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Der Abschied vom Überrabbi

Wie keine zweite Person prägte der am Montag verstorbene Rabbi Ovadia Josefs die Geschicke des Landes Israel in den vergangenen Jahrzehnten. Die schillernde Persönlichkeit machte mit wegweisenden Entscheidungen und markigen Sprüchen von sich reden. Offen ist, welche Zukunft die von ihm geführte Schass-Bewegung hat.
War eine schillernde Persönlichkeit: Rabbi Ovadia Josef, 1920-1913

Es waren gut vier Mal so viele Menschen wie bei der Beerdigung von Jasser Arafat, dem „Vater“ des palästinensischen Volkes, im November 2004. 850.000 Menschen erwiesen Rabbi Ovadia Josef die letzte Ehre, vielleicht waren es eine Million. Auch beim Begräbnis des ermordeten israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin war Jerusalem lahm gelegt. Aber damals, im November 1995, waren es Staatsmänner und Würdenträger aus aller Welt, die sich zu einer bis ins Detail durchorganisierten Zeremonie eingefunden hatten.

Jetzt, am 7. Oktober 2013, legte das Volk mit einer spontanen Massendemonstration innerhalb weniger Stunden die Hauptstadt Israels lahm. Polizei und Sicherheitskräfte zeigten sich völlig überrascht von dem Ansturm, der folgte, nachdem am frühen Nachmittag vor der Hadassah-Klinik in Ein Kerem verkündet worden war: Rabbi Chaim Ovadia Josef ist heute um 13.20 Uhr im Alter von 93 Jahren gestorben. Die Beerdigung, die nach jüdischer Sitte noch am Todestag stattzufinden hat, erwies sich als größte Menschenansammlung in der Geschichte Jerusalems.

Steile Karriere

Wer war der Mann, der so viele Menschen bewegte? Die einen verschrien ihn als Scharlatan, Mullah, Clown, begabten Komödianten, die anderen feierten ihn als „Mose unserer Generation“, „Wunder unserer Zeit“, „der größte Rabbi Israels“ oder „eine lebendige Tora“. Premierminister Benjamin Netanjahu bezeichnete Ovadia Josef als einen „der weisesten Männer unserer Generation“.

1920 wurde der Sohn von Jaakov und Georgia Jussef in Bagdad geboren. Seine Eltern gaben ihm den arabischen Namen „Abdullah“, „Knecht Allahs“. Vier Jahre später wanderte die Familie ins Land Israel aus, das damals britisches Mandatsgebiet Palästina war. In Jerusalem studierte der Junge, der sich nun „Ovadia“ – „Knecht des Herrn“ – nannte, an der Jeschiwa (Talmudschule) „Porat Josef“. Die Familie war arm und Ovadia musste von Kindheit an helfen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Früh erkannten seine Lehrer die außergewöhnlichen Talente des Jungen, der als Neunjähriger seine erste Bibelauslegung verfasste, mit zwanzig zum Rabbiner ordiniert wurde und in jungen Jahren, von 1947 bis 1950, als Richter am rabbinischen Gerichtshof in Kairo diente.

Die steile Karriere führte bis zum sephardischen Oberrabbiner Israels, dem „Rischon LeZion“, dem „Ersten Zions“, einem Amt, das er von 1973 bis 1983 bekleidete. Danach hatte Ovadia Josef kein offizielles Amt mehr inne. In den zurückliegenden drei Jahrzehnten war er vor allem bekannt als geistliches Oberhaupt der „Schass“-Bewegung und „Königsmacher“ auf der politischen Bühne des modernen Staates Israel.

Was war so besonders an dem alten Mann, den in den letzten Jahren nur seine engsten Vertrauten verstehen konnten? Zumindest behaupteten sie das, wenn sie seine Botschaften an die Öffentlichkeit vermittelten. Auch auf Hebräisch mussten seine Worte im Fernsehen mit Untertiteln versehen werden.

Einfluss und Charisma

Kaum eine andere Person hat in den vergangenen Jahrzehnten so viel Einfluss auf Staat und Gesellschaft Israels ausgeübt wie Rabbi Ovadia Josef. Praktisch jeder namhafte Politiker, ausschließlich jeder Premierminister und Staatspräsident Israels, hat sich um seinen Segen bemüht. Bei schwierigen Entscheidungen, sei das nun die Frage, ob man den Iran angreifen oder Gefangene austauschen sollte, konsultierten Politiker Rabbi Josef. Deshalb schrieb der Journalist Anschel Pfeffer im August 2012 nicht ganz zu Unrecht: „Rabbi Ovadia Josef ist der einzige Israeli, der darüber entscheiden kann, ob sein Land in den Krieg zieht, oder nicht.“

Zweifellos war der Mann mit der lila Sonnenbrille, dem eigenartigen Turban und dem schillernden Gewand ein Genie mit phänomenalem Gedächtnis, hat als großer Torah-Gelehrter Hunderte von Büchern verfasst. Die kommenden Jahre und Jahrzehnte werden erweisen müssen, ob er als fraglos außergewöhnlicher Meister der „Halachah“, der jüdischen Gesetzgebung, einen bleibenden Platz unter den Großen seines Volkes halten wird. Ovadia Josef war eine charismatische Persönlichkeit, die inhaltliche Kompetenz mit einem populistischen Führungsstil kombinierte.

Das Volk verstand, was der „Maran“ sagte. Den Titel „Maran“, „unser Meister“, kennen Christen aus dem 1. Brief des Paulus an die Korinther, den der Apostel mit dem aramäischen Ausruf beschließt: „Maran Ata!“ – „Unser Herr komm!“ (1.Kor 16,22). Trauernde erklärten während der Beerdigungsfeierlichkeiten von Rabbi Ovadia Josef: „Er war groß, weil er die Sprache der Menschen sprach und sich niemals so verhielt, als stünde er über ihnen. Er verhielt sich, als sei er einer von ihnen.“ Auch die politische Bewegung, die Rabbi Josef aufgebaut hat, sollte – so seine Anhänger – letztendlich nur dazu dienen, die Welt der Torah auszubauen.

Einende Kraft

Ovadia Josef hatte die seltene Begabung, die eigentlich heillos untereinander zerstrittenen Bewegungen des Judentums miteinander zu verbinden. Ihm ist es gelungen, die orientalischen Juden zu einen, die ihre Traditionen aus einer Welt mitbrachten, die vom Iran bis nach Marokko reicht. Auch aschkenasische, das heißt, europäische Juden zollten ihm höchste Achtung. „Revolutionär“ war aber vor allem die Renaissance der sephardischen Kultur und Gemeinschaft in Israel.

Josef verlieh seinem Volk, den sephardischen Juden, die von ihren aschkenasischen Volksgenossen nicht selten verachtet und diskriminiert werden, neuen Stolz. Dabei galt sein besonderes Augenmerk sozialen Missständen, wodurch er viele nicht-religiöse Anhänger aus allen Schichten und ethnischen Hintergründen der israelischen Gesellschaft gewann. All das vermochte er zu verbinden mit einem besonderen Nachdruck auf dem Studium des jüdischen Gesetzes und der Torah. Unter dem Slogan „die uralte Krone wiederherstellen“ verband er seine brillanten halachischen Fähigkeiten mit der Ermächtigung der unteren sozialen Schichten.

Wegweisende Entscheidungen

Rabbi Josef wagte es, zu halachischen Fragen Entscheidungen zu treffen, denen rabbinische Autoritäten seit Jahrhunderten aus dem Wege gegangen waren. Das gilt vor allem für Urteile im Blick auf die Anerkennung von Geschiedenen, Witwen und illegitimen Kindern. So befreite er nach dem Jom-Kippur-Krieg durch eine außergewöhnliche Entscheidung fast tausend junge Frauen, deren Männer gefallen, aber nicht identifizierbar waren, vom Status der „Agunah“, der „gebundenen Frau“, und ermöglichte ihnen eine Trauerzeit und Wiederheirat.

Wegweisend war eine Entscheidung in den 1970er Jahren, als Josef „die Heiligkeit des Lebens“ über „die Heiligkeit des Landes“ stellte. Das bedeutet, dass im Falle einer Kollision der Interessen ein einziges Menschenleben wichtiger ist als der Besitz des verheißenen Landes. Politikern wurde dadurch ermöglicht, Land abzugeben, um Menschenleben zu retten. Rabbi Josef sanktionierte dadurch die Rückgabe des Sinai an Ägypten im Rahmen eines Friedensvertrags. 1993 enthielten sich seine sechs Schass-Abgeordneten bei der Abstimmung in der Knesset über die Abkommen von Oslo der Stimme und wurden so zum „Zünglein an der Waage“ zu Gunsten des politischen Prozesses mit den Palästinensern.

Durch seine halachische Entscheidung, die äthiopischen Juden als Juden zu betrachten, ermöglichte er deren Einwanderung nach Israel. Josef erlaubte die Organspende im Falle eines Hirntodes. Als vehementer Gegner des charismatischen Enthusiasmus der Chassiden legte er Wert auf die Schriftauslegung und rationale Begründungen von richterlichen Entscheidungen. So wurde vor allem das Judentum der Sepharden lebensnäher und verlor durch den Einfluss Ovadia Josefs zweifellos an Ritual und Aberglauben.

Markige Sprüche

Politische und religiöse Gegner wurden vom „Maran“ nicht mit verbalen Ausfällen verschont – wobei seine kernigen Sprüche vor allem während der Predigten am Samstagabend, am Schabbatausgang, zur öffentlichkeitswirksamen Geltung kamen. So sagte er über säkulare Juden, sie hätten „die Torah verlassen“ und seien „zu Narren geworden“. Über die Meretz-Abgeordnete Schulamit Aloni erklärte er: „An dem Tag, an dem sie stirbt, sollte ein Fest gehalten werden.“ Und über ihren Parteifreund Jossi Sarid: „Er sollte an einem fünfzig Ellen hohen Galgen (wie der Judenhasser Haman im Buch Ester) aufgehängt werden.“ Im zurückliegenden Jahr bezeichnete er die nationalreligiöse Partei „Jüdisches Haus“ unter Leitung von Naftali Bennett als „Heidenhaus“ und David Stav, den nationalreligiösen Kandidaten in den jüngsten Wahlen zum Oberrabbiner Israels, als „Halunken ohne Gottesfurcht“. Premierminister Benjamin Netanjahu war von Ovadia Josef als „blinde Ziege“ und Avigdor Lieberman als „Amalek“, als Erzfeind des Volkes Israel, betitelt worden.

Insofern erstaunt nicht, wenn etwa Abraham H. Foxman von der Anti-Defamation League (ADL) in einem Nachruf Ovadia Josef als „überragende rabbinische Figur im Judentum“ bezeichnet, dann aber in typisch jüdischer Offenheit nachlegt: „Es ist kein Geheimnis, dass wir mit einigen seiner Äußerungen nicht einig waren, weil wir sie für unangemessen und einseitig hielten.“ Der beispiellose Einfluss dieses sephardischen Rabbiners, verbunden mit einer inhaltlichen Radikalität und völlig undiplomatischen Rhetorik, ließ ihn vielen seiner säkularen und nicht-orthodoxen Zeitgenossen unheimlich, ja bedrohlich erscheinen.

Die Persönlichkeit von Rabbi Ovadia Josef erscheint so schillernd wie die Brokatstickereien auf seinem Prunkgewand. 2005 erklärte er den Hurrikan Kathrina in den Vereinigten Staaten als Strafe für die Gottlosigkeit von New Orleans und den amerikanischen Druck, der den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen erzwungen hatte. In einer öffentlichen Predigt bezeichnete er 2001 die Araber als „Schlangen“ und „Ameisen“ und meinte: „Es ist verboten, sie gnädig zu behandeln. Man muss ihnen Raketen schicken und sie vernichten. Sie sind böse und verdammungswürdig.“

Im Jahr 2000 hatte Josef einen Aufruhr verursacht mit der Aussage, die Opfer des Holocaust seien die Reinkarnation jüdischer Seelen, die in einem früheren Leben gesündigt hätten. Später erklärte er, dass diese Aussage – die übrigens im Einklang mit mystischen Traditionen des Judentums steht – nur dazu gedacht war, eine theologische Erklärung für das Leiden der Holocaustopfer zu finden. Grundsätzlich wolle er daran festhalten, dass „alle Holocaustmärtyrer heilige und reine Menschen“ seien.

Herde ohne Hirten

Seit Jahren ist klar, dass der „Maran“ der Einzige ist, der die ultraorthodox-sephardische Schass-Partei zusammenhält. „Rabbi Ovadia Josef hat Schass geschaffen“; „Josef war Schass und Schass war Josef“; „Jetzt muss sich Schass ganz neu selbst erfinden“ – sind einige der Schlagworte, mit denen Kommentatoren ein Politbeben in Folge des Todes des Überrabbi vorhersehen.

Seit Jahren wird spekuliert, was passieren würde, „sollte Rabbi Ovadia Josef nicht 120 werden“. Jetzt weiß niemand, was mit der „Herde ohne Hirten“ geschehen soll. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Es wird spannend, wie sich die Bewegung weiter entwickeln wird, die in den vergangenen Jahrzehnten Gesellschaft und Politik Israels beeinflusst hat wie keine zweite. (jg)

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