Israelnetz: Der Verein _erinnern.at_ möchte die Erinnerungskultur in Österreich von einer „Betroffenheitslehre“ in eine „Mitverantwortungslehre“ ändern. Welche Entwicklungen waren der Auslöser hierfür?
Victoria Kumar: Die „Waldheim-Debatte“ um den österreichischen Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim, von 1986 bis 1992 im Amt, führte zu einer veränderten Erinnerungskultur in Österreich. Seine Vergangenheit als Offizier der Wehrmacht hatte Waldheim in biographischen Berichten stets ausgelassen.
Damit verbundene Fragen nach der Verantwortung Österreichs für die NS-Verbrechen veränderten die bisherige „Opferthese“, wonach Österreich 1938 „erstes Opfer Hitlers“ gewesen sei. In der Folge rückten die Geschichten der Opfer stärker ins Zentrum der Historiographie und des Erinnerns und es entstanden größere Interviewprojekte mit Überlebenden.
Wie wirkte sich diese Entwicklung auf internationale Beziehungen Österreichs aus?
Die innerösterreichische Beschäftigung mit der Frage einer Mittäterschaft förderte den internationalen Dialog. 1996 wurde das erste bilaterale Memorandum zwischen Israel und Österreich in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Kultur unterzeichnet.
Wenige Jahre später entwickelte ein vom österreichischen Unterrichtsministerium beauftragtes Projektteam gemeinsam mit der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Fortbildungsseminare für österreichische Lehrpersonen in Israel. Aus diesem Projekt ging im Jahr 2000 der Verein _erinnern.at_ hervor.
Wie erreichen Sie, dass die Themen Holocaust und Antisemitismus zielführend und nachhaltig unterrichtet werden?
Dies gelingt durch niederschwellige Fortbildungen und Unterrichtsmaterialien, die zum Teil ausgezeichnet wurden und international als „Best-practice“-Beispiele gelten. Nationalsozialismus und Holocaust sind Themen, die seit drei Jahrzehnten fixer Bestandteil des schulischen Lernens sind. Entscheidend sind qualifizierte Lehrpersonen mit Fachwissen und einer reflektierten Haltung.
Die Auseinandersetzung bleibt für Staat und Gesellschaft sowie vor allem in den Schulen unabdingbar. Schließlich geht es bei diesem Thema immer auch um die Wahrung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Wir wollen die Bedeutung von individuellen und kollektiven Handlungsspielräumen als wesentliche Lehre des Nationalsozialismus vermitteln – dies soll im Bildungsbereich stärker verankert werden.
Antisemitismus- und Rassismusprävention müssen fächerübergreifend in die Lehrpläne aufgenommen werden. Für die Zukunft stellen wir uns unter anderem die Frage, wie sich die zunehmende Digitalisierung und Heterogenität in den Klassen sowie das nahende Ende der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auf den Unterricht auswirken wird.
Müssen alle österreichischen Lehrerinnen und Lehrer eine Bildungsreise nach Israel unternehmen?
Im Gegenteil, alle Angebote von _erinnern.at_ sind freiwillig absolvierbar. Zu unserer Freude zeigt sich die Nachfrage an den Seminarreisen nach Israel seit 20 Jahren beständig groß. Die zweiwöchigen Reise ist in zwei Lehrgänge der Pädagogischen Hochschulen Salzburg und Oberösterreich eingebettet.
In Israel kooperieren wir mit der International School for Holocaust Studies an den Gedenkstätten Yad Vashem und Lohamei HaGetaot (Museum der Ghettokämpfer). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer begegnen jüdischen und palästinensischen Israelis und erhalten Einblicke in den Staat Israel. Nach Absolvierung des Seminars sollen sie als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren tätig werden und das erworbene Wissen in ihrem Arbeitsumfeld weitergeben.
Welche Rückmeldungen erhalten Sie nach den Bildungsreisen der Lehrpersonen nach Israel?
Seit 2000 haben in etwa 800 Lehrerinnen und Lehrer sowie außerschulische Pädagoginnen und Pädagogen Seminare in Israel absolviert. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer vermitteln, dass die Erfahrungen auf der Reise und besonders die Begegnungen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einen starken Eindruck hinterlassen haben. Auch übernehmen viele zahlreiche Anregungen und Materialien der Reise für ihren Unterricht.
Eine Stimme einer Seminargruppe sagte beispielsweise: „Ich bin begeistert, auf welch anschauliche und leicht verständliche Art und Weise Jehuda Bauer Geschichte vermittelt. Durch unzählige Beispiele, Anekdoten, Geschichten und sogar Witze gelingt es ihm, aktuelle Probleme und Entwicklungen nachvollziehbar zu machen. Wir müssen mit den Schülerinnen und Schülern klar sprechen und Dinge beim Namen nennen. So kann man die Geschichte für junge Menschen greifbar machen und sie für das Fach begeistern.“
Wie reagieren Israelinnen und Israelis auf die Arbeit und Angebote des Programms _erinnern.at_?
Nach Palästina/Israel geflüchtete Österreicherinnen und Österreicher, die in Israel mit österreichischen Lehrerinnen und Lehrern und im Zuge von Reisen nach Österreich mit Schülerinnen und Schülern in Kontakt kommen, beschreiben den Austausch mit österreichischen Jugendlichen und die Weitergabe ihrer Geschichte an die nächsten Generationen als besonders bedeutend und wertvoll. Viele sind langjährige Begleiterinnen und Begleiter von _erinnern.at_ und auch zu den israelischen Partnerinstitutionen besteht eine jahrelange fruchtbare Kooperation.
Wie reagieren österreichische Schülerinnen und Schüler auf die Lehre einer „Mitverantwortung“?
Im Idealfall stellen die Schülerinnen und Schüler selbst fest, wo die Relevanz für das Heute liegt. Unser Programm gibt keine Antworten vor, sondern begleitet und unterstützt Lernende und Lehrende mit wertvollen Unterrichtsmaterialien bei der Auseinandersetzung. Mitnichten soll das Thema durch Pädagogisierung in Gefälligkeit oder Beliebigkeit münden, sondern für die Schülerinnen und Schüler in der Gegenwart relevant erscheinen.
Nicht erst pandemiebedingt entwickelt _erinnern.at_ digitale Lernmaterialien, die auf Videointerviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen basieren. Besonders den Biographien kommt eine entscheidende Rolle im Unterricht zu. Die Beschäftigung mit konkreten Biographien von Opfern, Tätern und Außenstehenden beantwortet geschichtliche Fragen und gibt Orientierung für die Gegenwart.
Wo sehen Sie noch Bedarf für Verbesserungen im österreichischen Bildungssystem?
_erinnern.at_ hat sich über die Jahre hinweg zum Vorreiter im Bereich Holocaust Education entwickelt. Die Integration des Programms in den OeAD ermöglicht zahlreiche Anknüpfungspunkte zu weiteren Arbeitsfeldern des OeAD, wie dem Digitalen Lernen oder der Kultur- und Wissenschaftsvermittlung. Wünschenswert sind aus unserer Sicht weitere Bildungsangebote in englischer und leichtverständlicher Sprache. Auch wären weitere Materialien speziell für Polytechnische Schulen, Berufsschulen und für den Primarbereich nötig.
Zur Person
Dr. Victoria Kumar ist Historikerin und leitet das Programm _erinnern.at_ im OeAD – Österreichs Agentur für Bildung und Internationalisierung; davor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Jüdische Studien Graz und am Center for Austrian Studies, The Hebrew University of Jerusalem, Israel. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, Flucht und Exil nach/in Palästina/Israel, Antisemitismen, Erinnerungskulturen.
6 Antworten
Dieses Angebot an Fortbildung ist sehr zu begrüßen und möge es auch langfristig Frucht bringen.
Leider gibt es auch ein ABER. Der „Hintermann“ hinter jeglichen antisemitischen Aktivitäten ist niemand
Geringerer als der Böse, der Diabolos, der Durcheinanderbringer selber. Eph.6.. 12 Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.
Es ist die Sozialisation die dafür sorgt, das neonazistische Ideologie und Antisemitismus weitergegeben werden. In Deutschland haben die Altnazis nach 45 weiterhin die Schaltstellen der Republik besetzt. In Universitäten, als Beamte, in Richterfunktionen, in allen Schulen nicht zuletzt in den Fabriken durch die Industriellen und diejenigen, die für den Aufbau der Bundeswehr – konnte mit den bekannten Ergebnissen – unterschwellig ihr Schmutz weiterverbreiten werden. Kaum hatten die Alliierten die Wehrmacht besiegt – waren die Deutschen die OPFER – nicht umsonst blöken Neonazis noch 2022 den Unfug vom Bombenholocaust. Gegen die Vergiftung durch das eigene soziale Umfeld kommt Fortbildung leider nur sehr schwer an. Dem Projekt ist dennoch viel Erfolg zu wünschen.
Wir wollen hören, was Historiker zum Holocaust sagen, was Gottes Wort und seine Propheten dazu sagen, da machen wir lieber die Augen zu. Wer jedoch von einer „falschen Ursache“ ausgeht, wird keine „richtige Lösung“ finden können.
L.G. Martin
Ich habe statt eines Kommentars eine Frage: wie lautet das Pen.dant in Deutschland?
Die Aufarbeitung der Morde an Juden in der NS Zeit ist gut und wichtig. Wo bleibt aber die Aufarbeitung der gegenwärtigen vielen Morde an Juden durch islamistische Terroranschläge? Hier kann man von einer „Mitverantwortung“ sprechen, doch nicht bei den Verbrechen in der NS Zeit.
Das ist eine begrüßenswerte und notwendige Entwicklung. Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsdiensten wie sie der derzeitige Mossadchef begrüßt, damit Verbrechen verhindert werden können und ein Normalisierungsprozess stattfinden kann.