machten, mit denen keine Kompromisse zu machen seien.

Was er den anwesenden Studenten mitgeben möchte? Der Professor überlegt kurz und sagt dann nachdrücklich an die jungen Leute gewandt: „Es gibt nichts Schwereres, als sich der Realität zu stellen. Darum stellt euch ihr und nehmt Verantwortung wahr.“

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7 Antworten

  1. Immer wieder zum Weinen. Oma und Papa, Kind, waren Überlebende. Sie redeten nicht oder wenig über “ diese Zeit der Schlächter.“
    Das NIE MEHR zählt in der BRD nicht mehr.
    Siehe Anzahl Übergriffe. Shalom Israel. Shalom zu allen Israelfreunden. Danke. Danke auch zu Redaktion.✡💙🇮🇱

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  2. Professor Ejal hat Recht, man kann mit Worten nicht beschreiben, was nicht zu beschreiben ist. Wer noch nie Auschwitz, Bergen-Belsen, Yad Vashem… besucht hat (es gibt ja noch mehr), kann sich das Grauen nicht vollständig vorstellen. Wer nicht in der Lage ist, darüber Tränen zu weinen, kann nicht empfinden und das Empfinden nicht in Worte fassen. Bald werden die 100jährigen nicht mehr da sein. Dann gerät vieles in Vergessenheit und manchmal erfahre ich, dass das Interesse daran verloren geht. Bei meinem 1. Besuch in Yad Vashem saß ich dort im Aussenbereich mit einem Kloß im Hals und wartete auf meine Gruppe. Eine Teilnehmerin unterhielt sich mit jemandem und sagte dann, sie wolle nicht immer wieder hören und sehen, was die Nazis den Juden angetan hätten. Das war eine andere Generation, sie habe schließlich nichts damit zu tun. Ein älterer Herr stand von der Bank auf mit Tränen in den Augen und sagte: „Dann wollen sie sicher auch mit mir nichts zu tun haben.“ Ich lief ihm hinterher und wir umarmten uns weinend. Mit der Dame habe ich während der Reise nicht mehr gesprochen. Ich konnte es damals nicht, hätte mich mit ihr gestritten. Heute würde ich anders reagieren, habe eine Chance verpasst.

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    1. Liebe Ella,

      eine Chance verpasst? Sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort und gaben dem Mann Ihren Beistand! Das die Frau so reagiert hat, wie Sie es beschrieben haben lag wohl daran, dass sie noch nicht so weit war!? Immerhin war sie dort. Sie hatten einen Kloß im Hals! Diese Dame vielleicht/wahrscheinlich ebenfalls. Nur hat sie sich nicht getraut zu dem zu stehen, will sagen, zu ihrer Verantwortung und dass getan, was alle Menschen immer wieder tun, wenn sie mit Schuld konfrontiert werden. Sie brauchte vielleicht noch Zeit, um zu dem zu stehen, was sie zuvor wahrscheinlich überwältigt/geschockt hat!?
      Sie haben in der Situation „alles“ richtig gemacht!
      Sie haben sich von Gott gebrauchen lassen! ER hat sie gebrauchen können – für diesen Mann ❤️‍🩹.

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  3. Es ist wichtig, an das Unrecht der Menschheit zu erinnern, dieses ging von Deutschland aus: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan, aus der Todesfuge).
    Ich glaube, dass die damaligen Schrecken aufgrund der Prophezeiungen der Bibel sich heute nicht wiederholen, alle Welt muss sich mit dem Nationalsozialismus und dem Lied des Moses beschäftigen. Denn es war die schrecklichste Zeit der Jüdischen Geschichte, das böse Deutschland steht mehrfach in der Bibel, aber heute sind die Menschen so geschichtslos geworden und glauben auch selten an Gott.
    Wir brauchen in Europa eine intensive Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der bösen deutschen Geschichte, die es so in anderen Ländern NICHT gab. „Und wer da redet vom Vergessen und wer da redet vom Verzeihen, dem schlage man ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein.!“ (Bertold Brecht). Es ist der verkehrte Weg, die Geschichte zu verfälschen, das geschieht in anderer Hinsicht auch in USA und natürlich in RUS. Die Welt muss umkehren: Gott lieben, Wahrheit lieben, und KEIN Deutschland verherrlichen !

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  4. Ich bin ein Deutscher, in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ich glaube an den Gott der Bibel.
    Ich freue mich darüber, dass jeder Mensch anders ist, ein Einzelstück, von Gott gemacht! Wenn alle so wären wie ich, … eine merkwürdige Vorstellung!
    In Yad Vashem hatte ich ebenfalls einen Kloß im Hals. Fast unglaublich, aber eben nur „fast“, den das dort gezeigte ist geschehen!
    Menschen haben das Menschen angetan! Ich habe es als Schüler nicht erfassen können und ich kann es heute nicht! Liegt es am Bildungssystem, an der Kultur, oder in der Natur des Menschen!? Würde es etwas nutzen, wenn Menschen, die nach Deutschland kommen und bleiben wollen, es zur Bedingung gemacht würde, zum einen die deutsche Sprache gut zu lernen und zum anderen, mit diesen Sprachkenntnissen, die deutsche Geschichte!?
    Ich würde dies, wenn ich könnte, zur Minimalbedingung für eine Staatsbürgerschaft machen. Würde sich dadurch etwas ändern? Ich glaube schon! Würde es ausreichen!? Ganz sicher nicht!
    Und Gott sprach: „Lasst uns Menschen machen, in unserem Bild, nach unserem Gleichnis; …“
    Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bild Gottes schuf er ihn …
    Nirgendwo ist die Natur des Menschen so ausführlich und treffend beschrieben, wie in der Bibel!
    Sprache, Geschichte und das Wort Gottes!

    Ich wünsche euch von Herzen ❤️ Gottes Segen!

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  5. Der zunehmende Judenhass basiert auch in einem beachtlichen Umfang auf einer schleichenden Islamisierung von zahlreichen EU-Staaten. Sie wird gefördert durch Zuwanderung aus Ländern mit antisemitschen Einstellungen, durch höhere Geburtenrate in islamischen Familien als in christlichen und atheistischen und durch Konvertierungen zum Islam, welche unter anderem auch aufgrund von gesellschaftlicher Isolation beruhen. Das Problem mit der gesellschaftlichen Isolation hat teilweise schon vor 30 Jahren bestanden, ist in der Zwischenzeit noch 50mal schlimmer geworden.

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