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Der „Sumpf von Givat HaUlpana“

Einem Europäer des 21. Jahrhunderts darf man das eigentlich gar nicht mehr erklären wollen. Der weiß längst, wo Gut, wo Böse, wo Recht und wo Unrecht liegen. Jede weitere Frage oder sonstige Anstrengung der grauen Zellen erübrigt sich. Jedes genaue Hinsehen könnte Kratzer am Image des Saubermanns oder der Saubergesellschaft hinterlassen. Fakten stören nur das romantische Bild einer politischen Ordnung – ja: überhaupt Ordnung! Die Alternative wäre doch Chaos – und das ist auf jeden Fall zu vermeiden!
In Beit El will Netanjahu für die versetzten Häuser zusätzliche Gebäude errichten lassen

Platte Solidaritätserklärungen zu Israel im Allgemeinen und seinem Existenzrecht im Besonderen, denen mantrisch das unvermeidliche „Ja, aber die Siedlungspolitik…“ folgt, sind viel leichter formuliert als Überlegungen, die sich differenziert und umfassend einer komplexen historischen, politischen, gesellschaftlichen und – nicht zuletzt – religiösen Problematik zu stellen bereit wären.
Den weltgewandten europäischen Bürger von heute interessiert überhaupt nicht, dass Israel genau auf dieselbe Weise zur Westbank gekommen ist, wie einst Polen zu Danzig und Russland zu Königsberg, nämlich durch einen Verteidigungskrieg, der ihm aufgezwungen wurde. Dabei hatte der jordanische König Hussein – seligen Angedenkens – verblüffend ähnliche Kriegsgründe und Pläne für seine westlichen Nachbarn, wie der deutsche Führer – dessen Namen und Absichten in diesem Fall um der politischen Korrektheit willen ausgelöscht seien – für seine östlichen Nachbarn.
Völlig irrelevant ist aus europäischer Sicht, dass die Israelis – im Gegensatz zu Polen und Russen – meinten, nach einem gewonnenen Verteidigungskrieg „Land für Frieden“ tauschen zu können. Deshalb annektierten sie die 1967 eroberten Gebiete nicht, sondern besetzten sie „nur“. Nicht dieses Land wollten sie, sondern Anerkennung, Frieden, Sicherheit und Ruhe. Tatsache ist, dass diese Absicht und die darauf folgenden Entwicklungen einer der Hauptgründe für die Besatzung und den Rechtsdschungel ist, der die Lage in den umstrittenen Gebieten für den normalen Menschenverstand so undurchdringlich macht und so viel menschliches Leid verursacht hat. Dabei hätten sich die Israelis möglicherweise viel Ärger erspart, hätten sie die im Sechstagekrieg eroberten Gebiete tatsächlich – wie ihnen heute so oft vorgeworfen – „ethnisch gesäubert“, etwa nach dem Vorbild der tschechischen Beneš-Dekrete aus den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Aber historische Entwicklungen, Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, vergleichbare Sachlagen im europäischen Zusammenhang oder Absichtserklärungen von maßgeblich am Konflikt Beteiligten sind für den politisch korrekt fühlenden Europäer hinfällig angesichts des sakrosankten Politdogmas, dass die expansive israelische Siedlungspolitik das Haupthindernis schlechthin für einen Frieden in Nahost ist.

Schade eigentlich, denn schon der Begriff „israelische Siedlungspolitik“ wird bei näherem Hinsehen schwammig. Historisch gesehen wendet sich die Vierte Genfer Konvention mit ihrem Verbot eines gewaltsamen Transfers und der Deportation von Zivilbevölkerung in besetzte Gebiete gegen das, was Nazideutschland und Stalins Sowjetunion in Mittel- und Osteuropa in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und danach praktiziert hatten. Millionen Menschen mussten den Wahn der Diktatoren mit ihrem Leben bezahlen. Gott sei Dank, sind derlei Experimente heute international geächtet!
Allein die Frage, welcher jüdische Siedler in die Westbank „transferiert oder deportiert“ wurde, zeigt, dass der plumpe Verweis auf „internationales Recht“ in diesem Fall nicht angemessen ist. Alle – wirklich ausschließlich alle! – Israelis, die heute in den besetzten Gebieten wohnen, sind freiwillig dorthin gezogen, in manchen Fällen unter großen persönlichen Opfern und nicht selten zu Beginn gegen den ausdrücklichen Willen ihrer eigenen Regierung. Israel ist eine Demokratie und hat sich letztendlich mit Migrationsbewegungen der Zivilbevölkerung abzufinden, auf diese einzustellen. Das gilt für Araber, die zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten hin und her ziehen; das gilt für Afrikaner, die zu Zigtausenden über den Sinai im Judenstaat Zuflucht suchen; und das gilt für Juden, die – aus welchen Gründen auch immer – im biblischen Judäa und Samaria wohnen wollen.
Dass ein Staat solche „Völkerwanderungen“ entsprechend seinen Interessen und mit rechtsstaatlichen Mitteln fördern oder behindern kann, ist vollkommen klar und legitim. Darüber kann, ja muss in einem Rechtsstaat gestritten werden. Europa allerdings macht sich unglaubwürdig, wenn es einerseits auf internationales Recht pocht, andererseits aber laut applaudiert, wenn die israelische Regierung – wie etwa im Spätsommer 2005 bei der Räumung des Gazastreifens – nach stalinistischer Manier Zivilbevölkerung „transferiert und deportiert“. Gleichzeitig spielt das Abendland im Blick auf drakonische palästinensische Gesetze – etwa die Androhung der Todesstrafe für „Kollaboration mit Israel“ oder „Landverkauf an Juden“ – engagiert „Blinde Kuh“. Fragt sich wirklich niemand, warum die palästinensische Gesetzgebung derart hart gegen zu gute Kontakte mit dem „Friedenspartner“ vorgehen muss?

Muhammad wohnt im Flüchtlingslager Dschalasun, nur wenige Hundert Meter von der Siedlung Beit El entfernt. Er arbeitet in Sichtweite auf die umstrittenen Häuser von „Givat HaUlpana“, streckt kurz den Kopf aus der schmuddeligen Werkstatt und zieht ihn wieder zurück. Wie Tausende anderer Palästinenser verdient er seinen Lebensunterhalt in einer der israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Me´ir, ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Beit El ruft ihm auf Arabisch ein paar Worte zu und erklärt dann weiter auf Hebräisch: „Hier geht es nicht um Recht oder Unrecht. Die ganzen Häuser hier wurden von Leuten aus Dschalasun gebaut. Niemand fragt danach, was die einfachen Leute denken.“ Nicht wenige palästinensische Arbeitnehmer beklagen sich dieser Tage bei ihren jüdischen Siedler-Arbeitgebern über die Vorgehensweise der palästinensischen Sicherheitsdienste gegenüber Andersdenkenden: „Im Vergleich zu denen haben eure Soldaten höflich an die Tür geklopft!“ Angefangen hat der Ärger um die illegalen Häuser von Givat HaUlpana, als linksgerichtete israelische Menschenrechts- und Friedensgruppen eine Petition vor dem Obersten Gericht des Staates Israel eingereicht haben.
„Dass bei den Häusern von Givat HaUlpana nicht alles glatt koscher ist“, untertreibt ein Mitglied des Siedler-Sicherheitsdienstes, „ist allen klar.“ Niemand bestreitet, dass die fünf Häuser, um die es geht, auf palästinensischem Privatland gebaut wurden. Das ist Unrecht – nach internationalem, jordanischem, palästinensischem, israelischem und auch osmanischem Recht, das vielerorts in der Westbank in Landfragen noch ausschlaggebend ist. Nicht einmal von der Bibel her ließe sich so ein Landraub rechtfertigen. Wo immer die biblischen Erzväter und selbst König David Privatland von nicht-israelitischen „Ureinwohnern“ übernommen haben, bezahlten sie dafür den marktüblichen Preis. Da gibt es keine Diskussion. Deshalb hatte das Oberste Gericht auch kaum Spielraum, als anzuordnen, die Häuser bis zum 1. Juli 2012 zu räumen.
Besonders skandalös bleibt, dass der Bauunternehmer den jungen Familien, die sich in Givat HaUlpana eingekauft haben, anscheinend nicht offenbart hatte, auf welchen rechtlichen Sumpf sie ihre Existenz bauten. Sie sind die eigentlich Leidtragenden. Eine gütliche Lösung, etwa durch den nachträglichen Kauf des Grund und Bodens, ist ausgeschlossen. Vor laufender Fernsehkamera haben die Palästinenser, denen die Grundstücke nachweislich gehören, zugegeben, dass ihnen Millionenbeträge geboten wurden, sie diese aber natürlich niemals annehmen würden. Unausgesprochen klar ist, dass sie nicht die Ersten wären, die eine gütliche Einigung mit jüdischen Nachbarn als „Kollaborateure“ oder „Landverkäufer“ mit dem Leben bezahlten.

Für Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu ist die Affäre Givat HaUlpana eine Herausforderung in mehrfacher Hinsicht. Einige rechtsgerichtete Koalitionsmitglieder hatten vorgeschlagen, das Urteil des Obersten Gerichts einfach durch ein neues Gesetz zu umgehen. Doch dieses Vorgehen hätte den Rechtsstaat ernsthaft in Frage gestellt und einer Siedlungsanarchie Vorschub geleistet und zweifellos einen gravierenden Ansehensverlust in weiten Teilen der israelischen Bevölkerung zur Folge gehabt. Deshalb war es wenig erstaunlich, dass der Gesetzesvorschlag in der Knesset mit 69 gegen 22 Stimmen abgelehnt wurde. Die befürchtete Koalitionskrise blieb aus. Die meisten Siedler-nahen Minister der jungen Riesenkoalition waren der Abstimmung fern geblieben.
Netanjahu möchte eine Radikalisierung und ein Wegbrechen des rechten Flügels seiner Koalition verhindern, gleichzeitig aber einen Präzedenzfall, der wilden Siedlungsbau legitimieren würde, vermeiden. Gegen insgesamt 18 Siedlungsaußenposten, die keine offizielle Baugenehmigung haben, sind Petitionen beim Obersten Gericht anhängig. Fünf dieser Siedlungserweiterungen müssen unter allen Umständen geräumt werden, weil sie nachweislich auf palästinensischem Privatland errichtet wurden. Als Erstes sollen deshalb die fünf Häuser von Givat HaUlpana weichen, danach – bis zum 1. August – der Außenposten Migron nahe Ramallah. Weitere Siedlungen, die entfernt werden müssen, sind Givat Assaf (25 Familien), Amona bei Ofra (50 Familien) und Mizpe Kramim. Die restlichen 13 Siedlungsaußenposten plant die Regierung in absehbarer Zeit zu legalisieren, weil sie nicht auf palästinensischem Privatland gebaut wurden. Inwieweit sich die salomonisch anmutende Idee, die massiven Gebäude von Givat HaUlpana zu zersägen und zu versetzen, technisch umsetzen lässt, bleibt fraglich.
Von der linken Seite des innenpolitischen Spektrums sieht die israelische Regierung die Gefahr einer Welle von Gerichtsverfahren von Seiten der Siedlungsgegner, die aus dem Ausland mit reichlichen Geldmitteln versehen werden. Deshalb hat Netanjahu gleich mit Bekanntgabe des Vorschlags, die Ulpana-Gebäude zu zersägen und zu versetzen, vorgeschlagen, für jedes der versetzten Gebäude 10 weitere Häuser in Beit El zu bauen. Mittlerweile ist vom Neubau von insgesamt 851 Wohneinheiten auf Landflächen die Rede, die vor 1967 zu Jordanien gehört haben. Ob diese Maßnahme den drohenden Rechtskrieg um die Siedlungen abschreckt, oder erst recht anfacht, bleibt abzuwarten.
Und schließlich hat Israels Regierungschef auch noch einen möglichen Ansehensverlust auf der internationalen Bühne zu verkraften. Bei einem Besuch in Frankreich Anfang Juni schien dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas vor allem an Waffenlieferungen für seine Polizei und die Freilassung von Gefangenen gelegen. Sollten diese beiden Forderungen erfüllt werden, so Abbas, wäre er zu politischen Gesprächen mit Israel bereit. Den Siedlungsbau schien er vergessen zu haben. Nicht so sein französischer Gastgeber François Hollande, der den Palästinenser und die Welt daran erinnerte, ein absoluter Siedlungsstopp sei Vorbedingung für jede Weiterentwicklung des politischen Prozesses.

Kurz darauf verurteilten nicht nur die EU, sondern auch die USA die israelischen Siedlungspläne. Der britische Außenminister William Hague beklagte, der Siedlungsbau sei ein Bruch internationaler Gesetze, behindere Friedensanstrengungen und sollte unverzüglich gestoppt werden. Großbritannien, Irland und Dänemark erwägen, Siedlungsprodukte zu kennzeichnen – ganz ungeachtet der Tatsache, dass ein Boykott von Siedlerprodukten in der Vergangenheit vor allem die palästinensischen „Kollaborateure“ wirtschaftlich getroffen hat und selbst der palästinensische Premierminister Salam Fajjad einen Boykott der Siedlungen im vergangenen Sommer nur wenige Wochen gegen seine eigene Bevölkerung durchzuhalten vermochte. Zu eng ist die „Kollaboration“ zwischen Siedlern und Palästinensern.
Der europäische Wunsch nach einem Siedlungsstopp als Rezept für die Wiederaufnahme israelisch-palästinensischer Gespräche findet in der israelischen Öffentlichkeit nur wenig Widerhall. Israelis haben zu deutlich wahrgenommen, dass das Siedlungsmoratorium, das Netanjahu zu Beginn seiner Amtszeit, präzedenzlos als Zugeständnis an westliche Vorstellungen, proklamiert hatte, nur eine Erhöhung palästinensischer Forderungen zur Folge gehabt hatte. Der israelische Schritt des guten Willens war von den Palästinensern mit einem Schritt zurück beantwortet worden, so die israelische Auffassung.
Und unter Siedlern tötet die Engstirnigkeit der Europäer auch die letzte Gesprächsbereitschaft. Oded Sapir – Arbeitskollege von Muhammad und Me´ir in der Stadtverwaltung von Beit El – sieht ebenfalls die rechtliche Problematik um Givat HaUlpana, meint aber: „Was bringt alles Reden? Man will uns doch nur von hier weg haben!“ Odeds Vater, der noch den deutschen Nachnamen Hase trug, floh nach der Reichspogromnacht im November 1938 aus Deutschland ins britische Mandatsgebiet Palästina. „Es geht doch nur um Politik, nicht um Menschen“, wirft ein Sicherheitsoffizier ein, der gerne anonym bleiben möchte: „Hier hat schon der Wahlkampf begonnen.“
„Es sind vielleicht noch ein paar linke Idealisten, die davon träumen, dass ‚Land für Frieden‘ funktioniert“, erklärt der Siedler Oded, „aber keiner von den Politikern, die eine Ahnung haben, Netanjahu und Barak auf keinen Fall! Die wissen, dass man von hier oben die ganze Mittelmeerküste von Aschdod bis Herzlija sehen kann. Wir sehen von hier aus die Flugzeuge auf dem Ben-Gurion-Flughafen landen. Verantwortliche Politiker wissen, was nach dem Rückzug aus dem Gazastreifen passiert ist. Sie haben den Rückzug aus dem Libanon analysiert und sehen jetzt, was mit dem Sinai passiert ist, den wir zu Beginn der 1980er Jahre für ein Friedensabkommen mit Ägypten abgegeben haben. Jeder, der heute noch ernsthaft an ‚Land für Frieden‘ glaubt, sei das hier in Judäa und Samaria, sei es auf den Golanhöhen, ist ein Träumer!“

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