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Die „Mutter aller Demonstrationen“ – und ihre Hintergründe

Mehr als hunderttausend schwarz gekleidete ultra-orthodoxe jüdische Männer verstopften am Donnerstag der dritten Juniwoche 2010 die Straßen Jerusalems. In ihrer besten Sabbatkleidung hielten sie Spruchbänder in die Höhe: "Gefangene für die Heiligung des Namens Gottes!" Unkenrufe vom "Religionskrieg" und dem Ende der freien, israelischen Demokratie machen die Runde. Wie kam es dazu?

Vor etwa drei Jahren beschloss eine Gruppe von Eltern an der jüdisch-orthodoxen Mädchenschule „Beit Ja´akov“ in der Siedlung Emmanuel in Samaria einen separaten Zug einzurichten, den sie als „chassidisch“ bezeichneten. Hinter dieser Entscheidung stehen Spannungen zwischen „aschkenasischen“ Juden und der „sephardischen“ Tradition. Die Aschkenasen stammen aus Osteuropa. Die Sepharden kamen aus Spanien und prägen heute vorwiegend die Juden aus der arabischen Welt. Die chassidische Schule im Beit Ja´akov bekam einen separaten Eingang, eigene Klassenzimmer, einen getrennten Pausenhof, ein eigenes Lehrerzimmer und eine spezielle Schuluniform.

Das säkular orientierte Oberste Gericht des Staates Israel betrachtet diese Entwicklung in Emmanuel als Verstoß gegen das Gesetz, weil sie ethnisch diskriminiere, und forderte eine Schließung des chassidischen Zugs der Mädchenschule. Die chassidischen Eltern nahmen ihre Kinder sofort von der Schule und richteten eine „Piratenschule“ ein, ohne Autorisierung des Erziehungsministeriums. Später versuchten sie den Gerichtsbeschluss zu umgehen, indem sie ihre Kinder an andere aschkenasische Schulen im Land schickten – was das Ministerium zu verhindern suchte.

Gegenseitige Beschimpfungen

Vielleicht waren der eigentliche Auslöser persönliche Streitigkeiten, wie Insider andeuten, wobei die Parteien sich religiös-gesellschaftliche Reizthemen nutzbar zu machen wussten. Treibende Kraft hinter der Klage gegen die Chassidim vor dem Obersten Gericht war jedenfalls der sephardische Notar und Aktivist Joav Lalum und sein gemeinnütziger Verein „Noar KaHalachah“ („Jugend nach jüdischem Gesetz“). Gegen ihn wurde dann auch in den aschkenasisch-orthodoxen Vierteln Jerusalems auf „Paschkavils“, den typischen Wandzeitungen der Ultraorthodoxen, gehetzt: „Gottlose raus! Für Informanten gibt es keine Hoffnung!“ Überhaupt gehen orthodoxe Juden bei internen Auseinandersetzungen nicht unbedingt mit Samthandschuhen vor. So behaupten chassidische Eltern, ihre Töchter seien von sephardischen Mädchen als „Aschke-Nazis“ beschimpft worden. Die Aschkenasinnen blieben ihren orientalischen Kontrahentinnen allerdings nichts schuldig und konterten mit „Sephara-Dschukiot“ – „Sephara-Kakerlaken“.

Anfang Mai gab das Oberste Gericht den Streitparteien sieben Tage Zeit, einen Kompromiss auszuarbeiten, so dass die aschkenasischen Mädchen in ihre Schule zurückkehren könnten. Da monatelange Anhörungen, Entschlüsse und Vermittlungsversuchen nichts fruchteten, setzte das Oberste Gericht am 15. Juni den Hebel an, um eine Entscheidung herbeizuführen. Chassidische Eltern aus Emmanuel, die bis zum 16. Juni nicht schriftlich erklärt hätten, dass sie ihre Kinder in die reguläre Schule schickten, sollten ab dem 17. Juni für zwei Wochen ins Gefängnis gehen. Damit war der Auslöser für Massendemonstrationen gegeben. Die Wohnviertel zwischen Prophetenstraße und Bar-Ilan-Straße waren gesperrt. Der Rest der Stadt versank im Verkehrschaos.

Für die Chassidim geht es um „die Reinheit der Bildung“ für ihre Kinder – ohne Computer, Fernsehen, Filme etc. Sie werfen den Sepharden vor, dass diese „das Radio laut aufdrehen, Fernsehgeräte besitzen und am Sabbat rauchen“. Die Chassiden wollen ihre Kinder auf ihre Weise erziehen – und wenn Sepharden daran teilhaben wollen, seien sie willkommen. Für diese streng-gläubigen Menschen ist klar: Wenn das Oberste Gericht fordert, dass sie ihre Kinder in einer Weise erziehen, die nicht ihrem Glauben entspricht, werden sie sich dem widersetzen, denn: Die Torah, das Gesetz Gottes, steht über allen menschlichen Gesetzen einer Demokratie.

Als Beleg dafür, dass es ihnen nicht um rassische Diskriminierung geht, verweisen sie auf ein Viertel sephardischer Schülerinnen in der chassidischen Schule. Darunter alle Töchter von Rabbi Schimon Baadani, dem Leiter der jemenitischen Gemeinde in Emmanuel. Die sephardischen Gegner der Trennung behaupten, die Schülerinnen seien gekauft worden – was beispielsweise Rabbi Meir Elmaliach als blanken Unsinn zurückweist. Auch zwei seiner Töchter studieren bei den Chassiden, während er sich selbst der sephardischen Tradition verpflichtet sieht.

Schass-Partei hält sich zurück

Ein Indiz dafür, dass sie damit nicht ganz Unrecht haben könnten, ist die auffällige Zurückhaltung der Schass-Partei im Schulstreit von Emmanuel. Traditionell vertritt die Schass-Partei die sephardischen Orthodoxen. Bei ihrer Gründung 1984 war sie gegen die Diskriminierung der Nicht-Aschkenasen und für die Rechte der Orientalen angetreten. Beim aktuellen Streit zeigte sich Schass eigenartig wortkarg, bis sich ihr geistlicher Mentor, Rabbi Ovadja Josef, zu Wort meldete: Die Ankläger hätten die Sache gar nicht vors Gericht bringen sollen!

Die Slonim-Chassiden, auf deren Initiative der ganze Streit zurückgeht, sehen die Auseinandersetzung als eine „Schlacht für die Torah“ und verkündeten, sie würden stolz ins Gefängnis gehen. Sie sähen sich wie „die Hasmonäer in ihrer Revolte gegen Antiochus“ – meinte einer der Slonim-Chassiden in Anspielung auf den Makkabäeraufstand im 2. Jahrhundert vor Christus, als sich traditionstreue Juden gegen eine Zwangshellenisierung wehrten, und fügte hinzu: „Ich hoffe nur, dass die israelische Regierung mit den Hunderten von Kindern zurecht kommen wird, deren Eltern ins Gefängnis müssen.“ Bald schlossen sich den Slonim-Chassiden weitere, einflussreiche Strömungen innerhalb des ultra-orthodoxen Judentums an, so die Bratslaver und Gurer Chassiden. Wie extrem emotionsgeladen die Situation war, zeigt ein Zitat eines Chassiden: „Auch wenn wir ein oder zwei Jahre ins Gefängnis müssten, selbst wenn sie Gaskammern für uns bauten – würden wir doch Ja zur Torah und Nein zum Obersten Gericht sagen!“

Keine gewaltsamen Ausschreitungen

So begleitete die ultra-orthodoxe Gemeinschaft Israels 43 Väter von Töchtern aus Emmanuel am 17. Juni 2010 ins Gefängnis – im Rahmen der „Mutter aller Proteste“, wie vollmundig verkündet wurde. Die Mütter waren zu Hause bei den Kindern geblieben und hatten die Anordnung des Gerichts ignoriert. Befürchtete gewaltsame Ausschreitungen blieben aus. Die führenden ultra-orthodoxen Rabbiner hatten alle Talmudstudenten aufgerufen, ihre Studien zu unterbrechen, um an der Demonstration teilzunehmen – was ebenso präzedenzlos ist, wie die Entscheidung des Obersten Gerichts, die Eltern ins Gefängnis zu schicken. Auch an anderen Orten im Land mit einer großen ultra-orthodoxen Bevölkerung, wie etwa in Bnei Brak bei Tel Aviv, kam es zu Massendemonstrationen, die allesamt friedlich verliefen. Selbst der national-religiöse Rabbi Salman Melamed aus Beth El hatte seine Unterstützung für das Anliegen der Ultraorthodoxen zum Ausdruck gebracht und betont, dass die Trennung in Emmanuel tatsächlich nicht aufgrund ethnischer Vorbehalte geschehen sei.

Der ultra-orthodoxe Vizebildungsminister Meir Porusch (Vereinigtes Torahjudentum) kündigte an, er werde sein Büro vor die Mauern des Gefängnisses verlegen. Der stellvertretende Gesundheitsminister Ja´akov Litzman (Vereinigtes Torahjudentum) erklärte: „Diese Leute haben nichts falsch gemacht. Sie haben niemanden vergewaltigt und nichts gestohlen. Es gibt keinen Grund dafür, warum sie ins Gefängnis gehen sollten… Das Oberste Gericht hat eine Bildungsfrage genommen und zu einer Frage des Rassismus gemacht.“ Viele Ultraorthodoxe haben ein grundsätzliches Problem mit einem jüdischen Staat, bezeichnen ihn gar als Gotteslästerung – weil erst der Messias ein „Königreich“, das heißt, einen Staat aufrichten dürfe. Deshalb sind selbst die ultraorthodoxen Politiker, die sich aus praktischen Gründen mit dem Staat Israel arrangiert haben, nie „Minister“, sondern immer nur „Vizeminister“, selbst wenn sie de facto einen Ministerposten innehaben, wie etwa Ja´akov Litzman.

Ursprünglich war also die Auseinandersetzung um die Schule in Emmanuel rein „inner-orthodox“. Die Chassiden, die sich für die Reinheit des eigenen Bildungssystems engagieren, sind orthodoxe Juden. Die Sepharden, die angeblich dadurch diskriminiert werden, sind orthodoxe Juden – und eine nicht geringe Anzahl von ihnen anerkennt die „Überlegenheit“ des aschkenasischen Bildungssystems und schickt ihre Kinder dorthin. Und die Misrachi-Charedim, die die ganze Sache vor das Oberste Gericht gezerrt haben, sind auch orthodoxe Juden. Aber dieser innerorthodoxe Streit hat sich durch die Klage vor der staatlichen Jurisdiktion zu einem Zusammenstoß zwischen der Autorität des traditionell eher links-säkular ausgerichteten Obersten Gerichts der israelischen Demokratie und der Autorität der ultra-orthodoxen Rabbiner und der Torah, deren autoritative Auslegung diese für sich beanspruchen, entwickelt.

Schon am Tag vor der „Mutter aller Demonstrationen“ brannten in den ultra-orthodoxen Vierteln Jerusalems die Mülleimer. Die Ultraorthodoxen fühlen sich unter Druck – ganz unabhängig von den jeweiligen konkreten Auslösern: Gräber in Jaffa, antike Knochen in Aschkelon, der Wehrdienst für Talmudschüler, die staatlichen Stipendien für orthodoxe Schulen oder Autopsien in Jerusalem. Alle diese Fragen sind lediglich Aufhänger. Mittlerweile geht es nur noch um die grundlegende Frage der Identität des jüdischen Staates Israel. Selbst die Misrachi-Charedim – Ultraorthodoxe mit orientalischer Prägung -, die vor dem Obersten Gericht geklagt hatten, sollen sich nicht mehr wohl fühlen angesichts der Eigendynamik, die der Streit zwischen der säkularen Gerichtsbarkeit und den rabbinischen Autoritäten entwickelt hat.

„Hass auf Orthodoxe ist Konsens“

Jossi Sarid, langjähriger Knessetabgeordneter der links-zionistischen Meretzpartei und „Ikone“ der säkularen Israelis, schreibt: „Mit Leuten, die keinen Gott haben außer ihrem Vater im Himmel und seinen Vertretern auf Erden, kann man weder verhandeln, noch ein Abkommen schließen. Wir haben auch einen Gott, aber der ist auf Erden, in unseren Herzen und in unserem Gewissen. Wir haben auch einen Souverän – das Volk und seine gewählten, nicht gesalbten, Vertreter.“ So tobt in Israel tatsächlich ein Religionskrieg – zwischen denen, die ihr Leben kompromisslos nach dem Leitfaden der jüdischen Religion ausrichten wollen; und denen, die Demokratie und Humanismus göttliche Attribute zusprechen. Der ultra-links-liberale Journalist Gideon Levy hat schon Recht, wenn er schreibt: „Es gibt keinen größeren Konsens in der säkularen israelischen Gesellschaft, als den Hass auf die Ultraorthodoxen.“

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