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Brief an einen gefallenen Soldaten

Mordechai Amujal ist einer von mehr als 800 Soldaten, die seit dem Angriff der Terror-Organisation Hamas vor mehr als einem Jahr im Gazastreifen und Südlibanon gefallen sind. Merle Hofer hat ihm einen Brief geschrieben.
Von Merle Hofer
Sticker Mordechai Amujal

Hallo Mordechai,
du kennst mich nicht. Aber ich habe in den vergangenen Wochen viel über dich erfahren und sehr häufig an dich gedacht. Wir sind uns nie begegnet. Vielleicht hast du mal von mir gehört, als dein Bruder dir erzählte, dass ich ihn und seine Familie besucht habe. In den vergangenen Jahren habe ich ihn, seine Frau und die fünf Kinder sowie eure Eltern kennen- und schätzen gelernt. Als Freundin der Familie bin ich ihnen auf diversen Feiern begegnet, dich aber habe ich nie getroffen.

Du bist genau zwei Jahre älter als ich und als einer von inzwischen mehr als 800 Soldaten im Krieg „Eiserne Schwerter“ gefallen. Die meisten Soldaten sind 19, 20, 21 oder 22 Jahre alt. Klar, es gibt auch 30-Jährige. Aber 42 Jahre – das kommt nicht so häufig vor und so bist du unter den älteren gefallenen Soldaten dieses furchtbaren Krieges.

Nach der Tragödie des 7. Oktober hast du dich sofort zum Reservedienst gemeldet. Erst warst du einige Monate in der Kommandozentrale. Immer wieder hast du dich freiwillig gemeldet. Und dann, als der Krieg im Norden gegen die Hisbollah losging, hast du den Dienst in einer Kampfeinheit angetreten, genauer gesagt, in der Carmeli-Brigade, im Bataillon 22. Nicht etwa aus Abenteuerlust oder weil du Langeweile hattest. Auch nicht, weil du diesen blutigen Krieg gutheißt. Sondern weil du Verantwortung übernehmen wolltest. Und weil du verstanden hast, dass es bei diesem Krieg um die Existenz deines Landes, deines Volkes und deiner Familie geht.

Dafür hast du sogar in Kauf genommen, dass deine Kommandanten jünger waren als du. Obwohl du locker selber hättest führen können. Weil es in deiner Natur lag, Verantwortung zu übernehmen.

Aufgrund deines Alters und weil du sechs Kinder hast, warst du eigentlich längst vom Reservedienst befreit. Du bist trotzdem gegangen, ganz bewusst. Und warst im vergangenen Jahr mehr als 250 Tage im Einsatz. Das heißt, an diesen Tagen warst du nicht zu Hause, bei deiner Frau und euren Kindern. Nicht bei deinen Eltern und Schwiegereltern. Ich kann mir kaum vorstellen, wie deine Familie das ausgehalten hat, auch weil deine Kinder ja noch so klein sind. Aber sie haben es wohl verstanden. Weil sie dich kannten und liebten. Oder, wie deine Älteste, die 13-jährige Schira, es auf der Beerdigung ausdrückte: „Du hast es getan, weil es so sehr dir entspricht!“

250 Tage in wenig mehr als einem Jahr sind ganz schön viel Zeit. Aber nun kommst du gar nicht mehr wieder. Weil du vor fünf Wochen im Libanon gefallen bist.

Gefallen am Freudenfest Simchat Tora

Es war ein Mittwoch und der Feiertag Simchat Tora. Eigentlich ist das ein fröhlicher Tag für euch Juden. Weil ihr euch daran erinnert, wie Gott euch sein Wort, die Tora, gegeben hat. Vor einem Jahr fand an diesem Tag das schreckliche Massaker statt und in diesem Jahr fiel es deshalb Vielen schwer, die gebotene Freude zu zeigen. Ich hab mich gefragt, wie du dich in diesem Jahr wohl auf diesen Tag vorbereitet hast.

Grabstein Foto: Israelnetz/mh
Der Grabstein des 42-jährigen Mordechai Amujal auf dem Jerusalemer Militärfriedhof auf dem Herzlberg

Zwei Tage später, am Freitag, wurdest du auf dem Herzl-Berg bestattet. Hunderte sind gekommen: Familie, Verwandte, Freunde, Kameraden und Nachbarn. Auch ich war da, und es tat weh, deine alten Eltern, deine Nichten und Neffen, die mir in den vergangenen Jahren ans Herz gewachsen sind, in Trauer zu sehen.

Ob du wohl ihre Trauer- und Abschiedsreden gehört hast? Mir hat fast der Atem gestockt, als ich gehört habe, wie und was sie von dir gesprochen haben. Deine Kinder, Freunde und Kameraden erzählten, wie sehr du die Tora geliebt hast. Und alles dafür getan hast, sie ihnen lieb zu machen. Wie du jede freie Minute genutzt hast, etwas Sinnvolles mit deiner Zeit anzufangen. Zuhause hast du am Schabbat deinen Kindern, Nichten, Neffen und Nachbarskindern spielerisch die Tora nahegebracht.

Das Totengebet Kaddisch sprachen der Vater, Bruder und Sohn des Soldaten

Dein Kommandeur erzählte, dass du die freie Zeit im Reservedienst genutzt hast, um deine jungen Kameraden die Bibel zu lehren. Er sagte, sie hätten oft deine Nähe gesucht. Weil du trotz deiner Verspieltheit der Ruhepol der Einheit warst. Auch, weil du die Kameraden ermutigt hast, wenn es Spannungen untereinander gab. Und weil du um deine Verantwortung wusstest.

Auch Rina, deine Frau, hat sich öffentlich von dir verabschiedet. Aus ihren Worten sprach so viel Liebe. Und ich hab mich gefragt, wo sie die Kraft hernimmt, mit dieser Klarheit zu sprechen. Trotz der unendlich großen Trauer hat sie soviel Ruhe und Souveränität ausgestrahlt. Deine drei ältesten Kinder Schira, Nadav und Ajana haben ebenfalls gesprochen. Ich konnte gar nicht glauben, wie sie es geschafft haben, in dieser kurzen Zeit ihre Gedanken zu ordnen, und vor so vielen Menschen vorzutragen, wer du für sie bist – und für immer sein und bleiben wirst.

Bewegend war auch die Rede deines alten Vaters Aaron. In dem Gebet, dass er verzweifelt, aber voll Vertrauen, an „den Allmächtigen“ richtete, wurde sein Glaube deutlich. An dich gewandt sagte er: „Für mich und deine Mutter war es ein Geschenk, dass wir dich großziehen durften.“

Mir kamen die Tränen, als er an deinem Grab mit gebrochenem Herzen, aber mit lauter und fester Stimme deiner Frau versicherte: „Rina, wir werden dich niemals allein lassen. Wir werden immer für dich und die Kinder da sein.“ Als dein Vater, dein Bruder und dein Sohn Nadav – mit seiner hellen kindlichen Stimme und mit seinen zwölf Jahren noch nicht einmal religionsmündig – gemeinsam das Kaddisch, das Totengebet, sprachen, da blieb wohl kein Auge trocken.

Eine 13-Jährige sitzt Schiva

Die Schiva, die Trauerwoche, hat deine Familie bei deinem Bruder in dessen Dorf in der judäischen Wüste begonnen. Man erzählte mir, dass Hunderte gekommen waren. Ab dem zweiten Tag wurde die Schiva bei deiner Frau und euren Kindern, in eurem Zuhause in Lod, abgehalten. Auch ich kam an einem Abend zu Besuch, um Anteil zu nehmen. Euer kleiner Hof war restlos überfüllt, es waren mit Sicherheit 100 Leute da, deine Kinder und zahlreiche Nichten und Neffen beschäftigten sich im Wohnzimmer. Menschen kamen, blieben und gingen.

Schiva Foto: Israelnetz/mh
Zur Schiva, der Trauerwoche, kamen Freunde, Nachbarn, Kameraden, um Anteil zu nehmen

Mich traf gleich der erste Anblick, als ich auf den Hof kam, mitten ins Herz: Auf den üblichen Plastikstühlen saß Schira mit etwa 15 Freundinnen im Kreis. Sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und erneut wurde mir die Grausamkeit der Realität bewusst. Die 13-Jährige sollte sich mit ihren Freundinnen treffen, um fröhlich zu sein und eine gute Zeit zu haben – aber doch nicht, um um ihren Vater zu trauern.

Freunde und Arbeitskollegen von Rina und deinen Geschwistern kamen und sie erzählten ihnen und deinen Eltern von dir, und was ihr zusammen erlebt habt. Sie erzählten, nahmen Anteil, versuchten Worte zu finden, wofür es keine Worte gibt. Sie umarmten deine Familie oder saßen schweigend da.

Ein Mann kam, um zu erzählen, dass er am Tag zuvor einen Freund im Rambam-Krankenhaus in Haifa besucht habe. Dieser sei bis zum Schluss mit dir zusammen gewesen, und als du gestorben bist, wurde er verwundet. Über den Freund bestellte er „eine feste Umarmung“ an deine Familie. Er selber würde kommen, sobald er wieder gesund sei. Aber bis dahin solle sein Freund deiner Familie seine letzte Begegnung mit dir erzählen.

Ihr wart zusammen im Libanon, und etwa eine halbe Stunde bevor der Sprengsatz hochging, habest du dich an ihn gewandt und gesagt: „Irgendwas stimmt hier nicht“. Ihr hättet die Gegend abgesucht, aber nichts Verdächtiges festgestellt. Dann seiet ihr zurückgegangen, um wenig später wieder auszuschwärmen. Er habe dich gefragt, ob du zufällig etwas Süßes für ihn hättest. Aus deiner Tasche hättest du plötzlich einen Schokoriegel rausgezogen und gesagt: „Den habe ich für dich aufbewahrt“. Der Freund wehrte ab, den wollest du doch sicher selber essen. Aber du hast drauf bestanden, dass er ihn nimmt.

Es ist dieses bittersüße Gefühl, das für die Schiva so typisch ist: Zur vereinten Trauer gehört auch, sich lächelnd an den Verstorbenen zu erinnern. Bei der Anekdote mit dem Schokoriegel lächelten deine Frau und deine Geschwister schwach. Und ich musste an die Worte von Schira bei deiner Beerdigung denken: „Du hast es getan, weil es so sehr dir entspricht!“

Vorsorge für deine Kinder

Für deine Familie und Freunde müssen die vergangenen Wochen furchtbar gewesen sein. Und mich hat beeindruckt, zu sehen, wie deine Freunde sich um deine Familie kümmern. Und neben der, aktuell so dringend nötigen, Unterstützung, auch an die Zukunft denken. Sie haben eine Seite eingerichtet, über die sie Spenden für deine Kinder sammeln. Sogar eine Beschreibung auf Deutsch ist hinzugefügt.

Ziel der Kampagne ist, jedem einzelnen wenigstens eine kleine finanzielle Sicherheit zu geben, wenn sie volljährig werden. Deine kleine Talia ist ja gerade mal vier Jahre alt. Es freut mich zu sehen, mit welchem Eifer so Viele kleine und große Beiträge spenden, wohl in dem Bewusstsein, dass dieser Beitrag deinen Verlust nicht annähernd ersetzen kann.

„Tekes HaSchloschim“, die 30er-Zeremonie

Am vergangenen Freitag kamen deine Familie und Freunde erneut auf dem Herzl-Berg zusammen. Zur „Tekes HaSchloschim“, der „Zeremonie nach 30 Tagen“, wird der Grabstein enthüllt und Psalmen verlesen. Und wie auch bei der Beerdigung, war ein stummes Schluchzen der Anwesenden zu hören und wenn ich es richtig gesehen habe, konnte auch der Militärrabbiner nur mit Mühe seine Tränen unterdrücken.

Bei der „Schloschim“-Zeremonie verden Psalm-Verse gelesen, deren erstes Wort mit den Buchstaben M-R-D-CH-I beginnt

Eine deiner Nichten sagte: „Ich weiß, dass du jetzt an einem besseren Ort bist.“ Verzweifelt rief sie aus: „Aber für uns ist es schrecklich. Warum musste es ausgerechnet dich treffen?! Du fehlst mir so sehr, lieber Onkel!“ Deine Mutter erzählte, wie die jungen Leute ihr erzählt haben, wie sehr sie dich geschätzt haben und du sie geprägt hast, als du in eurer Jugendgruppe eine Leitungsfunktion hattest. Es war herzzerreißend, zu hören, wie deine Schwester beschrieb, wie sehr sie dich vermisst. Und wie sehr du dich glücklich schätzen kannst, dass du so eine großartige Wahl getroffen hast, damals, als du Rina geheiratet hast und wie tapfer sie in den letzen Wochen war und mit welcher Hingabe sie sich um eure Kinder kümmert.

Bitte erlaube mir eine allgemeine Bemerkung zur aktuellen Situation: Natürlich verfolge ich die Nachrichten und höre jeden Tag die schlimmen Neuigkeiten, die der Krieg mit sich bringt. Trotzdem wurde mir die Absurdität der aktuellen Lage in dem Land, das deine Heimat war und das du so sehr geliebt hast, am Freitag noch einmal ganz neu bewusst. Denn seit wir dich am Freitag vor vier Wochen beerdigt haben, sind allein auf diesem Friedhof am Herzl-Berg 19 neue Gräber hinzugekommen.

Grab Ivri Dickstein Foto: Israelnetz/mh
Mordechai Amujals Grab befindet sich hinter der Absperrung rechts. Seit seinem Tod sind viele Soldaten auf dem Jerusalemer Militärfriedhof beerdigt worden, unter anderen der 21-jährige Ivri Dickstein.

Nicht weit von dir entfernt liegt der 21-jährige Ivri Dickstein, dessen Geste vor kurzem das israelische Volk anrührte, als der von ihm zum Schabbat in Auftrag gegebene Blumenstrauß seine Frau erreichte, als sie von seiner Beerdigung zurückkam. Mit jedem einzelnen dieser Soldaten ist ein junges Leben erloschen, wurden Träume brutal zerstört und sind Herzen vor Trauer gebrochen.

Und nun, letzte Nacht, wurde eine Waffenruhe zwischen der Hisbollah und Israel angekündigt, seit heute Morgen gilt sie. Ob sie halten wird? Was du wohl darüber denken würdest? Ich meine, wird diese wirklich zum Frieden führen, den ihr Israelis und die libanesischen Zivilisten so dringend benötigt? Oder ist es nur eine neue Gelegenheit für Terroristen, die Zeit zu nutzen, um neu gegen euch Juden aufzurüsten und Tunnel zu bauen?

Ein Leben mit Bedeutung

In den vielen Berichten deiner Freunde und Familie ist mir aufgefallen, was für eine positive und auf die Zukunft ausgerichtete Einstellung du hattest. Darauf hast du dich in deinem Leben konzentriert. Und deine Familie und Freunde führen das für dich weiter.

Es ist Krieg, du bist gefallen und die Trauer ist unendlich groß. Doch statt dich etwa hasserfüllt auf den Feind zu konzentrieren und angesichts eurer feindlich gesinnten Nachbarn zu resignieren, hast du in deinem Leben getan, was nötig war. Und das tun auch deine Angehörigen weiterhin. Trotz aller Trauer ermutigt mich diese konstruktive und lebensbejahende Einstellung.

gefallene Soldaten Sticker Foto: Israelnetz/mh
Die Aufkleber mit Zitaten oder Lebensphilosophien der gefallenen Soldaten sind in Israel allgegenwärtig. An diesem Stromkasten auf dem Friedhof klebt nun unten rechts auch das Lebensmotto von Mordechai Amujal.

Lieber Mordechai, auch wenn wir uns nie begegnet sind, danke, dass ich dich in den vergangenen Wochen ein kleines Stück kennenlernen durfte. Dein Schwiegervater hat auf der Tekes HaSchloschim gesagt: „Du warst immer für deine Familie da und auch für uns. Oft hast du uns gut gelaunt nach Hause gefahren, obwohl du selbst einen langen Tag hinter dir hattest. Du warst bescheiden, und als du dein Ingenieurs-Studium mit Auszeichnung bestanden hast, hast du Rina gebeten, niemandem davon zu erzählen.“

Der alte Mann mit der großen schwarzen Kippa fasste zusammen, was aus vielen Wortbeiträgen deutlich wurde: „In wenigen Jahren hast du erreicht, was die meisten anderen in einem viel längeren Leben nicht erreichen werden.“

Schalom, Mordechai.
Ruhe in Frieden!
Merle

PS: Deine Familie hat einen Aufkleber mit deinem Bild drucken lassen. Darauf ist dein lachendes Gesicht abgebildet. Darüber steht dein Lebensmotto: „Das Leben ist ein Privileg – lebt es bedeutungsvoll!“ Danke für diese Erinnerung.

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4 Antworten

  1. Oh je, ich kann mich Kaum beruhigen. Das zu lesen hat gerade eine Tränenflut bei mir ausgelöst. Ein wirklich besonderer Mensch ist dem schrecklichen Krieg zum Opfer gefallen. Und mit ihm weitere 800 tapfere Soldaten und hinter jedem steht eine genau so eindrückliche Persönlichkeit.
    Ich hoffe so sehr, dass die Waffenruhe hält und daraus mehr in Richtung Frieden geschehen wird. Es ist einfach genug der vielen Toten. Und hoffentlich gelingt ähnliches in Gaza. Vor allem gilt hier mein täglich Gebet: Herr hilf, dass die Geiseln nach Hause kommen können. 🙏🎗🇮🇱

    5

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