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Die Gnade des Schöpfers erleben

Am Versöhnungstag feiern Juden die Befreiung von der Last der Sünden durch ihren barmherzigen Gott. Beten und Fasten kennzeichnen diesen besonderen Feiertag, an dem das öffentliche Leben in Israel stillsteht. In diesem Jahr beginnt er am Dienstagabend.
An der Klagemauer bitten unzählige Juden Gott um Vergebung

Gottes Gnade gegenüber den Menschen steht im Mittelpunkt des Großen Versöhnungstages Jom Kippur. Juden feiern, dass der Schöpfer barmherzig ist und damit bereit, denen zu vergeben, die ihn darum bitten. Deshalb sind die Gottesdienste geprägt von den „Slichot“-Gebeten – den Bitten um Vergebung. Doch es geht auch darum, den Mitmenschen ihre Verfehlungen zu verzeihen.

Drei Wörter gibt es im Hebräischen für Vergebung: slicha, mechila und kappara. Im täglichen Leben ist in Israel oft „slicha“ zu hören, wenn jemand etwa um Verzeihung bittet für ein versehentliches Anrempeln im Gedränge. Das Wort „mechila“ kann neben der Vergebung auch das Graben eines Tunnels bedeuten, wenn beispielsweise Häftlinge auf solche Weise aus einem Gefängnis entfliehen. Übertragen heißt das: Wer einem Menschen vergibt, dass dieser ihn verletzt hat, ist von der damit verbundenen Last befreit. Der Ausdruck „kappara“ wiederum ist mit „kippur“ verwandt. Die Betonung liegt hier auf der Reinigung. Durch die Vergebung ist es so, als wäre die Tat nie geschehen. Das macht Versöhnung möglich.

Manche schlachten angesichts des Jom Kippur einen Hahn. Dieser geht quasi stellvertretend für den Menschen in den Tod. Die Zeremonie trägt den Namen „Kapparot“.

In den Tagen vor dem Versöhnungstag strömen nach Mitternacht zahlreiche Beter zum Bußgebet an die Klagemauer Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
In den Tagen vor dem Versöhnungstag strömen nach Mitternacht zahlreiche Beter zum Bußgebet an die Klagemauer

Bereits in den Tagen und Wochen vor Jom Kippur bestimmen das Streben nach Umkehr und die Slichot-Gebete das jüdische Leben. Viele versammeln sich nachts an der Klagemauer und in den Synagogen, um Gott um Vergebung für ihre Übertretungen zu bitten.

Festtag und Fasttag

Jom Kippur gilt als der Schabbat schlechthin. Von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang fasten Juden an diesem Tag. In der Synagoge wird das Buch Jona gelesen. Der biblische Prophet widersetzte sich Gottes Auftrag, den Menschen in Ninive eine Bußpredigt zu halten. Stattdessen bestieg er ein Schiff, das ihn möglichst weit in die westliche Gegenrichtung bringen sollte – nach Tarsis in Spanien. Doch Gott brachte ihn zur Umkehr, er predigte den Menschen in Ninive das Gericht, und sie ließen von ihren bösen Wegen ab. Die Stadt im heutigen Irak wurde nicht zerstört, weil Gott mit Gnade auf die Bußbereitschaft der Bewohner reagierte.

„Unter den Fasttagen nimmt der Versöhnungstag eine besondere Stellung ein, er ist Festtag und Fasttag zugleich.“ Dies schreibt der deutsch-jüdische Gelehrte Ismar Elbogen in seinem Buch „Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung“, dessen erste Auflage 1913 erschien. Der Jom Kippur am 10. Tag des Monats Tischrei schließt die zehn Bußtage zum Auftakt des jüdischen Jahres ab. In diesem Jahr beginnt er am Abend des 18. September.

In der von Joel Rappel herausgegebenen hebräischen Enzyklopädie „Mo’adei Jissrael“ (Die Feste Israels) heißt es: „Der zentrale Gedanke, der im Ursprung dieses besonderen Tages steht, ist die Gnade des Schöpfers des Menschen, der ihn aufruft, Buße zu tun und bereit ist, die Sünden desjenigen zu sühnen, der sich vor ihm reinigt.“

Slicha „bedeutet Verzeihung, die Vergebung von Sünden, die bei Gott zu finden ist (Psalm 130,4), die von seiner Barmherzigkeit erfleht wird (Daniel 9,9)“, merkt Elbogen an. „Gott hat den Menschen die Sündenvergebung verheißen und ihnen den Weg gewiesen, auf dem sie sie finden können. Er hat das Bußgebet gelehrt, das niemals ungehört verhallt; auf das Wort ‚Hilf, o Gott‘ antwortet er, so oft wir ihn anrufen (Psalm 20,10).“ So sagte denn auch der Jerusalemer Rabbi Jitzhak Naki gegenüber Israelnetz: „Es ist ein Tag der Freude, weil wir Sühne von Gott empfangen.“

Zusätzliche Gebete

Die meiste Zeit des Tages verbringen Juden im Gebet. Jom Kippur ist der einzige Tag, an dem sie fünf vorgeschriebene Gebete sprechen. Ohnehin üblich sind das Abendgebet (Aravit oder Ma’ariv), das Morgengebet (Schacharit) und das Nachmittagsgebet (Mincha). Wie auch an anderen Festtagen gibt es spezielle Zusatzgebete, die unter dem Begriff „Mussaf“ zusammengefasst werden. Einzigartig ist das Ne’ila-Gebet, das nach Mincha gesprochen wird. Es verdeutlicht unter anderem, dass der Mensch sich für ein Leben nach Gottes Geboten entscheiden kann.

In 3. Mose 23,26–32 heißt es: „Und der HERR redete mit Mose und sprach: Am zehnten Tage in diesem siebenten Monat ist der Versöhnungstag. Da sollt ihr eine heilige Versammlung halten und fasten und dem HERRN Feueropfer darbringen und sollt keine Arbeit tun an diesem Tage, denn es ist der Versöhnungstag, euch zu entsühnen vor dem HERRN, eurem Gott. Denn wer nicht fastet an diesem Tage, der wird aus seinem Volk ausgerottet werden. Und wer an diesem Tage irgendeine Arbeit tut, den will ich vertilgen aus seinem Volk. Darum sollt ihr keine Arbeit tun. Das soll eine ewige Ordnung sein bei euren Nachkommen, überall, wo ihr wohnt. Ein feierlicher Sabbat soll er euch sein und ihr sollt fasten. Am neunten Tage des Monats, am Abend, sollt ihr diesen Ruhetag halten, vom Abend an bis wieder zum Abend.“

Bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 nach der Zeitrechnung betrat der Hohepriester am Jom Kippur das Allerheiligste. Er opferte einen Ziegenbock und schickte einen zweiten in die Wüste, nachdem er ihn symbolisch mit den Sünden des Volkes Israel beladen hatte. Nach dem Verlust des Heiligtums in Jerusalem ersetzten jüdische Gelehrte das Opfer durch Gebete. Viermal wirft sich ein Jude am Versöhnungstag zu Boden, sonst wird im Stehen gebetet.

Viele Juden tragen an dem Fasttag weiße Kleider. Das erinnert auch an den Tod, der jederzeit eintreffen kann. In der Textsammlung, die dem Talmud zugrunde liegt, der Mischna, heißt es: „Kehre einen Tag vor deinem Tod um“ (Sprüche der Väter 2,10). Da niemand seinen Todestag kennt, enthielt dieser Satz die Aufforderung, jeden Tag so zu leben, als würde man am nächsten Tag sterben. Die einheitliche Kleidung soll zudem die Einheit des Volkes betonen.

Wenn Sportler auf Wettkämpfe verzichten

Wie in der Bibel geboten, steht das öffentliche Leben in Israel an diesem Tag still. Deutlich mehr noch als an einem gewöhnlichen Schabbat verzichten Juden auf das Autofahren, außer in Notfällen. Die freien Straßen bevölkern Kinder mit Fahrrädern, Skateboards und Rollschuhen. Säkulare Onlinezeitungen teilen mit, sie würden ihre Berichterstattung nach dem Ende des Fastens wiederaufnehmen. Selbst viele Juden, die sich als weltlich einstufen, gehen am Jom Kippur in die Synagoge und fasten.

Am Jom Kippur gehören die Straßen den Kindern Foto: Israelnetz/mh
Am Jom Kippur gehören die Straßen den Kindern

Immer wieder sorgen Sportler für Schlagzeilen, die sich weigern, am Versöhnungstag einen Wettkampf zu bestreiten. So brach der israelische Tennisprofi Dudi Sela im vergangenen Jahr ein Spiel vorzeitig ab, weil der Jom Kippur nahte. Er hatte die Organisatoren des Turniers in China vergeblich gebeten, das erste Spiel des Tages zu bekommen – dann hätte er es vor dem Fasttag beenden können. In diesem Jahr hat der israelische Reitsportler Rafael Dan Kramer seine Teilnahme an der Weltmeisterschaft im US-Bundesstaat North Carolina abgesagt. Er will am Jom Kippur keinen Profisport betreiben. Das Turnier hätte ihm die Möglichkeit geboten, sich für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio zu qualifizieren.

Unterschiedliche Bräuche

In der Zerstreuung haben Juden in verschiedenen Ländern besondere Traditionen entwickelt. So ist es bei Juden aus Babylonien, der Türkei und Griechenland üblich, vor dem Fasten ein besonderes, weißes Getränk zu sich zu nehmen. Die Karäer, die sich in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends vom rabbinischen Judentum abgespalten haben, kleiden sich in Sack und Asche. Ferner beten sie barfuß. Ihr Gebet endet mit den Worten, die sonst aus der Liturgie für Pessach bekannt sind: „Nächstes Jahr in Jerusalem“.

Bei den Samaritanern ist niemand vom Fasten ausgeschlossen, selbst Kinder und stillende Frauen nicht. Das Leiden der fastenden Babys und Kinder sei ein großer Teil der Qualen der Jugendlichen und Erwachsenen, heißt es in der Enzyklopädie zu den Festen Israels. Das Gebet in der Synagoge währt vom Abend bis zum Abend. Eine Unterbrechung ist allein durch eine Beschneidung möglich. Nach dem Fasten kehren die Samaritaner nach Hause zurück. „Dort wartet ein großer Tisch, beladen mit allem Guten, wahrhaft ein königliches Mahl.“

Das traditionelle Widderhorn, der Schofar, verkündet das Ende des Feiertags. Gott besiegelt in diesem Augenblick nach jüdischer Auffassung sein Urteil über das weitere Leben der Betenden. Wie auch am Schabbat kennzeichnet das Havdala-Gebet, das zwischen Heiligem und Weltlichem trennt, den Beginn des Alltags. Nun beginnen die Fastenden wieder mit Essen und Trinken. Manche fangen schon an, die Laubhütte für das bevorstehende Sukkot-Fest zu bauen.

Jom-Kippur-Krieg: Überraschungsangriff am Fasttag

Vor 45 Jahren, am 6. Oktober 1973, griffen arabische Truppen während des hohen Feiertages Israel an. Trotz der Überraschung konnten die Israelis den Krieg am Ende für sich entscheiden. Er ging als Jom-Kippur-Krieg in die Geschichte ein, Araber nennen ihn „Oktoberkrieg“.

Von: Elisabeth Hausen

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