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„Beide Seiten sind offenbar nicht erwachsen genug“

Der Historiker Tom Segev spricht im Interview über die anstehenden Wahlen, den israelisch-palästinenischen Konflikt und sein neues Buch. Die Fragen stellte Andreas Schnadwinkel.
Von Israelnetz

Tom Segev (77) ist der in Deutschland wohl bekannteste israelische Historiker und einer der populärsten Publizisten. In Büchern wie „Es war einmal ein Palästina“ erklärt er die Wurzeln des Konflikts. Jetzt sind seine Erinnerungen „Jerusalem Ecke Berlin“ erschienen. Doch auch die aktuelle politische Lage beobachtet er genau.

Israelnetz: Israel wählt am 1. November schon wieder ein neues Parlament. Ist das Land unregierbar? Oder liegt es daran, dass sich die diverse Gesellschaft in den diversen Parteien spiegelt?

Tom Segev: Israel ist ein gespaltenes Land, die meisten Israelis sind in den vergangenen Jahren nach rechts gerückt. Und es gibt immer die Möglichkeit, eine deutliche, politisch rechte Mehrheit zu finden. Aber das Problem ist der ehemalige Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Wenn er nicht wieder Spitzenkandidat des Likud wäre, gäbe es kein Regierungsproblem. Denn wegen der Korruptions- und Bestechungsvorwürfe gegen ihn sagen andere Parteien, dass sie mit ihm kein Bündnis eingehen. Bei der Wahl geht es nun zum fünften Mal um die Frage: Netanjahu ja oder nein? Es ist schwer, Politik und Person zu trennen. Fragen Sie mich bitte nicht, wer gewinnen wird.

Premierminister Jair Lapid scheint in der Rolle gewachsen zu sein. Setzt das fragile Regierungsbündnis wieder auf eine Anti-Netanjahu-Kampagne? Reicht das für eine Mehrheit?

Sie haben das treffend formuliert. Jair Lapid spielt Rollen, schon sein ganzes Leben lang. Es ist nicht einfach, ihn politisch zu bewerten. Viele waren beeindruckt von seiner Rede in der UN-Vollversammlung, aber aus meiner Sicht spielt er die Rolle eines israelischen Ministerpräsidenten, der bei den Vereinten Nationen das Richtige sagt. Als Regierungschef hat er noch keine Fehler gemacht und das Gas-Abkommen mit dem Libanon ins Ziel gebracht.

Ist die atomare Bedrohung Israels durch den Iran das Thema, das die zersplitterte Gesellschaft eint? Verbindet es die Menschen zu sagen, dass der Iran niemals Atomwaffen bekommen darf, um Israel nicht zu zerstören?

Ich denke, ja. Die Befürchtung, dass der Iran Atommacht werden könnte, ist real. In Israel ist es nicht immer leicht zu unterscheiden, ob es um berechtigte Sorgen geht oder die Argumente manipulativ sind. Ich schlafe besser, wenn der Iran keine Atombomben hat.

Netanjahu hat immer gesagt, dass der Iran niemals Atommacht werde, und damit gemeint, dass Israel mit den USA dies im Ernstfall mit Präventivschlägen verhindern würden. Ist das ein realistisches Szenario?

Das hängt von den Amerikanern ab. Netanjahu war schon einmal nah daran, solch einen Beschluss zu fassen, hat es dann aber gelassen. Generell haben viele Israelis mit Blick auf die Zukunft eine Grundunsicherheit, die auch mit dem Iran zusammenhängt, weil diese Bedrohung sehr konkret ist.

Eine Million Israelis haben sich eine zweite, europäische Staatsangehörigkeit zugelegt. Da frage ich mich, warum sie einen europäischen Pass brauchen. Wenn man sie fragt, dann sagen sie, dass man ja nie wissen könne. Das ist ein interessantes Phänomen, denn eigentlich gibt das Dokument einem Israeli nichts.

Mehr als eine Million Menschen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion leben in Israel. Wie blickt diese russischsprachige Community auf Russlands Krieg gegen die Ukraine?

Unterschiedlich, denn ein Teil dieser Community stammt aus der Ukraine. Insofern sind die Sympathien in diesem Krieg verteilt. Ich denke, die Leute aus Russland und aus der Ukraine sind beide froh, dass sie in Israel leben.

Wie blicken Sie auf den Antisemitismus in der Welt?

Leider gibt es überall Judenhass. Die Differenzierung zwischen Antisemitismus und Antizionismus kommt zu kurz. Beides ist miteinander verbunden, aber es ist nicht identisch. Nicht jede antizionistische Äußerung ist antisemitisch – und umgekehrt auch nicht. Auch ultra-orthodoxe Juden in Israel sind Antizionisten. Und in den USA beten prozionistische Christen dafür, dass die Juden das Licht des Christentums entdecken. Das ist alles kompliziert. In Israel gibt es die Neigung, jede Kritik an Israel als Antisemitismus zu betrachten.

Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen: Wie schätzen Sie die anti-israelische BDS-Bewegung ein?

Die BDS-Bewegung hat null Erfolg und erhält nur Aufmerksamkeit, weil Israel diese Bewegung so lautstark bekämpft. Ich sehe BDS sehr kritisch, bin aber auch besorgt im Hinblick auf die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung.

Netanjahus Ansatz im Umgang mit der Bevölkerung im Westjordanland war eine Art „Wirtschaftsfrieden“, also mehr Wohlstand für die Palästinenser durch Arbeit in Israel. Wie soll es zwischen Israelis und Arabern weitergehen?

Wenn wir uns vor 40 Jahren getroffen hätten, dann hätte ich gesagt, dass im Jahr 2022 längst Gebiete ausgetauscht worden wären und es zwei Staaten gäbe. Das schien früher möglich, heute ist eine „Zwei-Staaten-Lösung“ nicht mehr möglich, und auch eine „Ein-Staaten-Lösung“ ist nicht möglich. Ich bin sehr pessimistisch und denke immer an Israels Staatsgründer David Ben-Gurion, der schon 1919 gesagt hat, dass es für diesen Konflikt keine Lösung gäbe. Diesen Konflikt könne man nur managen. Und Netanjahu hat das so gemacht.

Aber in dem Konflikt geht es nicht um Arbeit und Wohlstand. Das ist ein Konflikt zwischen zwei nationalen Identitäten, die sich durch das Land definieren, und zwar das ganze Land. Jeder Kompromiss würde bedeuten, dass beide Seiten Teile ihrer Identität aufgeben müssten. Beide Seiten sind offenbar nicht erwachsen genug oder haben noch nicht genug gelitten. Die Feindschaft ist heute noch tiefer als früher.

Waren die antisemitischen Vorfälle bei der Documenta in Kassel auch in Israel ein großes Thema?

Gut, dass Sie mich das fragen. Denn es war in Israel kein großes Thema. Es ist erstaunlich, dass man in Deutschland andauernd über Israel streitet. In der Debatte hat man häufig aus meinem Buch „Es war einmal ein Palästina“ zitiert. Aber die Documenta-Debatte handelt gar nicht von Israel, das ist eine gesellschaftspolitische Debatte deutscher Intellektueller. Sie diskutieren nicht über die Westbank, sie diskutieren über Westfalen.

Ist Ihr neues Buch schon eine Lebensbilanz?

In dem Buch beschreibe ich meine Erinnerungen, das ist weniger verpflichtend als eine Autobiografie. Ich erzähle gerne Geschichten und sehe jeden Menschen als Geschichte. Denn die große Geschichte versteht man durch die Geschichten einzelner Personen. Dazu ist Israel prädestiniert, das gilt für Deutschland übrigens auch.

Foto: Siedler Verlag
Tom Segev: „Jerusalem Ecke Berlin. Erinnerungen“, Siedler, 416 Seiten, 32 Euro, ISBN: 978-3-8275-0152-3

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2 Antworten

  1. Ich habe Tom Segev 2019 mehrmals an der Uni Luzern gehört. Er gehört zu den sog. NEUEN HISTORIKERN., politisch links und enzsprechend einseitig. Er hatte in Luzern wichtige Fakten ausgelassen. Darauf angesprochen, gab er es wenigstems zu, was aber trotzdem heisst, dass Aussagen von ihm mit Vorsicht zu geniessen sind.

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  2. „Der Klügere gibt nach“ sagt man ja aber in diesem Konflikt gibt es wohl keinen Klügeren.

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