BERLIN / JERUSALEM (inn) – Ein besonderes Tagebuch ist seit dem heutigen Donnerstag im Deutschen Historischen Museum zu sehen: Die ungarische Jüdin Sheindi Serena Miller schrieb es mit 14 Jahren unter anderem im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau – und schaffte es, die 54 Seiten vor den Nationalsozialisten zu verstecken. Heute lebt sie in Jerusalem.
Sheindi (gesprochen Shindi) wurde am 8. Mai 1945 mit ihrer älteren Schwester Jitti von der Roten Armee befreit. Damals befanden sie sich im niederschlesischen Reichenbach nahe Peterswaldau. Ihre Aufseher hatten sich zwei Tage zuvor aus dem Staub gemacht. Es gelang den beiden, in ihre ungarische Heimatstadt Galanta zurückzukehren, die heute zur Slowakei gehört. Doch ihre Eltern sowie zwei Brüder und die jüngere Schwester Dori waren von den Nazis ermordet worden. Zudem waren die beiden älteren Brüder an der Ostfront gefallen.
Die ermordeten Menschen nicht vergessen
Das kostbare Tagebuch mit den Notizen aus Auschwitz hielt Sheindi 74 Jahre lang unter Verschluss, nur ein paar enge Vertraute durften an den Erinnerungen teilhaben. Doch dann wurden Reporter der „Bild“-Zeitung auf ihre Geschichte aufmerksam und besuchten sie im vergangenen Jahr in Jerusalem. Die heute 90-Jährige entschied, ihr Tagebuch zu veröffentlichen. Auch eine Video-Dokumentation gibt es mittlerweile über sie. „Bald werde ich sterben und ich will nicht, dass man die Menschen vergisst, die ermordet worden sind“, erklärte sie der „Bild“-Zeitung ihre Beweggründe.
Am 20. April 1944 rollten Truppen der SS in Galanta ein. Kurz darauf wurde Sheindi mit ihren Eltern Leopold und Cecilia Ehrenwald sowie den Geschwistern, die nicht im Krieg kämpften, deportiert. Die 14-Jährige vermerkte in ihrem Tagebuch: „Die Tür knallt laut zu. Ich höre die Schlüssel im Schloss. Ein Stück Papier wird darauf geklebt und abgestempelt. Ich drehe mich um und die Tür ist für immer verschlossen. Sie wurde abgeschlossen und wir verjagt. Von dem Ort, den mein Vater kaufte. Ein Stück meines Herzens wurde gebrochen.“
Sheindi riss später die Seiten aus ihrem Tagebuch und verbarg sie unter ihren Kleidern. In der Baracke in Auschwitz nutzte sie dafür Löcher in der Wand. Ihre Eltern und die beiden deportierten Brüder wurden vermutlich sofort ermordet. Sheindi und die damals 20-jährige Jitti kamen nach ihrer Ankunft in die Baracke. Über die Kleiderverteilung schrieb sie: „Ich kriegte ein schwarzes Webkleid, das mit bordeauxrotem Samt kombiniert war. Wie ich aussah, kann ich gar nicht beschreiben. Es war eng, ein langes, dickes Ding, furchtbar. Wenn ein Antiquitätenhändler vorbeischaut hätte, hätte er es zu seinem alten Zeug geschmissen.“
Die zwölfjährige Schwester Dori weckte das Interesse von Doktor Josef Mengele. Ihr wurden nicht die Haare abrasiert, und sie erhielt ein besonders schönes Kleid. Ein paar Tage behielt sie der heute für seine berüchtigten Experimente bekannte Lagerarzt in der Krankenstation. Als sie zu ihren Schwestern kam, schwieg sie über ihre Erlebnisse. Später wurden Sheindi und Jitti für die Zwangsarbeit in Niederschlesien ausgewählt. Dori blieb in Auschwitz, wo sie verhungerte oder erfror.
„54 Seiten unfassbaren Grauens“
Bei der Rüstungsfirma Karl Diehl nahm Sheindi Laufkarten für die Dokumentation der Produktionsvorgänge an sich, auf die sie ihre Tagebuchaufzeichnungen übertrug. Dann warf sie die ursprünglichen Zettel in die Latrine und versteckte die Abschrift unter dem Stroh ihrer Pritsche. „Bild“ spricht von „54 Seiten unfassbaren Grauens“ und stellt fest: „Sie sind Sheindis Vermächtnis.“ Die Überlebende selbst weiß nicht, wie sie es damals geschafft hat, das Tagebuch zu schreiben, obwohl es so gefährlich war. Aber es war ihr wichtig.
In der Dokumentation liest Lea van Acken die deutsche Übersetzung von Ausschnitten aus dem Tagebuch. Sie spielte im Film „Das Tagebuch der Anne Frank“ von Hans Steinbichler die Hauptrolle. Die Synchronisation der alten Sheindi Miller-Ehrwald hat die Schauspielerin Iris Berben übernommen. Ihr Kollege Christian Berkel ist der Sprecher. Er hat im Roman „Der Apfelbaum“ die Geschichte seiner jüdischen Mutter und der Familie verarbeitet.
Das Tagebuch erzählt auch vom Einmarsch der deutschen Truppen und von der Deportation. Berben sagte gegenüber „Bild“: „Es ist ein Stück Geschichte, das so besonders intensiv wahrgenommen werden kann, weil es durch Sheindi noch bei uns ist. Wir erleben jemanden, der dieses Grauen als junges Mädchen erlebt hat und in seine Worte fasst. Dadurch wird es so fühlbar schmerzhaft.“
Gegen Holocaustleugnung: „Es ist geschehen!“
Wenn Sheindi hört, dass jemand den Holocaust leugnet, koche sie vor Wut, sagt sie in der Dokumentation. „Es ist geschehen!“ Am Morgen nach ihrer ersten Nacht in Auschwitz hätten sie draußen Rauch gerochen – und hatten Angst, lebendig verbrannt zu werden. Ein Mädchen habe gefragt, was los sei. Darauf habe ein Soldat geantwortet: „Jetzt werden eure Eltern verbrannt.“
Doch Sheindi fand eine neue Heimat: 1949 wanderte sie mit ihrem Ehemann nach Israel aus. Ihre Tochter Dori kam bald darauf zur Welt. Zwei Söhne folgten, einer fiel 1973 im Jom-Kippur-Krieg. Seit 2006 ist sie Witwe. Im Film sagt sie, dass sie nach den Gräueln der Scho’ah ein schönes Leben gehabt habe.
Berliner Museum: Tagebuchseiten mit Übersetzung
Das Deutsche Historische Museum zeigt die vergilbten Blätter unter dem Titel „Deportiert nach Auschwitz – Sheindi Ehrenwalds Aufzeichnungen“ in der Dauerausstellung. Anlass ist der 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar. Neben den Originalseiten des Tagebuches stehen deutsche und englische Übersetzungen zur Verfügung. Auch online sind Ausschnitte mit Übersetzung zugänglich.
Von: eh