Vermutlich hat der Machtkampf im Vielvölkerstaat Syrien heute noch nicht diese Ausmaße an Todesopfern erreicht. Aber das wissen wir nicht. Seit Wochen berichten Medien über 1.700 Tote durch die Unruhen in Syrien – wobei Aktivisten und Menschenrechtsgruppen täglich von Dutzenden neuen Opfern sprechen – mal ist die Rede von 300 Toten in einer Woche, mal von 50 an einem Ort an einem Tag. Dass auch renommierte Medien diese Zahlen nicht korrigieren, ist ein Indiz dafür, wie verschwommen die tatsächliche Informationslage ist.
Klar ist, dass die Machthaber in Damaskus schweres Kriegsgerät – Panzer und Artillerie – gegen das eigene Volk zum Einsatz bringen. Regierungstreue Truppen scheuen sich nicht, das Feuer auf demonstrierende Massen zu eröffnen. Am 28. Juni wurden über Facebook Bilder veröffentlicht, auf denen der syrische Dichter und Sänger Ibrahim Kaschusch die Massen anleitet zu singen: "Baschar raus! Baschar geh! Pack Deine Sachen! Raus! Du bist nichts als ein Dieb, der meine Brüder und meine Onkel bestohlen hat. Du bist ein gesuchter Mann in Hama! Raus, Baschar! Raus! Zur Hölle mit Dir und Deinen Leuten, Du Lügner! Wir werden das Blut der Märtyrer nicht vergessen!" – Wenige Tage später wurde der Leichnam von Kaschusch gefunden, verstümmelt, mit durchschnittener Kehle. Ihm waren die Stimmbänder herausgeschnitten.
So wie Anfang der 1980er Jahre der Präsidentenbruder Rifaat die Niederschlagung des Aufstands leitete, befehligt heute der jüngere Bruder des Präsidenten, Maher Assad, die militärischen Operationen gegen die eigenen Bürger. Im Unterschied zu damals werden die staatlichen Aktionen gegen die Aufständischen heute aus dem Ausland unterstützt: von iranischen Revolutionsgarden und von der libanesischen Hisbollah, die beide ein ureigenes Interesse am Fortbestand der Assad-Herrschaft haben. Und heute ist der Aufstand nicht auf die Islamistenhochburg Hama begrenzt. Mittlerweile brennt das ganze Land, von Latakia im Westen bis Dir az-Zor am Euphrat, vom nordsyrischen Aleppo bis Deraa im Grenzgebiet zu Jordanien.
Geheimdienst von der Stasi ausgebildet
Im März entließ Baschar al-Assad politische Gefangene und versprach den Notstand aufzuheben, der seit 1963 den jeweiligen Herrschern in der Arabischen Republik Syrien weitgehend freie Hand gegenüber ihrer Bevölkerung gab. Zuletzt hat Außenminister Walid al-Muallem freie Wahlen noch vor Ende des Jahres versprochen. Geändert hat sich de facto bislang nichts, und ob diese Versprechungen tatsächlich etwas ändern, bleibt offen. In Syrien herrscht seit Jahrzehnten ein Regime, das praktisch jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens kontrolliert. Der Geheimdienst wurde von der Stasi der DDR ausgebildet und funktioniert dementsprechend.
Syrien hat eine Schlüsselstellung im Nahen Osten, in vielfacher Hinsicht. Rein geografisch ist das Land ein Knotenpunkt, der den arabischen Raum mit der Türkei, dem Iran und Israel verbindet. Traditionell konkurrieren die Syrer mit den Ägyptern um die Hegemonie in der arabischen Welt. Spätestens seit dem Sturz Saddam Husseins im Zweistromland durch die Amerikaner ist dieser ernsthafte Mitbewerber um eine Vorreiterrolle unter den arabischen Völkern ausgeschaltet.
Ein Sturz des Assad-Regimes würde die von Israel so gefürchtete und viel beschworene Terrorachse Teheran-Damaskus-Hisbollah gefährden. Die Aleviten sind religiös eine Abspaltung vom schiitischen Islam und die Assads pflegen seit Jahren eine Zweckfreundschaft mit dem Iran und der schiitischen Hisbollah im Libanon. Ein Abtreten von Baschar al-Assad bedeutete sehr wahrscheinlich einen empfindlichen Schlag für den iranischen Einfluss auf den Libanon und die palästinensischen Autonomiegebiete. Die Unruhen in Syrien haben die religiösen Spannungen im benachbarten Libanon verschärft. Insider sprechen von der Gefahr eines neuen Bürgerkriegs im Zedernstaat. Alle Beobachter fürchten das Vakuum, das entstehen wird, sollte Baschar al-Assad stürzen. Niemand kann mit Bestimmtheit voraussagen, wer dieses Vakuum füllen wird. Wie eine schwarze Gewitterwand steht am politischen Horizont des Nahen Ostens der Einfluss der Muslimbruderschaft.
Baschar Assad wird wissen, dass seine Zeit begrenzt ist. Da sind nicht nur die schmerzhaften Sanktionen der Europäer und Amerikaner gegen die herrschende Elite in Syrien. Der Vorwurf, der Westen messe Libyen und Syrien mit unterschiedlichen Maßstäben, wird seine Wirkung auf das Verhalten der europäischen und amerikanischen Demokratien nicht verfehlen. Und jetzt haben auch die Arabische Liga, der Golf-Kooperationsrat und Saudi-Arabien deutlich ihr Missfallen über das Vorgehen des syrischen Diktators zum Ausdruck gebracht.
Die Abberufung des saudischen Botschafters aus Damaskus ist ein drastischer Schritt, der von Beobachtern als Zugeständnis dafür gewertet wird, dass die Saudis die Aufständischen in Syrien unterstützen. Dabei hat das Haus Ibn Saud ein ähnliches Legitimitätsproblem im eigenen Land, wie das Regime der Assads in Syrien. In Saudi-Arabien gibt keine Spur von Reformen, jede Opposition wird im Keim erstickt und vor wenigen Wochen sind noch saudische Truppen nach Bahrain einmarschiert, um dort eine Revolution zu unterbinden.
Weitere Potentaten werden fallen
Selbst die Russen, lange Zeit der stillschweigende Rückhalt und Fürsprecher der Aleviten von Damaskus im UNO-Sicherheitsrat, zeigen sich zunehmend unruhig. Das Blutvergießen nimmt unerträgliche Ausmaße an, und es lässt sich vor allem nicht verheimlichen. Das Ablenkungsmanöver in Richtung Israel, als Hunderte syrischer Palästinenser erfolgreich die ruhigste Grenze des Nahen Ostens auf den Golanhöhen in den Mittelpunkt des Medieninteresses rückten, einer der Demonstranten gar erst in Tel Aviv gefasst wurde, hat nicht funktioniert. Der nächste Dominostein in der Reihe der zum Fall bestimmten arabischen Potentaten, dürfte momentan Libyens Muammar Ghaddafi sein. Doch wenn der "Beduinenclown aus Tripoli" gefallen ist, wird es auch für weitere seiner Machthaberkollegen keinen Halt mehr geben, Baschar Assad allen voran.
Der Umgang der Militärs in Ägypten mit dem ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak und vor allem das Verhalten Europas und Amerikas gegenüber seinem ehemaligen besten Verbündeten in der arabischen Welt zeigt dem syrischen Präsidenten, dass er kaum attraktive Alternativen hat, als sich bis zum bitteren Ende mit allen Mitteln an der Macht festzuklammern. Dabei dürfte für einen Araber der drohende Tod nicht so schlimm sein, wie die mit einem Gerichtsverfahren verbundenen Demütigungen.