Die Cinematheque liegt etwas im Berghang versteckt, südlich der Jerusalemer Altstadt. Sie ist mit dem Fahrstuhl oder über die bequem flache Treppe zu erreichen. Jeden Juli findet hier das international renommierte Jerusalemer Filmfestival statt. Den Rest des Jahres ist es „nur“ das wichtigste Kino des Landes. Die Cinematheque hütet und pflegt in ihren Lagerräumen die unbezahlbaren Schätze des nationalen Filmarchivs: Über 30.000 originale Filmkopien schlummern im Bauch der Institution. Es ist das größte Archiv im Nahen Osten. Darunter befinden sich Aufnahmen, welche die Erfinder des Kinos, die französischen Brüder Lumière, Ende des 19. Jahrhunderts in Jerusalem, Jaffa und Bethlehem gemacht haben. Für die Chefin der Cinematheque, Noa Regev, macht die Lage bereits den ganz eigenen Charme der Institution aus.
„Manchmal“, sagt sie im Garten des Hauses sitzend, „kann man im angrenzenden Park Pferde sehen.“ Auch das Emblem des Filmfestivals zeigt majestätische schwarze Pferdefiguren. Regev kommt gerade aus einer Besprechung mit ihrem Team. In wenigen Tagen bricht sie zum wichtigsten Filmfestival der Welt in Cannes auf. In der heutigen Sitzung ging es wieder mal um die Rettung des Filmerbes. Die Digitalisierung der Filmklassiker hat oberste Priorität. Die Cinematheque hat sich dafür Spezialmaschinen angeschafft. Rolle für Rolle werden die Werke so in den Computer überspielt, um sie für die Nachwelt festzuhalten. „Wir rechnen noch mit zehn weiteren Jahren für diesen Prozess“, sagt Regev. 95 Prozent aller jemals gedrehten israelischen Spiel- und Dokumentarfilme befinden sich im Archiv.
Karten abreißen in Tel Aviv
Mit 31 Jahren übernahm Regev 2014 die leitende Funktion der Cinematheque, des Filmarchivs und des Festivals. „Ich habe mich in das Kino verliebt, als ich 16 Jahre alt war“, erzählt sie. „Ich begann, als Kartenabreißerin in der Tel Aviver Cinematheque zu arbeiten.“ Sie wollte nie Regisseurin oder Schauspielerin werden: „Eine Leidenschaft, Filme selbst zu drehen, habe ich nie verspürt. Es ist ein völlig anderer Bereich, wenn die Kunst auf die Zuschauer trifft.“
Nachdem sie beim Internationalen Studentenfilmfestival in Tel Aviv und für die Cinematheque in Holon gearbeitet hatte, promovierte sie an der Tel Aviver Universität. Sie zögerte zuerst, sich auf den Posten der Jerusalemer Cinematheque zu bewerben, weil ihr die Schuhe zu groß erschienen. „Aber es ist solch ein großes Privileg, für diese Institution arbeiten zu dürfen, dass man dafür bereit ist, viele Hindernisse zu überwinden“, sagt Regev.
Von 91-jähriger israelischer Pionierin inspiriert
Was sie nicht sagt, ist, dass die Cinematheque zu diesem Zeitpunkt in einer finanziellen Krise steckte und sich neu aufstellen musste. Ihre Vorgängerin, Alesia Weston, warf in weniger als einem Jahr das Handtuch. Einerseits war dieser Moment eine unglaubliche Chance für Regev, anderseits bedeutete er auch eine gewaltige Bürde: „Ich wusste, dass ich bei der Arbeit sehr fokussiert bleiben und mich von Macht- und Ego-Kämpfen entfernt halten musste.“ Eine wichtige Inspiration war für sie dabei auch die 2015 verstorbene Gründerin der Cinematheque, Lia van Leer. „Als ich dort zu arbeiten begann, war sie 91 Jahre alt“, erzählt Regev.
Lia van Leer widmete ihr Leben dem Film. Sie war eine Pionierin der israelischen Filmkultur. Bereits in den frühen 1950er-Jahren hielt sie mit ihrem Ehemann Wim Filmabende in ihrem Zuhause ab, bei denen es seltene Kostbarkeiten zu entdecken gab. Sie gründeten einen Filmklub in Haifa und reisten um die Welt, um die neuesten Filme nach Israel zu bringen. Aus van Leers persönlicher Filmsammlung erwuchs das nationale Filmarchiv. In den 1970er-Jahren legte sie die Grundsteine für die Jerusalemer Cinematheque. 1984 kam noch das eigene Filmfestival hinzu. 2004 erhielt sie für ihre Leistungen den prestigeträchtigen Israelpreis. Auch als sie ihre leitende Funktion abgab und fortan als Präsidentin der Cinematheque wirkte, war sie bis zu ihren letzten Tagen aktiv an den Planungen beteiligt.
Dieses Vermächtnis ist für Regev ein Ansporn: „Ich wusste, dass das Filmarchiv meine größte Herausforderung werden würde. Es ist unser bedeutendster Schatz.“ Auf Erfolge in den vergangenen Jahren angesprochen, ist es ihr ganz wichtig zu betonen, dass Errungenschaften des Filmarchivs oder des Festivals nicht ohne ihr „supertalentiertes“ Team möglich gewesen wären. Sie sagt bewusst „wir“, wenn sie davon erzählt, wie das Festival neue Besucherschichten erschlossen hat.
Filme kostenlos an die Stadtränder bringen
Im Kern sei das Festivalprogramm für Filmliebhaber gedacht. Aber sie haben das Projekt der fahrbaren Kinos entwickelt, bei dem zwei Trucks die neueste technische Ausstattung an die westlichen und östlichen Ränder der Stadt bringen, um Filme kostenlos zu zeigen. In diesem Jahr planen sie einen Cinema-Park mit Attraktionen und unterhaltsamen Filmen im Stadtzentrum. Außerdem hätten sie spannende Workshops für die Filmbranche mit internationalen Gästen etabliert, die sehr gut angenommen würden
Wenn Regev über die aktuelle Generation israelischer Filmemacher spricht, nennt sie keine Namen und Titel. Als Festivalchefin, die mit vielen der Regisseure befreundet ist, will sie niemanden bevorteilen oder vergessen. Aber sie hat einen Trend im israelischen Kino festgestellt: „Die spannendsten aktuellen Filme sind Debütwerke.“ Damit meint sie auch israelische Filme, die in den vergangenen Jahren beim Jerusalemer Festival große Preise gewonnen haben. Das waren zum Beispiel 2016 und 2017 der zauberhafte Trauerfilm „Ein Tag wie kein anderer“, das Vater-Sohn-Drama „Scaffolding“ (Baugerüst) und der berührende Liebesfilm „The Cakemaker“ (Der Tortenbäcker).
„Der Trend geht zu Filmen, die sich mehr mit sozialen als politischen Aspekten beschäftigen“, führt Regev aus. Die erste Hälfte des neuen Jahrtausends sei deutlich politischer gewesen. Es habe eine Sublimierung, eine Verfeinerung des Politischen stattgefunden. „Vielleicht zeigt sich daran auch eine Form der Selbstzensur der israelischen Filmemacher“, überlegt sie laut. Sie meint die Schere im Kopf. „Natürlich ist das Soziale auch immer politisch, aber es ist eine subtilere Form, sich damit auseinanderzusetzen“, sagt sie. „Ich denke noch darüber nach und bin mir noch nicht sicher.“
Bizarre „Foxtrot“-Debatte
Im September des vergangenen Jahres polterte die israelische Kulturministerin Miri Regev, die mit der Leiterin der Cinematheque weder verwandt noch verschwägert ist, gegen den israelischen Film „Foxtrot“. Das elliptisch erzählte Werk, das in Venedig den Silbernen Löwen gewann, schildert die Trauer eines Elternpaares, dessen Sohn bei einem Militäreinsatz ums Leben gekommen ist. „Der Film will die größte Feierlichkeit des 20. Jahrhunderts, den israelischen Staat, zerstören“, schrieb die Kulturministerin auf Facebook. Die Botschaft des Films spiele „auf dem Rücken der israelischen Soldaten den Staatshassern in die Karten“.
Bemerkenswert an der Äußerung der Likud-Politikerin, die früher als Pressesprecherin des Militärs gearbeitet hat, ist, dass sie den Film überhaupt nicht gesehen hatte. Das sorgte für internationales Aufsehen. „Um einen Film diskutieren zu können, sollte jeder, der in die Diskussion involviert ist, sehr vertraut mit dem Film sein“, sagt die Leiterin der Cinematheque zur Debatte.
„Filme sind Kunstwerke und sollten ästhetisch bewertet werden. Sie sollten loyal zu den Visionen ihrer Macher sein“, sagt sie. Das Positive an der Bemerkung der Kulturministerin sei, dass es eine lebhafte Diskussion über den Film gegeben habe, für den sich jetzt mehr Menschen interessierten: „Aber es gilt zu hoffen, dass diese Debatte die Filmemacher nicht nachhaltig bei ihren Visionen beeinflusst.“
Neue Frauen braucht das Land
Besonders freut sich Regev über die Entwicklung in der israelischen Filmindustrie, dass immer mehr Frauen involviert sind. Im vergangenen Jahr hatten sie mehr Regisseurinnen als Regisseure in der israelischen Filmsektion, obwohl sie nicht nach dem Geschlecht aussuchen. Es gibt offenbar eine breitere Auswahlmöglichkeit unter israelischen Filmemacherinnen. Dass auf dem Filmfestival in Cannes die Regisseurinnen immer noch an einer Hand abgezählt werden können, findet sie als Bewertung zu kurz gegriffen: „Es ist einfach, die Auswahl zu kritisieren. Es mag eine unpopuläre Meinung sein, aber die Auswahl eines Festivals sollte sich auf die künstlerische Leistung konzentrieren.“
Danach gefragt, ob es nicht verführerisch wäre, die Nachfolge des scheidenden Berlinale-Chefs Dieter Kosslick angeboten zu bekommen, sagt sie: „Natürlich wäre es das, ich verehre die Berlinale. Aber sicherlich haben sie einen geeigneten Nachfolger parat.“ Die Berlinale sei das Festival, das sie in ihrem Leben bislang am häufigsten besucht habe. „Es ist zugleich für die Filmindustrie und die Zuschauer attraktiv. Es hat die meisten Kinobesucher weltweit. Das ist eine große Leistung, das gleichzeitig zu erreichen.“ Berlin sucht also weiter, während sich Jerusalem glücklich schätzen kann, Noa Regev zu haben.
Von: Michael Müller