Benny Gantz wäre ein nicht untypischer israelischer Premierminister gewesen – zumindest, was seinen Werdegang angeht: Ein früherer General, der dann zum Mitte-orientierten Politiker wird und schließlich zum mächtigsten Mann des Landes aufsteigt – das gab es in Israel schon mehr als ein Mal. Jitzchak Rabin etwa hatte sich seine Meriten im Unabhängigkeitskrieg als Kommandeur und im Sechs-Tage-Krieg als Generalstabschef verdient, bevor er 1974 Golda Meir beerbte. Auch Ehud Barak und Ariel Scharon hatten große militärische Karrieren vorzuweisen.
Gantz selbst war Kommandeur des Heeres, Militärattaché an der israelischen Botschaft in den USA und schließlich Generalstabschef. In die Reihe Rabin-Barak-Scharon würde er also gut reinpassen. Die Aufgabe des Premiers hätte seiner Karriere die Krone aufgesetzt. An diesem Mittwoch, dem 17. November 2021, wäre es so weit gewesen. Es ist das Datum, an dem Gantz in das Amt des Regierungschefs hineinrotieren sollte, um den Amtsinhaber abzulösen. So hatte er es im April 2020 mit seinem Koalitionspartner vereinbart, scheinbar wasserdicht.
Doch – hätte, wäre, würde –: Der Deal hatte einen entscheidenden Schwachpunkt, nämlich den Partner, mit dem er geschlossen wurde, kein geringerer als Benjamin Netanjahu. Die Vorgeschichte ist lang und bereits oft erzählt worden: Eigentlich war Gantz als der große Anti-Netanjahu gestartet und von den Wählern als Held des „Rak-lo-Bibi“-Lagers (Nur nicht Bibi) zeitweise auf Platz 1 in der israelischen Parteienlandschaft katapultiert worden. Dennoch reichte es in drei Wahlen nicht für eine eigene Mehrheit. Schließlich ließ Gantz sich aufweichen, ging eine Koalition mit Netanjahu ein und brach sein Versprechen, unter keinen Umständen mit „Bibi“ zu kooperieren.
Die Einheitsregierung ohne Einheit
„Einheitsregierung“ nannte sich dieses Projekt, doch die Regierung war von Anfang an alles, nur keine Einheit. Schon im Koalitionsvertrag war ihre Spaltung angelegt: Eine komplizierte, von machtpolitischen Mechanismen geprägte Vereinbarung sollte das Konstrukt des gegenseitigen Misstrauens absichern. Zwei Blöcke innerhalb eines Kabinetts waren vorgesehen. Über den einen herrschte Netanjahu, über den anderen Gantz. Der Kern des Deals, die Rotation am 17. November 2021, mit der Netanjahu – aus Sicht seiner Gegner: endlich – abtreten würde, wurde in Gesetzesform gegossen.
Warnende Stimmen gab es freilich schon damals: Netanjahu, ob des Korruptionsverfahrens um sein politisches und juristische Überleben kämpfend, würde einen Weg finden, die Zusicherungen doch noch platzen zu lassen. Heute ist klar, dass der gewiefte Taktiker und Politprofi in der Tat wohl nie vorhatte, seinen Versprechungen nachzukommen. Schon während der Regierungszeit hinterging er Gantz systematisch: Nicht einmal in die Entwicklungen rund um die Normalisierung mit mehreren arabischen Staaten bezog Netanjahu seinen „alternierenden Premier“ und Verteidigungsminister ein. Im Dezember 2020, lange bevor Gantz das ihm zugesicherte Amt übernehmen konnte, ließ Netanjahu die Koalition schließlich über einen Haushaltsstreit in die Luft gehen. Im Rückblick kann man dies alles mit Fug und Recht als Demütigung bezeichnen.
Ein naiver Soldat
Doch hatte Gantz wirklich geglaubt, Netanjahu werde sich an die Vereinbarung halten und ihm – Gantz – das ihm – Netanjahu – so heilige Amt einfach überlassen? Zweifel muss er gehabt haben, doch durch die detaillierten Vereinbarungen hoffte er sich abgesichert. Ziemlich naiv war er damit, wird man heute sagen müssen. Auch Gantz selbst zeichnet dieses Bild von sich, das Bild eines Soldaten, der sich, ganz frisch in der Politik, als erster Diener des Staates verstand und mit dem dreckigen politischen Geschäft schlicht überfordert war.
Was er aus den vergangenen zwei Jahren gelernt habe, wollte die Onlinezeitung „Times of Israel“ im März von ihm wissen: „Menschen kein Vertrauen zu schenken“, antwortete er ganz generell, schob aber noch einschränkend hinterher: „… in der Politik.“ Dass er in die Koalition einstieg, verteidigte er dennoch lange: Die Corona-Situation habe es nötig gemacht und sowieso habe er die israelische Demokratie auf diese Weise besser schützen können, als wenn er vom Seitenrand aus zugeschaut hätte.
Zur Ironie der Geschichte gehört aber auch: Sein Ziel hat Gantz trotz allem irgendwie erreicht. Inzwischen ist Netanjahu nicht mehr im Amt, auch dank Gantz, der mit seiner blau-weißen Partei das bislang einigermaßen erfolgreiche Experiment einer Links-Mitte-Rechts-Koalition mitträgt. Er selbst bekleidet in dieser Konstellation den Posten des Verteidigungsministers. Als solcher nimmt er sich einiges an Spielraum heraus, traf etwa im August den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, was Teile der Koalition nicht gerne sahen. Vielleicht ist die Wahrheit, dass dieses Amt eigentlich viel besser zu ihm, dem General, passt als das des Premiers.
Die anderen machen vor, wie es geht
Ob Gantz irgendwann noch einmal einen ernsthaften Anlauf nehmen wird, das wichtigste Regierungsamt zu bekleiden, weiß nur er selbst. Jedenfalls wohnt auch der aktuellen Regierung ein für ihn persönlich bitteres, ja geradezu tragisches Moment inne. Premier ist jetzt nicht er, sondern Naftali Bennett, obwohl dieser in der Knesset mit seiner Jamina-Partei weniger Sitze hinter sich weiß als Gantz‘ Blau-Weiß-Partei. Abgelöst werden soll Bennett 2023 von Jair Lapid, dem Chef der Partei „Jesch Atid“, die sich einstmals mit Gantz verbündet hatte, um Netanjahu zu stürzen, aber nach dessen Wortbruch die Scheidung einreichte und Gantz zum Verräter erklärte. Bennett und Lapid, ein Tech-Millionär und ein Journalist, beide keine Militärs, haben Gantz also vorgeführt, was strategisches Geschick in der Politik bedeutet.
Die „Jerusalem Post“ zitierte jüngst eine Sprecherin von Gantz‘ blau-weißer Partei mit den Worten, der heutige 17. November sei „kein Datum, das für uns irgendeine Relevanz hat“. Und dennoch ist anzunehmen, dass Gantz in diesen Stunden doch wenigstens für einen kleinen Moment noch einmal darüber nachdenken dürfte, was er in den vergangenen anderthalb Jahren alles mitgemacht hat.
Von: Sandro Serafin