Ein weites Gebiet zwischen der nordisraelischen Küstenstadt Naharija und dem Kibbutz Gescher HaSiv war betroffen – Fensterscheiben zersprungen, Autos durchlöchert, Laternenpfosten durchschlagen. Vier Menschen wurden im Krankenhaus von Naharija wegen Schockverletzungen behandelt. Bald war klar, dass insgesamt vier Katjuschas im Libanon in Richtung Israel abgeschossen worden waren und im ganzen Nordwesten Israels Luftalarm ausgelöst hatten. Die drei Raketen, die nicht abgefangen worden waren, seien – die Reporter konnten sich nicht wirklich einigen – „auf offenem Feld“, ein anderer meinte „im offenen Meer“, eingeschlagen.
Gegen 20 Uhr genehmigte der Militärzensor, zu veröffentlichen, was Augenzeugen berichtet hatten: In „einer kleinen Ortschaft im Norden Israels“ war eine der Katjuscha-Raketen in ein Wohngebiet eingeschlagen. Der Name der Ortschaft dürfe allerdings nicht veröffentlicht werden. Dass die 122-Millimeter-Katjuscha im Hof des Erholungsheimes „Beit El“ des „Liebeswerkes Israel Zedakah“ eingeschlagen ist, sei allerdings frei zur Veröffentlichung. Auf Rückfrage, weshalb und warum, und den Hinweis, dass man mit dem Namen der Organisation doch ohne weiteres im Internet herausfinden könnte…, meinte der Armeesprecher nur: „Wir haben unsere Richtlinien.“ Altbekannt ist, dass die israelische Armee mit genauen Berichten über Raketeneinschläge sehr zurückhaltend ist, um den Raketenschützen keine Angaben über Treffererfolge zu liefern.
Bei dem Raketeneinschlag im Hof des Erholungsheimes für Holocaust-Überlebende wurden vier Autos beschädigt. Außerdem entstand erheblicher Sachschaden an den umliegenden Gebäuden. Viele kleine „Einschusslöcher“ an den Hauswänden bewiesen, dass die Rakete beim Einschlag nicht nur explodiert war, sondern unzählige Metallsplitter und Kugeln in alle Richtungen abschossen hatte. Metallteile und Kugeln aus Kugellagern werden bewusst in die Raketen eingebaut, um deren tödliche Wirkung zu erhöhen. Dadurch haben sie eine Wirkung wie die international geächteten Streubomben.
Zur Zeit des Raketeneinschlags befand sich eine Gruppe von 42 Holocaust-Überlebenden in der Einrichtung. Gäste und Mitarbeiter waren dem Luftalarm gefolgt und hatten rechtzeitig in Schutzräumen Zuflucht gefunden. Deshalb kam kein Mensch zu Schaden. Kurz vor 23 Uhr gab der Armeezensor dann endlich die Information zur Veröffentlichung frei, dass das Beit El in „Schawei Zion“, wenige Kilometer südlich von Naharija unmittelbar am Strand des Mittelmeeres, liegt. Schawei Zion wurde als kollektive Gemeinschaftssiedlung in den 1930er Jahren von jüdischen Einwanderern aus dem Schwarzwald gegründet.
„Das hätte anders ausgehen können“
Für Dorothea Bayer, Ehefrau des Heimleiters Schmuel Bayer, ist es keineswegs selbstverständlich, dass niemand durch den Raketeneinschlag verletzt wurde. „Wir waren um 16.30 Uhr gerade fertig mit Kaffeetrinken. Alle standen noch in der Lobby, als der erste Luftalarm völlig überraschend und ohne jede Vorwarnung ausgelöst wurde.“ Die älteren Menschen waren großenteils schon auf dem Weg oder gar in den Luftschutzräumen, als der Luftalarm zum zweiten Mal erscholl. „Dann hörten wir am Knall, dass die Rakete unmittelbar in unserer Nähe eingeschlagen hatte. Wären wir über das Gelände verteilt gewesen, hätte das alles ganz anders ausgehen können.“
Die Feriengäste in der deutschen Einrichtung in Schawei Zion reagierten überwiegend gelassen auf den Raketenanschlag. Ehepaar Pincu aus der Stadt Sderot, direkt am Gazastreifen, meinte: „Man gewöhnt sich.“ In ihrer Heimatstadt habe es auch schon 300 Raketen am Tag gegeben. Ehepaar Pagis aus Beit Schemesch erklärte: „Wir leben. Es ist und wird alles gut!“ Und Frau Weinberg aus Holon weigerte sich, von Schmuel Bayer in einen der Schutzräume gewiesen zu werden: „Ich habe so viel überlebt. Da lass ich mich jetzt in keinen solchen Raum sperren!“
Das „Beit El“ wurde als Erholungsheim für Holocaust-Überlebende in den 1960er Jahren von dem pietistischen Prediger Friedrich Nothacker gegründet. Heute wird dort jedes Jahr etwa 550 Gästen, die während des Zweiten Weltkriegs den gezielten Genozid am jüdischen Volk überlebt haben, ein Erholungsurlaub ermöglicht. Sie werden von Deutschen betreut, die diese Arbeit ausschließlich als Volontäre leisten. Die Zentrale des „Liebeswerkes Israel Zedakah“ liegt in Bad Liebenzell-Maisenbach im Schwarzwald. Die gesamte Arbeit finanziert sich aus Spenden. In Israel leben fast 70 Jahre nach Kriegsende schätzungsweise noch immer 190.000 Holocaust-Überlebende.
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Raketenangriffe aus dem Libanon, verfügte die israelische Armee eine Schließung des Luftraums über Nordisrael für den zivilen Luftverkehr. Der Flughafen von Haifa wurde geschlossen, kulturelle Veranstaltungen in Nordisrael abgesagt.
Doch bereits eine Stunde nach dem ersten Luftalarm erlaubte das Kommando der Heimatfront schon wieder eine Rückkehr zum normalen Leben. So waren am Abend die Straßencafés in Naharija bereits wieder geöffnet. „Wir haben keine Angst“, betonten die Bürger, „und lassen uns nicht einschüchtern.“
Israelische Armee: Hisbollah nicht verantwortlich
Die Katjuscha-Raketen waren nach Angaben der israelischen Armee in dem libanesischen Dorf El-Kleile, ungefähr acht Kilometer südlich der libanesischen Küstenstadt Tyrus, und dem palästinensischen Flüchtlingslager Raschidije, zwischen El-Kleile und Tyrus gelegen, abgeschossen worden. Armeesprecher zeigten sich überzeugt, dass nicht die schiitische Hisbollah-Miliz verantwortlich sei, mit der sich Israel im Sommer 2006 einen heftigen Raketenkrieg geliefert hatte, sondern eine Gruppe des „weltweiten Dschihad“, möglicherweise Palästinenser. Interessanterweise wussten die Israelis schon bald, dass die Raketenabschüsse durch Timer zeitverzögert ausgelöst worden waren. Libanesische Quellen behaupteten, kurz nach dem Abschuss der Raketen seien israelische Drohnen über dem Gebiet gekreist.
Sunnitische Splittergruppen bezeichnet man aufgrund ihrer internationalen Vernetzung und ihrer radikal-islamischen Ideologie als „globalen Dschihad“. Die „Abdallah-Assam-Brigaden“, ein Al-Qaida-Ableger, der vom US-Außenministerium als „ausländische Terror-Organisation“ betrachtet wird, bekannte sich über das Twitter-Konto von Siradschuddin Suraikat, einem prominenten Islamistenführer, zu dem Raketenanschlag.
Derartige Gruppierungen bekämpfen auf dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien auch die schiitische Hisbollah-Miliz, die den alawitischen Präsidenten Baschar al-Assad unterstützt. So vermutet Hisbollah-Chef Scheich Hassan Nasrallah „sunnitische Gruppen mit Al-Qaida-Kontakten“ als Drahtzieher hinter einem Bombenanschlag auf eine Hisbollah-Hochburg im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut, der kaum eine Woche zuvor 22 Menschenleben gefordert hatte. Offensichtlich haben diese Salafiten neben ihrer Auseinandersetzung mit der Hisbollah aber immer noch Möglichkeiten und sehen eine Notwendigkeit, den jüdischen Staat Israel anzugreifen. Die Armee betonte, der Raketenbeschuss sei eine „Einzelaktion“ von einer „allein agierenden Splittergruppe“ gewesen.
Während die USA sowohl Israel als auch den Libanon „zur Zurückhaltung aufforderten“, betonten israelische Politiker und Militärs mit Nachdruck, man werde den Libanon und seine Armee für alle Grenzverletzungen verantwortlich machen. Premierminister Benjamin Netanjahu stellte öffentlich klar: „Jeder, der uns verletzt, ja, jeder, der uns zu verletzen sucht, muss wissen, dass wir ihn treffen werden.“
Israel reagiert auf Angriff
Deshalb erstaunte es dann auch niemanden, dass die israelische Luftwaffe etwa um 4 Uhr am frühen Freitagmorgen eine Basis der „Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando“ (PFLP-GC) in dem kleinen Städtchen Na‘ameh, zwischen Beirut und Sidon gelegen, angriff. PFLP-GC-Sprecher Rames Mustafa behauptete, bei dem Luftangriff seien weder Menschen verletzt worden, noch sei Sachschaden entstanden. Ein Sprecher der israelischen Armee betonte, der Beschuss sei die Antwort auf den Raketenangriff vom Tag zuvor und unterstrich noch einmal, die libanesische Regierung sei verantwortlich für alle Übergriffe, die von ihrem Territorium aus auf Israel geschähen.