Als sie nach der Ankunft in Auschwitz nach dem Alter der Tochter gefragt wurde, gab ihre Mutter das gerade zwölfjährige Mädchen für 14 aus. Der Soldat entgegnete: „Groß und stark genug, kann mitgehen.“ Magda Goldner folgert: „Darum bin ich heute da. Das ist mein Glück gewesen.“
Als Glück empfand sie es auch, dass sie in Auschwitz-Birkenau und später in den Arbeitslagern der Nazis mit ihrer Mutter und der vier Jahre älteren Schwester zusammenbleiben konnte. Sie unterstützten einander. Was mit ihrem Vater geschah, hat sie hingegen nie erfahren.
Magda Goldner lebt in der nordisraelischen Stadt Kirijat Ata bei Haifa. Aufgewachsen ist die Jüdin im damals ungarischen Levice nahe der slowakischen Grenze. Ihr Vater hatte eine Fabrik. Der Haushalt der Familie wurde koscher geführt. Unter anderem von ihrem Kinderfräulein lernte sie Deutsch.
In dieser Sprache erzählt sie aus ihrem Leben, mit ungarischem Akzent, mitunter entschlüpft ihr auch ein hebräisches Wort. Trotz der Deutschkenntnisse hat ihre Familie 1944 nicht verstanden, was es mit der Deportation auf sich hatte: „Niemand hat etwas gesprochen, wohin, welche Richtung, warum, was passiert.“ Mit diesen und ähnlichen Worten kommentiert sie die Einlieferung ins Ghetto von Levice, den Transport nach Auschwitz und die ersten Stunden in dem Vernichtungslager.
Stundenlanges Appellstehen, Selektionen, Unterernährung, ständige Angst – all das erlebte sie zusammen mit Tausenden KZ-Häftlingen. Schließlich wurde sie mit Mutter und Schwester zur Zwangsarbeit ausgewählt, unter anderem für die Arbeit in einer Fabrik für Flugzeugteile. Immer öfter gab es jedoch Bombenangriffe der Alliierten. Als sich der Krieg dem Ende nahte, begann der Todesmarsch.
Die Befreiung erlebte die Zwölfjährige in einem Wald: „Eines Tages hat man uns gesagt: Hier ist der Wald, ihr könnt gehen und euch hinsetzen und schlafen.“ Als die Häftlinge am folgenden Morgen erwachten, waren alle Deutschen verschwunden. Die Verfolgung durch die Nazis war vorbei. Doch die Frauen waren nun durch russische Soldaten bedroht. Viele wurden vergewaltigt, Magda Goldners Familie blieb unbehelligt. Auf der Heimreise nahmen ihnen bewaffnete Russen am Bahnhof von Bratislava die Koffer mit Kleidern ab, die ihnen eine Verwandte mitgegeben hatte.
Als sie in ihren Heimatort zurückkehrten, fanden sie Haus und Fabrik unversehrt vor. Nur einige Einrichtungsgegenstände fehlten. Doch das Gebiet gehörte mittlerweile nicht mehr zu Ungarn, sondern zur Slowakei. Auf den Straßen liefen Spitzel herum, die jeden anzeigten, der Ungarisch sprach. „Es war eine sehr schwere Zeit.“
Jahrelang hielt Magda Goldner auch nach ihrem Vater Ausschau, wenn sie einen Zug hörte. Doch er kam nie zurück. Sie lernte in der Schule Slowakisch und ein wenig Russisch. In der jüdischen Gemeinde nahm sie an Sommerlagern für Jugendliche teil und wurde Zionistin.
1949 wanderte sie nach Israel aus, wo sie ihren Ehemann kennenlernte. Die Mutter folgte ihr vier Jahre später und heiratete wieder. Magda Goldner bekam zwei Kinder, der Sohn starb 1995. Heute ist die 82-Jährige Witwe. Sie hat vier Enkel und ein Urenkelkind, darüber ist sie besonders glücklich. Wer ihre Wohnung betritt, erblickt sofort ihr Hobby: Malen. Auf den Bildern sind auch Landschaften zu sehen, die an ihre osteuropäische Heimat erinnern.
Tatkräftige Hilfe
In Jerusalem kümmern sich seit 2013 Jochen und Ruth Peter aus Thüringen um Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Sie koordinieren Einsätze der
Sächsischen Handwerker. Diese Christen renovieren während ihres Urlaubes ehrenamtlich Wohnungen von bedürftigen Überlebenden in Israel.
Der Dienst gehört zum Programm der
Sächsischen Israelfreunde. Ruth Peter selbst ist Töpferin und Heilerziehungspflegerin, ihr Ehemann ist Schlosser, Töpfer, Diakon und Heilerziehungspfleger. Die Kombination von handwerklichem Geschick und der Freude daran, mit Menschen zu arbeiten, bestätigt aus ihrer Sicht die Berufung.
Was hat sie dazu gebracht, sich in Israel zu engagieren? „Wir sind dazu gekommen, weil wir im Laufe unseres Christenlebens gemerkt haben, dass uns der Aspekt Israel total fehlt. Von unserer Kirche her war da nichts vorhanden, wir haben aber gemerkt: In der Bibel ist laufend von Israel die Rede. Es ist ein total jüdisches Buch und Jesus war Jude.“ Zwei Israelreisen eröffneten dem Ehepaar eine neue Perspektive, bis sie sich entschieden, nach Jerusalem zu ziehen.
Ruth Peter sucht Überlebende in ihren Wohnungen auf und steht ihnen tatkräftig zur Seite. Am Tag vor unserem Treffen besuchte sie im ultraorthodox geprägten Stadtteil Mea Schearim zwei Frauen, von denen sie sichtlich angetan ist. Eine war selbst in Auschwitz interniert, die andere ist Tochter eines Überlebenden des Konzentrationslagers und erinnert sich aus ihrer Kindheit an die antisemitischen Karikaturen in der Zeitschrift „Der Stürmer“.
Deutsche staunen über Herzlichkeit
Die Hilfsorganisation „
Ner Yaakov“ bietet Treffen mit Überlebenden der Judenvernichtung an, von denen es in Israel noch etwa 190.000 gibt. Die Begegnungen werden mit der jeweiligen Reiseleitung abgestimmt. Im Norden Jerusalems hat der Verein ein kleines Zentrum, in dem Scho‘ah-Opfer auch übernachten können.
An einem Nachmittag berichten Überlebende des Holocaust Christen aus Deutschland von ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg. Eine stammt ebenfalls aus Ungarn. Sie kam mit 18 Jahren nach Auschwitz. Kurz nach der Ankunft zeigte ihr Bruder auf einen Schornstein und sagte: „Dort haben sie schon unsere Eltern verbrannt.“ Auf sich alleingestellt, überlebte sie das Vernichtungslager und die Zwangsarbeit. Nach dem Krieg heiratete sie, doch ihr Mann starb kurz nach der Einwanderung nach Israel. Ein Rabbi brachte die Kinder, für die sie aus gesundheitlichen Gründen nicht sorgen konnte, in einem Heim unter. Später heiratete sie nochmals.
Ein anderer Überlebender stammt aus der Ukraine und lebt mit seiner Ehefrau in Deutschland. Er hat als Kind schreckliche Dinge gesehen – aber auch deutsche Soldaten, die ihnen Gutes erwiesen. Seine Botschaft: „Alle Nationen sollen in Frieden leben.“ Ein Jude aus der ehemaligen Sowjetunion will nicht von seinen furchtbaren Erfahrungen erzählen. Stattdessen singt er den Gästen hebräische und jiddische Lieder vor, weil er gerne Menschen Freude macht. Die Besucher aus Deutschland sind erstaunt über die Herzlichkeit und Offenheit der Scho‘ah-Opfer.
In das Zentrum der Organisation „Ner Yaakov“ kommen auch Gruppen aus Israel und aller Welt, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Inge Buhs leitet die Arbeit. Sie arbeitete einst als Bedienung in einem bayerischen Bierlokal. Doch 1983 wurde sie Christin. Fünf Monate später war sie bereits in Israel. Im Jahr 1987 kam sie dort in Kontakt mit einer Überlebenden, der sie mit praktischen Hilfestellungen zur Seite stand. Aus diesen Anfängen entstand der Verein. Anfangs fühlte sie sich unwohl als Deutsche in Israel. Doch durch die Liebe der Überlebenden erfuhr sie hier Heilung. Sie ermutigt Christen dazu, Gott um die Bereitschaft zu bitten, in einer etwaigen Notlage Juden zu retten.
Erster Deutschlandbesuch: „Wie in einer Familie“
Trotz aller schlimmen Erlebnisse scheinen die alten Menschen, frei von Bitterkeit. Auch Magda Goldner erinnert sich an Nazis, die ihr zur Seite standen: Während der Zwangsarbeit sah eine der deutschen SS-Frauen im Lager, dass sie noch ein Kind war. „Sie hat mit mir Mitleid gehabt. Sie war sehr eine feinfühlige Frau.“ Eine Zeitlang habe sie ihr jeden Tag ein Stück Brot gegeben, mit etwas Margarine darauf. Das teilte sie erfreut mit Mutter und Schwester. Später beim Todesmarsch litt ihre Mutter unter Durchfall. Da habe diese SS-Frau sie gestützt, damit sie nicht zusammenbrach und erschossen wurde.
Bei ihrem ersten Besuch in Deutschland nach der Auswanderung traf sie nach eigener Darstellung „viele Herzensfreunde“. Es sei wie in einer Familie gewesen. Seitdem war sie viele Male in Deutschland und hat ihre Geschichte oft erzählt. Dies wird auch in unserem Gespräch deutlich, nur selten muss sie nach dem passenden deutschen Wort suchen. Schriftlich festgehalten hat sie „Die Deportation und Befreiung“, die sie mit zwölf Jahren erlebte, ebenfalls. Sie freut sich über jeden Deutschen, der Interesse an ihren Erlebnissen hat und zuhört. Auch wenn sie betont: „Wenn man es nicht erlebt hat, kann man es nicht verstehen.“ Unterstützung erfährt sie unter anderem von der christlichen Organisation „
Zedakah“, die in Israel Holocaust-Versehrte betreut. Nahe der libanesischen Grenze gibt es ein Altenheim und ein Erholungsheim für diese Juden.
„Unser heiliger Gott sieht alles“
Die Opfer wissen die christliche Hilfe aus dem Land, durch das sie einst verfolgt und gedemütigt wurden, zu schätzen. Doch was bedeutet es für sie, dass es den jüdischen Staat Israel gibt, in dem sie leben können? Magda Goldner antwortet auf diese Frage: „Ich glaube, das hält mich am Leben.“ Der in Deutschland lebende Ukrainer, dem Israel sehr am Herzen liegt, sieht darin ein Zeichen für Gottes Treue: „Unser heiliger Gott lebt und sieht alles. Er hat sich wieder zu seinem Volk gewandt.“ Eine Israelin, die mit zehn Jahren im Ghetto und ein Jahr später bereits Waise war, sagt schlicht: „Alles.“ Und ergänzt: „Mein ein und alles.“