JERUSALEM (inn) – „Jerusalem ist die Hauptstadt der Toleranz“, ist Haggai Schalev überzeugt. Er ist einer der Initiatoren des „anderen Jerusalem-Tages“. „In einer Stadt wie Tel Aviv, wo mehr als 90 Prozent der Leute das gleiche denken, ist es nicht schwer, von Toleranz zu sprechen. Die wirkliche Herausforderung liegt hier in Jerusalem, wo Menschen und Völker mit so unterschiedlichen Hintergründen zusammentreffen und miteinander leben.“
Zu oft werde der Jerusalem-Tag, der die Wiedervereinigung der Stadt im Jahr 1967 feiert, damit verbunden, ein Tag der Extremisten zu sein. Dabei wird Jerusalem von seinen Bewohnern überwiegend positiv gesehen: „Ja klar gibt es Spannungen hier, aber insgesamt kommen wir doch gut miteinander zurecht“, sagt ein arabischer Händler der Altstadt. Als Berater und Coach in der Geschäftswelt sieht Schalev sich als „Experte für Veränderungen“.
Auch er habe in den vergangenen Jahren am sogenannten „Flaggenmarsch“ durch Jerusalem teilgenommen. „Die radikalen Kräfte, die in den Nachrichten zu sehen sind, wenn sie durch die Altstadt ziehen und ‚Tod Muhammad‘ rufen, sind überhaupt nicht repräsentativ. Jerusalemer sind tolerant. Und etwa 98 Prozent der Jerusalemer kommen sehr gut miteinander aus. Ich bin auch prinzipiell für den Flaggenmarsch. Aber ich dachte: ‚Da muss es noch etwas anderes geben‘. Also überlegten wir, dass man Veranstaltungen bieten könnte, zu denen interessierte Bewohner kommen.“
Bürgerbewegung mit Erfolg
„Der andere Jerusalemtag“ soll eine Bewegung der Bürger sein. „Wir haben lediglich angeboten, einen Rahmen zu bieten.“ Eine Initiative ist „Jeruschalmim laden Jeruschalmim ein“. Dabei finden Vorträge in öffentlichen und privaten Räumen statt. Schalev sagt: „Wir führen diese Veranstaltungen nun zum dritten Mal in Folge durch. Und die Tatsache, dass wir bereits mehr als 80 Veranstaltungen anbieten, zeigt uns, dass der Bedarf in der Bevölkerung groß ist.“
Die Themen der Vorträge, die von Samstag bis Sonntagabend angeboten wurden, waren vielschichtig: Jossi, ein ehemaliger ultra-orthodoxer Jude, berichtet von seinem Ausstieg aus der ultra-orthodoxen Welt und dem Leben in einer säkularen Mehrheitsgesellschaft, auf das er nicht vorbereitet war. „Niemand war damals da, um mir zu helfen. Ich war allein.“ Ein Besucher, säkularer Jude, sagt: „Du hättest zu mir kommen sollen. Ich hätte dir geholfen.“ Jossi sagt: „Du warst aber nicht da.“
Eine amerikanische Journalistin erzählt von ihrem Projekt, ein Jahr in der Altstadt zu wohnen. Ein ultra-orthodoxer Politiker spricht im Wohnzimmer einer Meretz-Mitarbeiterin, die in der Stadtverwaltung arbeitet. Ein Flüchtling aus Darfur erzählt seine Geschichte und mit welchen Problemen er heute zu kämpfen hat. Ein Start-Up-Unternehmer berichtet über die Herausforderungen von jemenitischen Kindern.
„So oft leben wir nebeneinander her, jeder lebt in seiner ‚Blase‘“, sagt ein junger Mann, der zu einem der Vorträge gekommen ist. „Wir wissen so wenig voneinander. Diese Initiative bietet Möglichkeiten, einander kennenzulernen und Vorurteile abzubauen.“
Von: mh