„Die Schweinefleischfresser sollen weggerafft werden!“, hatte der Prophet Jesaja vor zweieinhalb Jahrtausenden in Jerusalem gewettert (Jesaja 66,17). Schon bald nach dem Auszug aus Ägypten hatte Mose dem Volk Israel seine Bestimmung klargemacht: Kinder Gottes, ein heiliges Volk dem Herrn und sein auserwähltes Eigentum aus allen Völkern, die auf Erden sind, sollten sie sein. Deshalb sollten sie nichts essen, „was dem Herrn ein Gräuel ist“ – wozu vor allem auch das Schwein gehört (vergleiche 5. Mose 14,1ff und 3. Mose 11,7).
Jetzt haben die neun obersten Richter Israels einstimmig zu Beginn der dritten Juniwoche verfügt, dass kommunale Bestimmungen, die den Verkauf von Schweinefleisch verbieten, unrechtmäßig sind. Nach den Vorstellungen des Gerichtspräsidenten Aharon Barak und seiner Kollegen soll künftig die Zusammensetzung der Einwohnerschaft eines Wohnviertels darüber entscheiden, ob unkoschere Produkte öffentlich angeboten werden dürfen, oder nicht. Bislang hatte das sogenannte Ermächtigungsgesetz aus dem Jahre 1956 den Kommunen das Recht zugesprochen, den Verkauf von Schweinefleisch zu verbieten.
Was die Aufhebung des Schweinefleischverbotes durch die höchste richterliche Instanz des jüdischen Staates Israel für traditionsverbundene Juden bedeutet, ist einem Außenstehenden nur schwer erklärbar. „Der Talmud sagt, dass das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch eines der Gebote ist, das Nichtjuden nicht rational erklärt werden kann“, doziert der ultra-orthodoxe Knessetabgeordnete Jisrael Eichler: „Ein Jude dagegen braucht keine Erklärung dafür, warum das Schwein als ultimative Verkörperung der Unreinheit gilt.“ Der Streit ums Schweinefleisch hat sich in den vergangenen Jahren zur wichtigsten juristischen Schlacht um die religiös-säkularen Beziehungen in Israel entwickelt.
Für die westlich-humanistische Denkweise am ehesten nachvollziehbar ist, dass liberale Geister das 26-seitige Urteil als salomonischen Kompromiss zwischen dem Schutz religiöser und nationaler Gefühle einerseits und der Wahrung individueller Freiheiten andererseits feiern. Ohne jemandem zu heftig auf die Zehen getreten zu sein, haben die Richter den Schwarzen Peter den Kommunen zurückgeschoben. Diese müssen jetzt ganz neu prüfen, wie sie die Empfindungen und Geschmacksnerven ihrer Bürger am besten befriedigen. Im galiläischen Tiberias am See Genezareth wird deshalb in nächster Zeit ein Referendum erwartet.
„Unsere Weisen haben bestimmt, dass verflucht ist, wer im Land Israel Schweine züchtet“, donnerte Knessetmitglied Me’ir Porusch vom Vereinigten Torahjudentum. Der Vorsitzende der sephardisch-orthodoxen Schass-Partei, Eli Jischai, bezeichnete den Entscheid im Radio Kol Israel als „zentralen Nagel im Sarg der jüdischen Identität des Staates Israel“ und gelobte, einen Gesetzesvorschlag vorzubereiten, der den Verkauf von Schweinefleisch in Israel verbietet. Er sieht die Hauptgefahr für den jüdischen Staat Israel in der Assimilation, in der Säkularisierung, „dass Hunderttausende von Heiden kommen, Hunderte von Kirchen bauen, ihre Christbäume in jeder Stadt aufstellen und noch mehr Geschäfte eröffnen, die Schweinefleisch verkaufen. Besonders russische Neueinwanderer geraten in dieser Debatte ins Visier orthodoxer Juden, die ihnen vorwerfen, „mit christlichen Ehepartnern, evangelistischen Impulsen und einem Appetit für Schweinefleisch“ nach Israel gekommen zu sein.
„Götzendienst“ und „Schweinefleischessen“ sind im jüdischen Denken spätestens seit dem Aufstand der Makkabäer gegen die griechischen Besatzer im zweiten Jahrhundert vor der Zeitrechnung ein Synonym. Damals rief der Priester Mattathias aus Modi’in das jüdische Volk auf: „Wer mit Gott ist, folge mir!“ – um dann die Götzen zu zerstören, das Schweinefleisch zu verbrennen und die fremden Soldaten zu töten.
Die Heldin des Hasmonäeraufstandes, dessen jedes Jahr zum Chanukkafest gedacht wird, ist Hanna, eine fromme Jüdin. Die Hellenisten versuchten sie und ihre acht Söhne zu zwingen, Schweinefleisch zu essen. Doch obwohl ihre Söhne, einer nach dem andern, vor ihren Augen von den Griechen grausam gefoltert und ermordet wurden, blieb sie standhaft. Die Tradition erzählt, wie sie ihrem letzten Sohn zurief, er werde im Himmel Abraham begegnen, dem sein einziger Sohn als Opfer abverlangt worden war. Doch im Gegensatz zu Abraham, dessen Sohn Isaak in letzter Minute gerettet wurde, wurde Hanna ihrer acht Söhne beraubt und blieb trotz allem ihrem Gott treu.