Mit einer Gruppe aus Deutschland bin ich Anfang Dezember für einen Tag in Südisrael. Für eine Woche sind 21 Christen aus Deutschland gekommen, um zu zeigen, dass sie an Israels Seite stehen. In einem Gewächshaus an der Grenze zu Gaza geizen sie Tomatenpflanzen aus, weil Arbeiter aus dem Ausland nach Hause geflohen und die einheimischen Mitarbeiter größtenteils zur Armee eingezogen sind. Sie besuchen eine Schule in Jerusalem, in der evakuierte Kinder aus Südisrael lernen. In Tel Aviv hören sie Angehörigen von Entführten zu. Sie wollen helfen, trösten und ein Zeichen setzen: „Gerade jetzt, in dieser schweren Zeit, stehen wir an Israels Seite.“
Weil ich darüber schreiben möchte, was die Deutschen bewegt, ausgerechnet in dieser schlimmen Zeit nach Israel zu kommen, begleite ich sie auf ihrer Fahrt nach Nir Os. Der kleine Kibbutz gehört zu den Ortschaften, in denen die Hamas-Terroristen am 7. Oktober wüteten. Der Gazastreifen befindet sich in Sichtweite, Raketeneinschläge waren schon seit vielen Jahren keine Seltenheit. Die 400 Bewohner blieben trotzdem – weil sie ihr Zuhause liebten. Auch Amit verbrachte die ersten 30 Jahre seines Lebens dort. Seit 15 Jahren wohnt er im wenige Kilometer entfernten Nir Jitzchak. Auch dort gibt es schon seit Jahren immer wieder Raketenalarm. Und auch dort griffen die Terroristen an jenem „schwarzen Schabbat“ an.
Auf Bitte eines Armeesprechers führt Amit uns – von Soldaten begleitet – durch den Kibbutz. Was wir sehen, ist schrecklich. Nur wenige Häuser blieben von den Terroristen verschont. Die meisten sind verbrannt. Der Israeli zeigt uns die Häuser und erzählt die zugehörigen Geschichten. Dort, wo Türen intakt sind, kleben die allgegenwärtigen Poster an den Häusern: „Entführt – Familie Munder. Bibas. Kalderon. Tal.“ Die Liste ließe sich fortsetzen. Etwa 160 Einwohner sind entweder brutal ermordet oder entführt worden. An die Hauswände sind Zahlen und Symbole in verschiedenen Farben gesprüht; ein Zeichen, dass sie von der Armee durchsucht wurden – darin befinden sich keine Terroristen mehr und keine Waffen.
Eine surreale Begegnung
„Sie haben einfach die Gasleitung der einzelnen Häuser gekappt und angezündet“, sagt Amit. Vögel zwitschern laut. Die ganze Kulisse wirkt unheimlich. Und unwirklich, fast wie in einem Film. Ich bleibe zurück und befrage einen Mann, der ein zerstörtes Haus räumt. Sein Bruder wird noch immer von der Hamas in Gaza festgehalten. Er ist froh, erzählen zu können.
Nun habe ich den Anschluss zur Gruppe verloren. Auf dem asphaltierten Gehweg laufe ich weiter. Schließlich sehe ich die Gruppe an einer großen Betonplatte. Dass dort mal ein Haus gestanden hat, erkenne ich erst auf den zweiten Blick. Auf einem verbrannten Stück Blech (war das mal ein Auto?) sehe ich ein zerrissenes Poster: „Gelienor Pacheco, 33 Jahre. Bringt ihn nach Hause.“ Das Bild zeigt einen Asiaten. Den Israelis ist er offensichtlich als Jimmy bekannt. Ich versuche, die Situation zu verstehen und schaue mich suchend um. Mit ihrem Tourguide ist die Gruppe auf einen Aussichtsturm gestiegen, von wo die Besucher nach Gaza blicken.
Plötzlich fällt mir ein junger Mann mit dunkler Haut auf. Er läuft umher, ich schaue auf ihn, dann auf das Poster. Ungläubig frage ich: „Aber das ist doch nicht…?“ „Doch“, antwortet jemand. Ich drehe mich zur Seite und sehe einen der Soldaten. „Das ist Jimmy. Er war als Geisel in Gaza.“
Ungläubig schaue ich erst auf den Soldaten, dann auf Jimmy, dann zum Poster. Es ist ja zerrissen, so richtig sehen kann ich das Gesicht nicht. „Du bist Jimmy?“, rufe ich ihm, noch immer vor dem Plakat stehend, auf Englisch zu. „Ja“, antwortet er auf Hebräisch. ‚Dieser Mann war sieben Wochen in den Händen der Hamas!’, denke ich. Bei der ersten Geiselübergabe am 24. November wurden neben den 13 Israelis außerdem zehn Thailänder und er als einziger Filipino freigelassen.
Zurück am Ort des Geschehens
Amit erklärt: „Nach seiner Befreiung ist Jimmy heute zum ersten Mal zurück nach Nir Os gekommen.“ ‚An den Ort‘, schießt es mir durch den Kopf ‚wo er mehrere Jahre als Pflegekraft für den 80-jährigen Amitai Ben Zvi arbeitete.‘ Das hatte ich in den Medien gelesen. Der alte Mann war an jenem Schabbat brutal ermordet worden, Jimmy entführt. „Als er heute Morgen kam“, sagt Amit, „hat er sein Foto an dem Baum gesehen und es zerrissen.“
Ich möchte ihm so viele Fragen stellen: Wo haben sie dich festgehalten? Waren andere Entführte in deiner Nähe, mit denen du sprechen konntest? Hattest du genug zu essen? Zu trinken? Konntest du schlafen? Hast du die Sonne gesehen? Hast du geglaubt, dass du je wieder frei sein würdest? Hast du noch Vertrauen in die Menschheit? Wie geht es deiner Familie? Was hast du gesehen, als die Terroristen deinen „Abba“ (Vater) Amitai massakrierten? Bist du versorgt? Wann fliegst du zu deiner Familie auf die Philippinen?
Doch wie beginne ich ein Gespräch mit jemandem, der sieben Wochen an einem Ort war, der wie die Hölle gewesen sein muss? Der Gruppe wollte Jimmy nicht erzählen. Doch als ich zögerlich auf ihn zugehe, lächelt er freundlich. Fassungslos frage ich: „Bist du wirklich der Jimmy von dem Poster?!“ Er nickt. Spontan rufe ich ihm zu: „Willkommen zurück. Gut, dass du das Poster zerrissen hast. Wie schön, dass du wieder da bist!“
„Zu den Israelis waren sie noch viel schlechter“
„Danke“, antwortet er lächelnd, an einen Laternenpfahl gelehnt. „Wie haben sie dich behandelt?“, frage ich zurückhaltend. Der junge Soldat kommt einen Schritt näher. „Nicht gut“, antwortet Jimmy vage in gebrochenem Hebräisch. „Doch zu den Israelis waren sie noch viel schlechter.“ Jimmy setzt sich ins Gras. „Jeden Tag habe ich ein Wort auf Arabisch gelernt: Rus bedeutet Reis“, erklärt er nun dem israelischen Soldaten „und maj Wasser.“ Das Wort „Inschaallah“ (hoffentlich, so Gott will) muss er nicht erklären, das kennt jeder Israeli. Der Soldat ruft aus: „Das ist unglaublich!“ Und an Jimmy gewandt: „Du bist ein Held.“ Ich frage dann doch: „Was haben sie dir gesagt, als du freikamst?“ Jimmy weicht aus: „Jeden Tag haben sie gesagt: Bukra, morgen, ist es so weit.“
Der junge Mann sitzt immer noch im Gras, einen Kopfhörer im Ohr. Er scheint unsere Aufmerksamkeit zu genießen. Gerne möchte ich ihm zeigen, dass er als einer von 240 Entführten jemand ist, an dessen Wohl alle Israelis und Freunde Israels in den vergangenen Wochen Anteil genommen haben. Doch ich fühle mich hilflos: „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du hier bist. So gern würde ich dich umarmen!“ Unvermittelt steht er auf, hebt seine Hände und sagt lächelnd: „Du darfst.“ Ich nehme ihn in den Arm und halte ihn ganz fest. Er erwidert die Umarmung. Als ich ihn loslasse, sage ich ihm: „Hör zu, du musst wissen, dass alle, die hier gerade herumlaufen, dich gerne umarmen und am liebsten nie mehr loslassen würden.“ Der Soldat nickt zustimmend und schüttelt fest Jimmys Hand.
„Wie hast du es so lange dort ausgehalten?“, frage ich. Jimmy antwortet: „Ich habe immer gedacht, dass ich meine Familie wiedersehen möchte.“ In Medienberichten lese ich später, dass Jimmy eine Frau und drei Kinder hat. Um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen, hat er sie für einige Jahre verlassen. In Israel verdient er ein Vielfaches von dem, was er auf den Philippinen bekommen würde. Nach seiner Freilassung teilte die philippinische Botschaft in den Sozialen Medien Jimmys Reaktion: „Nur dank Gottes Hilfe habe ich überlebt. Während meiner Entführung habe ich nur an meine Familie gedacht. Als ich dort war, war mein einziger Wunsch, zu überleben und sie wiederzusehen.“
Lachen für ein neues Leben
Den Moment kann ich immer noch nicht begreifen. Und kann den Impuls nicht unterdrücken, ein Foto zu machen. Deshalb frage ich: „Jimmy, ist es okay, wenn wir ein Selfie machen? Wir drei zusammen?” Er zögert. Ich sage: „Für mich, als Erinnerung an diesen besonderen Moment.“ Jimmy ist einverstanden. Wir positionieren uns vor meinem Handy, ich mache ein Bild. Auch der Soldat zückt sein Handy und drückt auf den Auslöser.
Wir verabschieden uns. Jimmy setzt sich wieder an den Laternenpfahl. Der Soldat und ich gehen schweigend zurück zur Gruppe. Dann frage ich: „Wie heißt du eigentlich?“ „Os“, antwortet er und erzählt, dass er Armeesprecher ist. Eine halbe Stunde später ist die Führung durch den Kibbutz beendet. Ich gehe auf Os zu: „Ich möchte nicht gehen, ohne dir die Hand zu schütteln.“ Auch er hat Mühe, Worte zu finden. Denn die können nicht beschreiben, was wir erlebt haben. Wir gucken uns an. „Danke für diese unvergessliche Erfahrung“, sagt er. „Danke dir“, erwidere ich.
Auf der Rücktour nach Jerusalem schaue ich das Selfie auf meinem Handy an. Ich weiß nicht, wer von uns dreien das breiteste Lächeln zeigt. Wir stehen vor den Trümmern des Hauses, in dem Jimmy den schlimmsten Tag seines Lebens erlebt hat. Doch auf mich wirkt das Bild, als stünden hier drei Freunde, die sich seit Jahren kennen. Wir lachen, als hätten wir soeben den schönsten Tag unseres Lebens miteinander verbracht.
Immer, wenn ich mir das Foto anschaue, denke ich an diese unwirkliche, besondere Begegnung zurück. Mir huscht dann wieder ein breites Lächeln über das Gesicht und ich denke: Halleluja! Jimmy ist zurück – bei uns, im Leben!
» Grabsteinlegung für einen gefallenen Soldaten
5 Antworten
Danke für den Bericht. Ich wünsche „Jimmy“ nach seiner Freilassung weiterhin alles Gute, und für seine Familie.
Danke für den Bericht. Alles Gute wünsche ich euch, und dass auch alle anderen Geiseln gesund zu Familienangehörigen zurückkehren können. Shalom
Mögen die restlichen Geiseln endlich freikommen und ein neues Leben beginnen dürfen. Für einige besteht wohl kaum noch Hoffnung… Weiter beten!
Hoffentlich schafft es die IDF bis zur einer evtl. Waffenruhe bis zum Ramadanbeginn, ihr Ziel zu erreichen.
Danke für diesen Bericht. Worte können nicht ausdrücken, was ich dabei empfinde.
Sehr wertvoller Bericht, vielen Dank.Gottes Segen weiterhin für alle Berichterstattung.