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Die Bombe und die Frage nach dem „Warum?“

In diesem Jahr feiert „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ (ASF) 60-jähriges Bestehen. Das Engagement für Frieden führt Freiwillige auch nach Israel, wo sie Überlebende der Scho‘ah treffen oder in Gedenkstätten arbeiten. Bei zwei Ehemaligen hat der Dienst in Israel neben einer Freundschaft auch Narben hinterlassen.
Daniel Gaede (links) war Pädagogischer Leiter der Gedenkstätte Buchenwald. Thomas Höke ist Ausbildungsleiter der „Initiative Jugend und Berufsbildung“ in Gießen.

Die beiden Männer in den 60ern verbindet eine Bombe. Und die Erinnerung an den 26. April 1978. Damals parkt der Bus auf einem Platz in Nablus. Darin sitzen 34 junge Deutsche. Es sind Freiwillige der „Aktion Sühnezeichen“, die nach einer viertägigen Exkursion in den Norden Israels und einem Zwischenstopp in Nablus auf die Rückfahrt nach Jerusalem warten. Unter ihnen ist Daniel Gaede.

Nach dem Zivildienst arbeitete er ab 1977 als Freiwilliger in einem Kibbutz, dann im Archiv der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, danach in einem Kinderheim und einem Krankenhaus in Nazareth. Er sieht noch, wie an jenem 26. April ein junger Palästinenser seine selbstgebastelte Bombe durch ein offenes Fenster auf den freien Sitzplatz hinter ihm in den Bus wirft. Die Rohrbombe, sie ist gefüllt mit abgesägten Nägeln, verletzt den jungen Mann schwer. Er verliert das Bewusstsein. Über Wochen werden israelische Ärzte im Krankenhaus um das Augenlicht kämpfen. Ein Auge bleibt blind, das andere schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Seinen Bruder, der zum Zeitpunkt des Attentats zu Besuch in Israel ist und mit im Bus sitzt, wird Daniel dennoch nicht wieder sehen. Christoph Gaede schafft es noch nach draußen, dann bricht er tödlich verwundet zusammen. Mit ihm stirbt eine junge Frau, Susanne Zahn aus Vaihingen an der Enz, die als Freiwillige in einem Jugenddorf arbeitet. Vier weitere Freiwillige werden schwer verletzt. Die Bombe war unmittelbar neben Zahn auf den Sitz gefallen. Dort hätte auch Thomas Höke sitzen können. Höke reiste damals zur gleichen Zeit wie Daniel Gaede mit ASF nach Israel. Der Spandauer arbeitete dort zunächst in einem Kibbutz, dann in der Zentrale von „Aktion Sühnezeichen“ als Hausmeister und Koch in Jerusalem.

Weil das Team das Haus während der Exkursion nicht alleine lassen will, losen er und Hausleiterin Agathe, wer da bleiben muss. Höke hat Pech. Oder Glück? Jedenfalls kann er nicht mit auf den Kurztrip und bleibt im Gästehaus „Beit Ben Jehuda – Haus Pax“ in Jerusalem. Höke sagt rückblickend: „Ich habe dann sehr schnell begriffen, dass der christliche Glaube kein Zufall ist.“ Die Gruppe der Opfer gehörte zu seinen Freunden. „Da hätte ich sicher dabei gesessen“, vermutet er.

Die Frage nach dem Sinn

Nach dem Anschlag ist für Gaede nicht klar, wie es für ihn weitergeht. Er fragte sich, ob ASF den Mut hat, den Vorfall so zu beschreiben, wie er aus seiner Sicht war – nämlich als „eine politische Aktion“. Er befürchtete, ASF würde den Anschlag als Schicksalsschlag herunterspielen, was dann aber nicht geschah. Gaede hält es nicht für hilfreich, den Anschlag als „sinnvoll“ oder „sinnlos“ zu beschreiben.

„Im Rückblick fügt sich sehr viel zusammen. Es ist viel mehr die Frage, welche Kräfte und Unterstützung bekommt man, um damit umzugehen, damit es etwas Sinnvolles wird“, sagt er heute. Höke weiß nicht, ob der Anschlag einen Sinn hatte. „Der erschließt sich mir auch nach 40 Jahren noch nicht.“ Als gläubiger Christ will Höke einfache Erklärungen und vereinfachte Ursache-Wirkung-Muster nicht akzeptieren. „Es wird die Zeit kommen, da wird man es erfahren.“

Höke ist der Meinung, dass beide Seiten ihr Recht hätten. Israels einstige Premierministerin Golda Meir habe diesen Gedanken formuliert. Hat das Erlebte die jungen Männer einst in ihrem christlichen Glauben bestärkt? „In der langen Perspektive würde ich sagen: Ja, weil das meine hauptsächlichen Wurzeln sind. Aber ich habe auch in der Zeit Christen kennengelernt, mit denen ich nichts anfangen konnte“, sagt Gaede. Höke hatte das Gefühl, getragen zu werden. In ihrer Gruppe habe es einen entschiedenen Christen gegeben, der sei „ins Heilige Land“ gefahren und habe die Bibel fast immer dabei gehabt. Nach dem Anschlag habe der sofort gesagt: „Dein Wille geschehe.“ Das sei dessen Einordnung gewesen.

Die Mitglieder der Gruppe hätten unterschiedliche Formen gefunden, um mit dem Ereignis umzugehen. Was den Anschlag damals und den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern heute angeht, ist Geade kein Freund einfacher Erklärungen. Ihn stört das Rechthaberische der Konfliktpartner. „Entlasten – in dem Sinne, dass keine Seite anders kann – oder Verurteilen, beides hilft nicht weiter.“ Für Gaede ist „Gewalt ein Ausdruck von Schwäche, weil man sich sonst nicht durchsetzen kann und gehört wird“. Ihm geht es auch nicht um Rechtfertigung oder billiges Verständnis, sondern darum, durch die Beschäftigung mit dem Konflikt einen Ausweg zu finden.

Hilfe von Holocaust-Überlebenden

Nach dem Anschlag kümmerten sich auch Holocaust-­Überlebende vor Ort um die deutschen Opfer. Gaede empfindet das rückblickend als Glück. „Wer Auschwitz überlebt hat, weiß, dass ein Opfer Hilfe benötigt, nicht Mitleid, um selbst wieder auf die Beine zu kommen.“ Zurück in Deutschland studierte Gaede Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konflikt­forschung. Von 1996 bis 2014 war er Pädagogischer Leiter der Gedenkstätte Buchenwald. „An der Stelle hatte ich viel mit den eigenen Erfahrungen zu tun“, sagt er. Als Überlebender eines Attentates habe er im Bezug auf Überlebende der Sho‘ah eine andere Gesprächsebene als jemand, der sich mit Opfersituationen rein wissenschaftlich beschäftigt habe.

Der Gedenkgottesdienst für die Opfer findet 1978 wenige Tage später am 30. April zeitgleich in Jerusalem und in Berlin statt. 20 Jahre zuvor war an dem Tag in Berlin „Aktion Sühnezeichen“ im Rahmen der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland ins Leben gerufen worden. Die Initiative von Lothar Kreyssig wurde ein Mosaikstein für die kirchliche Aussöhnungsarbeit nach dem Versagen der protestantischen Kirche während des Nationalsozialismus. ASF bat darum, den von der Vernichtung bedrohten Völkern und Menschengruppen Hilfe leisten zu dürfen. Dazu entsendet der Verein in der Weiterführung seines Gründungsaufrufes bis heute Freiwillige zu Diensten in Länder West- und Osteuropas sowie nach Israel. Damals habe ASF durchaus auch Sympathien für kommunistische Friedensmotive gehabt, sagen Gaede und Höke.

„Wir sind da nicht blauäugig hingeschickt worden.“

Auf ihren Dienst in Israel und damit in einem Konfliktgebiet waren die beiden Freiwilligen vorbereitet. „Wir sind da nicht blauäugig hingeschickt worden“, sagt Höke, und weiter: „Das konnte uns niemand in der Theorie erklären. Das musste erlebt werden.“ Die politische Situation im Lande war nicht beherrschend in der Vorbereitung auf den Dienst in Israel. Für Höke war es die Zeit in Auschwitz, um sich auf das einzustellen, womit er zu tun haben würde – Überlebende der Scho‘ah.

„Der Konflikt mit den Palästinensern stand für uns junge Leute hinten an“, erinnert er sich. Damals, als die Einladung nach Nablus ausgesprochen wurde, habe keiner mit Problemen gerechnet. Auch nicht die israelischen Freunde. „In den Konflikt ist man so hineingewachsen“, sagt Höke. Seine Eltern, erinnert er sich, hätten damals von Anschlägen im Land früher gewusst als er vor Ort.

Mit dem Trauma des Anschlags gingen die Freiwilligen unterschiedlich um. Gaede erhielt im Krankenhaus Besuch von einem Mann. Der sagte: „Ich bin dein Vater.“ Es war Simcha Holtzberg, ein Jude, der das Warschauer Ghetto überlebt hatte und es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, alle Menschen, die in Kriegshandlungen verletzt worden waren, zu unterstützen. Eigentlich hätte Holtzberg durch eigene Erfahrung völlig deprimiert sein müssen, findet Gaede, aber er „war mit sich und seiner Geschichte klar gekommen“, hatte wieder Vertrauen in andere Menschen entwickelt.

Einige der Gruppe kämen bis heute nicht zurecht und wollten nicht erinnert werden. Andere würden nun, nach 40 Jahren, mit einer Therapie anfangen. Gaede will sich nicht auf die Rolle eines Opfers reduzieren lassen. „Jeder hat Verantwortung für sein Leben“, sagt er. Es gehe darum zu erkennen, an einer Situation selber auch Anteil zu haben. „Das führt dazu, sich nicht wehrlos zu fühlen.“

Gebet für die Mörder

Höke ist sich unschlüssig, ob der Anschlag vergeben werden kann. „Ich kann das nicht beantworten. Was den Tod von Susanne und Christoph angeht, steht mir das nicht zu.“ Vergebung setzt seiner Auffassung nach ein Eingeständnis der Schuld voraus beim Gegenüber. Er erinnert sich an den Gedenkgottesdienst. Darin hatte Jürgen Strache, der Chef von ASF Israel, im Fürbittengebet in der Erlöserkirche in Jerusalem für Einsicht bei den Mördern gebetet. „Wir haben ganz bewusst für die Mörder gebetet“, sagt Höke. Das sei ASF im Nachhinein negativ ausgelegt worden.

Er erinnert sich an einen Zeitungstitel: „Opfer beten für ihre Mörder!“ Ihm sei damals der Gedanke gekommen: „Ja, und das war so wichtig, dass wir genau das getan haben. Genau das!“ Seitdem ist sein Verhältnis zur Presse gespalten. Der Artikel, der sich angeschlossen habe, sei voller Polemik und Unverständnis darüber gewesen, dass man für Erkenntnis und Gnade für Mörder bitte. „Das fand ich abgrundtief.“ Gaede war frei von „Hass und Gebundenheit an den, der die Bombe geworfen hat“. Auch die Fixierung auf die Frage „Warum hat er mir das angetan?“ führt seiner Meinung nach in eine Sackgasse.

Kritischer Blick auf die Berichterstattung in deutschen Medien

Die Berichterstattung in den deutschen Medien über Israel beurteilen beide heute noch kritisch. Höke findet sie teilweise populistisch, einseitig und wenig reflektiert. Sie sei „unglaublich dem Zeitgeist unterworfen“ und spiegele kaum die Realität wider. Höke will da keine Ausnahme gelten lassen. „Die Berichterstattung ist auf den Leser ausgerichtet und das, was er hören will.“ Es werde nur das Nötigste berichtet ohne den Anspruch, Hintergrundwissen aufzubauen.

„Berichte sagen oft mehr über die Berichterstatter, als über das, was sie berichten“, sagt Gaede. „Zum Glück“, findet er, gebe es „israelische und palästinensische Quellen, wo man mehr erfahren kann“. Gaede erkennt eine Scheu, sich differenziert in den Medien mit den Themen und Konflikten im Nahen Osten auseinander zu setzen. Als Grund sieht er eine Form des „Schweigens aus Schuld“ und der Frage dahinter: „Dürfen Deutsche Israels Politik kritisieren?“

Dass der Konflikt im Land von außen gelöst werden kann, glaubt er nicht. Es brauche Abkommen auf der Basis der Menschenrechtskonventionen, die für alle involvierten Parteien gleich gelten. „Vertrauen“ sei das Schlüsselwort. „Leider macht man sich leicht unbeliebt, wenn man Menschenrechte für alle fordert.“ Noch heute hat der 26. April außergewöhnliche Bedeutung für beide: Er beginnt immer mit Erinnern und Gedenken. Höke wird später an diesem Tag zum Prädikanten ordiniert. Gaede hat zwei Tage vorher Geburtstag. Am 26. April darf er noch mal feiern. Es ist so etwas wie sein zweiter Geburtstag

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 5/2018 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/915152, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online.

Von: Norbert Schäfer

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