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Meinung

Die Last auf Nachal Os

Am 7. Oktober 2023 überlebte der Journalist Amir Tibon das Hamas-Massaker im Kibbuz Nachal Os. Äußerst packend schildert er die dramatischen Geschehnisse und kombiniert sie mit historischen Einblicken. Eine Rezension
Von Sandro Serafin

Im Jahr 1956 hielt der damalige israelische Armeechef Mosche Dajan im Kibbuz Nachal Os, direkt an der Gaza-Grenze in Südisrael, eine Rede, die es zu einiger Berühmtheit brachte und die heute sogar einen eigenen englischsprachigen Wikipedia-Eintrag hat: Es war eine Trauerrede auf Roi Rothberg, den damaligen Sicherheitschef des Kibbuz. Rothberg war kurz zuvor in einem Hinterhalt von Arabern aus dem Gazastreifen ermordet worden – der erste Tote von Nachal Os.

„Rois Blut lastet nicht auf den Arabern von Gaza, sondern auf uns selbst“, führte Dajan nun am Grab des Ermordeten eine flammende Selbstanklage:

„Wie konnten wir die Augen verschließen, uns weigern, unserem Schicksal direkt in die Augen zu schauen und, in aller Brutalität, das Los unserer Generation zu erkennen? Haben wir vergessen, dass diese Gruppe junger Menschen, die in Nachal Os lebt, die schweren Tore von Gaza auf ihren Schultern trägt? Jenseits der Grenzfurche schwillt ein Meer aus Hass und Rache an, das nur auf den Tag wartet, an dem die Abgeklärtheit unseren Weg vernebelt.“

Wenn man diese fast 70 Jahre alte Rede heute liest, dann ist es, als wäre sie für die Gegenwart geschrieben, für das, was auch in Nachal Os am 7. Oktober 2023 geschah. Jenem historischen Punkt, an dem Israels Blick vernebelt war für die Gefahr, die sich auf der anderen Seite des Grenzzauns zusammenbraute – und die sich in der Folge in Form eines Massakers unvorstellbaren Ausmaßes über die Grenzkibbuzim ergoss. 

Tibon führt verschiedene Erzählstränge zusammen

„Die Tore von Gaza“: Dieser Ausdruck Dajans ist nun passenderweise über das Buch gesetzt, das der israelische Journalist Amir Tibon über den 7. Oktober 2023 in Nachal Os geschrieben hat. Auf knapp 400 Seiten Fließtext ist dem 35-jährigen Vater zweier kleiner Töchter eine überaus lesenswerte Darstellung gelungen, die uns das Grauen jenes Tages noch einmal vor Augen ruft. Das liegt zuallererst daran, dass Tibon authentisch schreiben kann: Seit 2014 lebte er mit seiner Familie in Nachal Os, überlebte am 7. Oktober das Hamas-Massaker in seinem heimischen Schutzraum, mit Frau und zwei Kindern.

Von seiner persönlichen Geschichte ausgehend gibt er einen im Wortsinne unglaublichen Einblick in das, was sich an diesem Tag im und um den Kibbuz herum abspielte. Gekonnt führt er dabei zahlreiche verschiedene Erzählstränge zu einem packend-dramatischen Gesamtpanorama zusammen. Jeder einzelne dieser Stränge könnte alleine ein ganzes Buch füllen, ob die Kämpfe des Sicherheitsteams im Kibbuz oder die Geschichten der Geiseln, die an diesem Tag in Nahal Os genommen wurden. Zwei Erzählstränge stechen jedoch heraus.

Da ist zunächst Tibon selbst mit seiner Frau und zwei Kleinkindern, zurückgezogen im abgedunkelten Schutzraum, ganze zehn Stunden lang, während draußen die Massen in den Kibbuz eindrangen. Durch die detaillierte Schilderung der Umstände wird der Horror für den Leser wenigstens im Ansatz erspürbar: die Gewehrschüsse der Terroristen, die sich von außen näherten; die kleinen Mädchen, die irgendwie über Stunden ruhig blieben mussten und die das erstaunlich gut schafften; die Luft, die irgendwann schwer erträglich wurde; das Internet, das zusammenbrach; die Terroristen-Leichen, die sich vor dem Haus sammelten.

Die unglaubliche Geschichte des Vaters

Der zweite wichtige Erzählstrang besteht aus der Geschichte, die Mutter und Vater des Autors an diesem Tag erlebten, oder besser: schrieben. Die beiden machten sich am Morgen jenes Schabbats eigenmächtig auf den Weg, um Sohn, Schwiegertochter und Enkel aus dem Terror zu retten. Es ist eine der Heldengeschichten jenes Tages, die zugleich das ganze Chaos deutlich macht, das über viele Stunden im Süden herrschte.

Auf dem Weg in den Kibbuz retteten Vater und Mutter Überlebende vom Nova-Festival, stießen auf unzählige Leichen auf der Straße, schloss sich der Vater schließlich israelischen Soldaten an, die ohne Kommando auf sich allein gestellt waren, und kämpfte mit Hamas-Terroristen, die am Wegesrand vor Nachal Os auf die erwarteten Einsatzkräfte warteten. Tibon schildert das alles detailliert und fesselnd. Es ist eine unglaubliche Geschichte von unfassbarer Dichte, die einem immer wieder den Mund offen stehen, den Atem stocken lässt.

Nachal Os war immer Frontort

Was das Buch darüberhinaus lesenswert macht: Der Autor beschränkt sich nicht darauf, die Geschichte des 7. Oktober in Nachal Os und Umgebung darzustellen. Vielmehr bettet er sie ein in eine Geschichte des Kibbuz von seinen Anfängen als militarisierter Grenzort bis in die jüngste Gegenwart, wobei diese Darstellung wiederum verwoben wird mit der israelischen Geschichte und vor allem der Geschichte des israelisch-palästinensisches Konflikts. Das alles nie abstrakt, sondern dargestellt am konkreten Beispiel, an den Menschen von Nachal Os.

Gerade aus dieser historischen Darstellung, deren eher linke Perspektive man nicht an allen Stellen teilen muss, blitzt wiederum das Leitmotiv der Dajan-Rede hervor: die „Tore von Gaza“, die seit jeher schwer auf Nachal Os lasten. Tibon zeigt zum Beispiel, wie sich das Verhältnis zu den Nachbarn im Gazastreifen über die Jahrzehnte zwischenzeitlich verbesserte, dann aber wieder verschlechterte: Nach der Eroberung des Gebiets durch Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 etwa war es völlig üblich, dass Israelis in Gaza einkaufen gingen. Eine wichtige Verkehrsader vom israelischen Be’er Scheva nach Gaza führte direkt an Nachal Os vorbei.

Der Autor macht aber auch deutlich, wie die Sicherheitsherausforderungen des Kibbuz nie aufhörten, die Bedrohung immer wieder eine neue Form fand: Bereits in den 1950er Jahren etwa drangen Fedajin aus dem damals noch ägyptisch verwalteten Gazastreifen über die noch unbefestigte Grenze. Anfang der 2000er Jahre begann dann der Raketenbeschuss, irgendwann kamen Terrortunnel. Immer war Nachal Os dabei ein Frontort, immer wieder gab es Leid durch Tod.

Wie geht es weiter?

Trotzdem überlebte und blühte der Kibbuz weiter, zogen nach wie vor neue Familien direkt an die Grenze. Und trotzdem waren es immer auch gerade diese Kibbuzniks, die sich ganz überwiegend im linken Lager wiederfanden, die für Jizchak Rabin stritten und Kontakt zu Palästinensern in Gaza hielten, die 2005 begeistert waren, als Israel sämtliche Siedlungen im Gazastreifen räumte und das Militär bis auf den letzten Soldaten abzog.

Hat der 7. Oktober das alles nach 70 Jahren nun verändert? Im Buch muss das offen bleiben. Autor Tibon wurde samt Familie nach Nordisrael evakuiert. Er weiß nicht, ob er wieder zurückkehren wird. Was aber durchscheint: Das monströse Massaker hat aus dem Linken keinen Rechten gemacht. Auch im Buch behält Tibon immer ausdrücklich die Palästinenser im Blick, kritisiert die israelische Kriegsführung, spricht von „Psychopathen und Egomanen“, die in Israel und bei den Palästinensern das Ruder führten.

Letztlich kann der Autor keinen hoffnungsvollen Ausblick geben: „Die Tore von Gaza“, so schreibt er ganz am Ende, lasteten nicht nur schwer auf den Schultern, wie es Dajan Jahrzehnte zuvor ausgedrückt hatte: „in den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden sie noch schwerer auf unseren Seelen lasten“.

Amir Tibon: „Die Tore von Gaza. Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und Hoffnung“, Jüdischer Verlag, 432 Seiten, 26 Euro, ISBN 9783633543366

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7 Antworten

  1. Shalom,Vielen Dank an die Redaktion für diesen sehr interessanten Bericht und Tip.Werde das Buch sofort bestellen.Ich habe hier auch einen Buchtip an unsere Israelfreunde:Titel-Im Morgengrauen von Carsten Ovens-ISBN 978-3-95565-668-3.Es ist eine Geschichte mit Kommentaren von Augenzeugen,Angehörigen von Geiseln,àrzte,Eltern,überlebenden des Super Nova Festivals und Soldaten,sowie Betroffene und Experten am 7.10.23.Erhältlich bei Hentrich&Hentrich. 165Seiten und Fotos.Ich hoffe Ihr liest es auch wie ich.Wünsche allen ein angenehmes-Simchat Tora und grüsse Euch Jerusalem

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  2. „In den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden sie noch schwerer auf unseren Seelen lasten“.
    Nach 42.000 Toten hat Israel nur die Rekrutierung von Überlebenden und Organisationen wie der Hamas angeheizt. Man kann die Pal nicht aus dem Gazastreifen herausholen, ohne schlimmer dazustehen als Südafrika oder Deutschland zu ihren schlimmsten Zeiten.
    Ohne die Lösung des Grundproblems wird sich die Geschichte wiederholen.

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    1. Vielleicht kann das Grundproblem gar nicht gelöst werden? Schließlich ist religiöser Irrsinn gepaart mit menschenverachtender Politik im gleichen Ausmaß gegen Israelis, Juden und gemäßigte Muslime nicht auszurotten. Das lehrt die Geschichte Israels seit 1948. Was die Kritker Israels (oder viemehr Hasser?) übersehen ist es gab bessere Zeiten, die begründeten sich aber auch auf einem militärisch strategischen Vorteil für Israel. *AM ISRAEL CHAI * Shalom
      PS Verteidigung ist NOTWEHR

      9
  3. Nicht lösbar, leider.
    Meine nachbarn hassen mich.
    Warum?
    Weil sie mich nicht mögen …
    Dagegen ist kein kraut gewachsen.

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