Lieber Itay,
erlaubst du, dass ich dich so anspreche? Du kannst dir sicher denken, dass, seit du das letzte Mal in Israel warst, eine ganze Menge passiert ist. Ob du wohl weißt, dass am 7. Oktober vergangenen Jahres neben dir, der kleinen Emily Hand, der inzwischen befreiten No’a Argamani und dem ermordeten Jossi Scharabi noch 247 weitere Menschen entführt wurden?
Dass Krieg im Kibbuz Be’eri war, hast du spätestens gesehen, als deine Eltern Orit und Rafi vor deinen Augen von Hamas-Terroristen auf brutale Weise ermordet wurden. Du hast die letzten Jahre in Tel Aviv gewohnt und warst lediglich zum Festwochenende nach Be’eri gefahren, um deine Eltern zu besuchen.
Ob du, als dich die Terroristen in den Gazastreifen entführten, auch die vielen Zivilisten gesehen hast, die nach den Terroristen kamen, um die Häuser der Juden zu plündern?
Mehr als ein Jahr ist vergangen, und so vieles wissen wir inzwischen. Vieles andere wissen wir nicht, und werden es vielleicht auch nie erfahren. Ich frage mich, was dir durch den Kopf ging, als dich die Terroristen mitnahmen. Was du gesehen und gedacht hast. Wie hast du die 99 Tage in Geiselhaft ausgehalten? 99 lange Tage. Praktisch, psychisch, intellektuell? Wie hast du versucht, das Erlebte zu verarbeiten? Etwa den grausamen letzten Anblick deiner Eltern; hast du ihn mit dir getragen oder hast du ihn verdrängt, um dich auf dein eigenes Überleben zu konzentrieren? Was ging dir durch den Kopf, wenn du an deine Geschwister und Freunde dachtest, von denen du doch wusstest, dass sie vor Trauer um die Eltern und Sorge um dich fast vergehen mussten?
Fragen, auf die es keine Antwort gibt
Was wusstest du darüber, dass in Israel und im Gazastreifen Krieg herrschen? Dass Israel den Gazastreifen bombardierte, hast du sicher gehört, dort, wo die Terroristen euch mit viel Aufwand auf so brutale Weise versteckt hielten. Bestimmt hast du auch Angst gehabt, dass du bei den Angriffen der Armee deines Landes auch ums Leben kommst. Ob du aber wusstest, was genau um dich herum passierte?
Um dir zu erklären, warum ich dir schreibe und wann ich zum ersten Mal von dir gehört habe, muss ich etwas weiter ausholen. Ich bin Deutsche, in Deutschland aufgewachsen und lebe und arbeite seit vielen Jahren in Israel. Ich spreche Arabisch und Hebräisch, habe viele Freunde im Land, aber einen israelischen Pass oder Personalausweis habe ich nicht.
Im Oktober 2023 fuhr ich mal wieder nach Deutschland, um meine Familie zu besuchen, Urlaub zu machen und Vorträge über die Situation hier im Land zu halten. Nur wenige Tage später wurden meine Pläne durch das, was am 7. Oktober in Südisrael passiert ist, komplett über den Haufen geworfen. Mein geplanter Rückflug wurde von der Fluggesellschaft ersatzlos gestrichen, und so blieb ich bis Anfang November. Wie so oft, wenn ich in Deutschland bin, wohnte ich bei meinen Eltern in einem großen Mecklenburger Pfarrhaus.
Statt meines geplanten Urlaubs hielt ich spontan zahlreiche Vorträge, in Präsenz und online. Durch die Ereignisse in Israel war das Interesse an Informationen in Deutschland plötzlich unglaublich groß. Weil die Vorträge überwiegend unter der Woche stattfanden, nahm ich am Wochenende am Gemeindeleben in dem kleinen Ort meiner Eltern teil.
Gebetsaktion mit Folgen
Freitagabends trafen wir uns draußen, vor der Kirche, für eine viertel Stunde zum „Gebet für Israel“. Das bezieht natürlich immer auch die Lage der Palästinenser und der Nachbarstaaten mit ein. Es war eine kleine Runde, aber wer kam, war fast jeden Freitag dabei. Das Thema war der Krieg in Israel, aber ein großer Fokus lag auf euch, den Geiseln.
Die Idee zu der Gebetsinitiative kam von einer rührigen Frau aus der Gemeinde. Über diese ganze Initiative könnte ich dir einen eigenen Brief schreiben. Zum Beispiel, wie das Auto, in dem der Beamer stand, über den wir die Kirche mit dem Augapfel-Bibelvers aus Sacharja 2 anstrahlten und zum Gebet einluden, wenige Wochen später komplett mit Farbe beschmiert wurde. Und wie dann die Polizei kam, die trotz großer Bemühungen die genaue Motivation nicht ermittelt konnte. Doch nicht nur die Polizisten nahmen den Vorfall sehr ernst: Gefühlt solidarisierte sich auch der ganze Ort nicht nur mit uns, sondern plötzlich auch mit Israel.
Oder wie ausgerechnet die junge Iranerin, die mit ihren acht- und einjährigen Söhnen, damals im Kirchenasyl, oft die erste war, die zum Gebet erschien, auch bei Nieselregen. Sie sprach kaum Deutsch und verstand nur einen Bruchteil von dem, was wir sprachen, aber sie selber betete inbrünstig für Israel, „Gottes auserwähltes Volk“, wie sie sagte, für die Umkehr der politischen Führung im Iran und für euch, die Geiseln.
In 15 Minuten mit wenigen Menschen für 251 zu beten, ist natürlich kaum möglich. Und außerdem würden diese Menschen immer nur Masse bleiben und niemals als eigenständige Personen in Erscheinung treten. Auch ich selber hatte gezielt bis dahin konkret vor allem für Kinder, Frauen und Familien gebetet, zu denen wir einige Informationen hatten. Niemals aber für jede Geisel einzeln.
Dann fiel mir ein, dass unter den vielen Menschen auch mindestens 21 Israelis waren, die zudem die deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Inzwischen hatte die New Yorker Initiative „Entführt aus Israel“ eine Liste von Postern erstellt, auf denen neben dem Namen und einem Bild auch das Alter und die Staatsbürgerschaft angegeben war.
Ich ging die Liste durch und guckte mir die 21 „Deutschen“ aus. Da bist du mir zum ersten Mal aufgefallen. Du bist ja nur wenig jünger als ich. Die Poster, manche druckte ich mehrfach aus, tütete ich in Plastikhüllen gegen den Regen ein und ging nun wöchentlich zum kompakten Israelgebet. Den Teilnehmern machte ich Mut, sich ein Blatt mitzunehmen und während der Woche für diese eine Person und deren Familie zu beten.
Die Poster der Frauen und Kinder gingen schnell weg, einige blieben noch übrig, die ich dann bei künftigen Treffen verteilte. 21 Menschen, im Verhältnis zur Gesamtzahl der Geiseln, sind ein Tropfen auf den heißen Stein, aber immerhin doch ein Anfang.
Ermordet am 15. Januar
Ich selbst nahm dein Poster und begann, für dich zu beten. Viel wusste ich nicht über dich, auch für mich warst du nur einer von den vielen. Trotzdem veränderte sich meine Beziehung zu dir. Auf dem Bild sah ich einen starken, sympathischen Israeli. Ich weiß nicht, woher deine deutsche Staatsbürgerschaft kommt, aber wie einige meiner israelischen Freunde musst du Vorfahren gehabt haben, die zwischen 1935 und 1945 Deutsche waren. Wer weiß? Wäre die Geschichte anders verlaufen, wärst du vielleicht sogar in Deutschland geboren.
Dein Poster hängte ich an den Schrank in dem Zimmer, das meine Eltern mir im Pfarrhaus eingerichtet hatten, als sie dort vor einigen Jahren einzogen. Ende Dezember flog ich von Israel zurück nach Deutschland und blieb bis Mitte Januar. Kurz vor meiner Rückkehr nach Israel erschütterte mich die Nachricht, dass du gestorben seist. Die Hamas zwang No’a Argamani, in einer Botschaft zu sagen, dass du und Jossi durch israelische Luftschläge umgekommen seid.
Laut Angaben der Armee aber galt das wohl tatsächlich für Jossi, dich jedoch hat dein Hamas-Wächter ermordet. In beiden Fällen stand und steht für mich jedoch fest, dass dein und Jossis Tod Mord gewesen ist, der ganz allein auf das Konto der Hamas geht. Deshalb schrieb ich auf das Blatt mit deinem Bild, das immer noch an meinem Schrank hing: „Ermordet, 15.01.2024“.
Nun betete ich für deine Familie beziehungsweise diejenigen, die übrig geblieben waren. Im März war ich erneut in Deutschland, mein Vater wurde nach 40 Dienstjahren in den Ruhestand verabschiedet. Und weil meine Eltern künftig nicht mehr die „Dienstwohnung“ im Pfarrhaus bewohnen würden, würden sie bald umziehen.
Bilder von der Wand, den Inhalt von Schreibtisch, Bett, Schrank und Bücherregal hatte ich in Kisten verpackt. Die Möbel aber ließ ich stehen. Und dein Poster hing weiter am Schrank. Ich wusste nicht, was ich damit tun sollte. Du warst zwar längst tot, aber der Krieg und das „Geiseldrama“ doch längst noch nicht zuende.
Anfang Juni bot dieses „Drama“ dann endlich mal eine gute Nachricht: Eure Armee befreite vier Geiseln lebendig aus Gaza, darunter auch No’a, mit der du die ersten Wochen in Geiselhaft verbracht hattest!
Es war ein Schabbat, und ich werde nie vergessen, wie ich auf einer Geburtstagsfeier mit säkularen Freunden zu Juden gingen, die am Schabbat keine elektrischen Geräte benutzen und daher außer sich vor Freude waren, als wir ihnen die fröhlichen Nachrichten mitteilten! Vier Geiseln waren zurückgekommen, um zu leben. Das ganze Land schien außer sich vor Freude!
Im Oktober war ich erneut in Deutschland. Meine Eltern waren inzwischen umgezogen und zwischen den vielen Möbeln, die noch unsortiert umher standen, sah ich plötzlich dein Plakat. Wohl um es zu schützen, hatte es jemand während des Umzugs von der Außenwand meines Schrankes abgenommen und an mein leeres Bücherregal geklebt.
Ich hab mich gefragt, was die Umzugshelfer wohl gedacht haben, als sie das Regal transportierten. Ob ihnen dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewusst ist, dass noch immer 100 unschuldige Menschen unter unwürdigen Umständen im Gazastreifen festgehalten werden, eben nur, weil sie Juden sind? Ob sie deinen Namen schonmal gehört hatten? Wohl eher nicht, aber mich hätte interessiert, ob sie sich wohl gefragt haben, was die Geschichte dieses Mannes ist und was die handgeschriebene Notiz auf dem gedruckten Plakat bedeutet?!
Zur Beerdigung nach Hause
Am Dienstag hat dich die Armee endlich zurück nach Hause gebracht. Du bist tot, aber eine Beerdigung kann nach jüdischem Gesetz nur stattfinden, wenn der Leichnam vollständig da ist. Bewegt hat mich die Nachricht, die No’a auf ihrem Instagram-Account geteilt hat: „Ich wünschte, du wüsstest, wie viel du uns allen bedeutest! Kennengelernt haben wir uns in Gaza, am 7. Oktober. In dem Moment, wo du in den Raum geführt wurdest, wusste ich, dass hier jemand vor mir steht, auf den ich mich verlassen kann. Du warst mein Seelenverwandter und der große Bruder, den ich nie hatte.“
Die junge Frau, die so Schweres durchgemacht hat und deren Freund Avinatan Or noch immer in Gaza ist, schrieb weiter: „Ich danke dir, für die vielen Tagen und Stunden, in denen du an meiner Seite warst und mir sagtest ‚Ich bin hier, hab keine Angst. Ich weiß, es ist schwer, aber ich bin bei dir.‘ Niemals hätten wir gedacht, dass du auf diese Weise nach Israel zurückkommen würdest. Alles, was mir bleibt, dir zu sagen, ist ‚DANKE‘. Danke, dass du in all diesen Tagen an meiner Seite warst. Danke, dass du meine Ängste gehört hast. Ich verspreche dir, dass du immer ein Teil von mir sein wirst und ich dich nie vergessen werden.“
Lieber Itay, so gern würde ich dir so vieles mehr erzählen, aber der Brief ist ohnehin schon so lang, deshalb mache ich an dieser Stelle schweren Herzens Schluss. Heute Mittag, 426 Tage, nachdem du gewaltsam aus dem Kibbuz Be’eri entführt wurdest, wurdest du dort neben deinen Eltern beerdigt. Ich war nicht dabei, aber du sollst wissen, dass es Menschen gibt, die dich im Herzen tragen. Darunter auch mindestens eine Deutsche. Eine Trauerwoche wird es nicht geben. Wie auch, deine Familie und Freunde trauern ja schon mindestens seit Januar. Und trotzdem bist du nun zu Hause.
Ruhe in Frieden! Endlich.
Deine Merle
7 Antworten
Shalom,Merle,vielen herzlichen Dank für Deinen so herzzerreisenden Brief an Itay,Familie und uns.Wir sind froh jemanden wie Dich unter uns zu haben.TODA RABA.Allen einen gesegneten Shabbat Shalom. Jerusalem
Merle Hofer schrieb im November schon einen Brief an die getötete Geisel Mordechai Amujal. Tief bewegt und weinend hatte ich den Brief gelesen. Und nun erneut Trauer um Itay Svirsky. Durch den Brief von Frau Hofer bekommt Svirsky eine Persönlichkeit geschenkt, eine unter vielen. Auch hinter allen anderen Geiseln stehen herausragende Menschen und ich kann nur unterstreichen, dass unendlich viele Menschen um ihre Befreiung beten. Im gemütlichen Wohnzimmer sitzend kann man sich nur schwer vorstellen, wie es den Geiseln in den Tunneln geht. Nicht mal von Bibi angebotene Millionen und freies Geleit haben bei den Pals bewirkt, die Geiseln herauszugeben.
Möge Gott den Gefangenen Kraft schenken und Mut, nicht der Verzweiflung nachzugeben, sondern zu hoffen! 🙏🎗🇮🇱
Danke Merle, durch Menschen wie dich lebt die Erinnerung an Itay weiter.
Jeder Mensch ist unendlich wertvoll.
Wann begreifen das nur alle Menschen?
Wir Christen können es von unseren großen Schwestern und Brüdern lernen, die es aus der Torah gelernt haben.
Wie unser großer Bruder Jehoschua Ben Josef Ben David, der die Torah vollkommen gelebt hat.
Schalom
Gabriel
Mag man mich dafür kritisieren, aber ich glaube daß der EWIGE viel großzügiger ist ,als wir alle, Juden und Jüdischstämmige glauben So brutal es auch in diesem Augenblick klingen mag und der Situation nicht angemessen, selbst wenn nur seine Gebeine oder Teile seines Körpers nach Hause gebracht worden wären, so ist dennoch sein ganzes Ich, sein Geist und, wenn man so will ,seine Seele nach Hause gekommen, unabhängig vom Zustand seiner sterblichen Überreste. Ich weiß, die Halacha sagt etwas anderes, aber dies ist nun einmal
meine Überzeugung.
Möge der EWIGE ihm Schild und Schwert sein und sein hellstrahlender Leitstern auf seinem weiteren Weg in das Zion der Ewigkeit
SHALOM……..Shmah Yisrael, Adonai Elohim,
Adonai Ehad………..
@Klaus
Ich kann dir nur zustimmen. Es waren ja auch schlimme und nicht normale Zustände. Das weiß der HERR! Seine Seele ist im Ganzen zu Hause!
Liebe Grüße Manu
Das rührt mich zu Tränen. Ach wie schwer. Dennoch ein grosser Trost : Jesus hat seine Seele ausgeschüttet in den Tod, ER ist triumphal auferstanden. Dieser junge Mann, der so trösten konnte und so geliebt wird, wird von Jesus noch MEHR bekommen. Herr, ich bin DEIN KIND, auch wenn am Ende nur Knochen von mir übrig sind.
Danke für diesen Brief!