Nasses Gras quietscht unter den Schuhen, Matsch klebt an der Hose wie Gewichte, der Himmel hängt voll grauer Regenwolken. Doch gegen Mittag schiebt sich die Sonne erst vorsichtig, dann immer selbstbewusster durch die Wolkendecke, überflutet das Land und die Wanderer mit Licht und Wärme und bringt den See Genezareth in der Ferne zum Funkeln.
Es ist eines der Erlebnisse, die die Wanderer auf dem Jesus Trail für das nasse Frühlingswetter in Israel entschädigen. Solche Erlebnisse gibt es viele auf dem Jesus Trail. Da sind die freundlichen Willkommensrufe der Händler in Nazareth, die nicht nur ihre Waren anpreisen, sondern sich ehrlich über den neuen Besucherstrom in ihrer Stadt freuen. Da ist die grandiose Aussicht auf die Golanhöhen und Galiläa von den Klippen Arbels. Und da ist das Erlebnis, das Heilige Land auf eine andere, andächtigere Art und Weise kennenzulernen. Nämlich zu Fuß – auf den Fußspuren Jesu.
2004 wanderte Maos Inon den Israel National Trail, einen 940 Kilometer langen Wanderweg, der sich durch das Kernland Israels windet. Dort kam ihm die Idee: „Israel ist ein großartiges Reiseziel, doch es gibt kaum Unterkünfte für Wanderer, kaum Informationen auf Englisch über Wanderwege, und keinen Weg, der sich an biblischen Orten orientiert.“ Ein deutliches Manko im Heiligen Land. So beschloss Inon, der als leidenschaftlicher Wanderer schon in ganz Amerika und Asien unterwegs war, eine Route auszuarbeiten, die für fromme Pilger und kulturinteressierte Wanderer gleichermaßen interessant ist. „Viele Menschen pilgern heute nach Santiago de Compostela, doch hier in Israel haben wir die Originale“, ist Inon überzeugt. „Die israelische Landschaft ist übersät mit Relikten aus den Anfängen des Christentums. Nazareth allein könnte ein wichtiges Reiseziel für christliche Touristen werden.“ Doch nicht viele Touristen nahmen sich die Zeit, Nazareth wirklich zu erkunden, obwohl doch Jesus in dieser Stadt aufgewachsen war. Denn die Altstadt, die direkt hinter der Verkündigungskirche beginnt, war jahrelang als sozialer Brennpunkt verrufen. Doch Inon war sich sicher: Das Image Nazareths kann sich verbessern, wenn das eine oder andere der alten Herrschaftshäuser in der Altstadt zur Herberge umgebaut wird und Touristen noch andere Gründe geboten bekommen, die Altstadt zu besuchen.
So begann Inon mit dem amerikanischen Wanderspezialisten David Landis einen Weg zu suchen, der Touristen zu den christlichen und historischen Kleinoden in Nazareth und im Norden Israels führen würde. „Der Weg sollte etwa 60 Kilometer lang sein, damit man ihn auch mal am Wochenende wandern kann. Außerdem sollte er an so vielen biblischen Orten wie möglich vorbeiführen, um neben Israeltouristen auch Pilger anzulocken“, zählt Inon die Kriterien auf, „er sollte durch möglichst viele Ortschaften gehen, um neue Arbeitsplätze und Verdienstmöglichkeiten zu schaffen.“ Und natürlich sollte er ein schöner Wanderweg sein. 2007 waren Inon und Landis wochenlang in Galiläa unterwegs, um die perfekte Route zu finden, zwei Jahre später wurde der neu gefundene Jesus Trail mit Markierungen versehen, so dass Wanderungen auch auf eigene Faust möglich sind. Das Ergebnis ist ein Weg, der sich in der Länge zwar nicht mit dem Camino de Santiago in Spanien messen kann, aber viel dichter als dieser an den Wurzeln des Chris- tentums liegt und auf einer Strecke von 65 Kilometern die letzten 2.000 Jahre der jüdischen und christlichen Geschichte vereint. Der Jesus Trail folgt den Spuren Jesu, führt aber durch das moderne Israel.
Ausgangspunkt Verkündigungskirche
Offizieller Start des Jesus Trails ist die Verkündigungskirche in Nazareth. Inoffizieller Ausgangspunkt ist allerdings das „Fauzi Azar Inn“. Die Herberge befindet sich in einem wunderschönen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert und wird von Maos Inon und Suraida Schomar Nassar, der Enkeltochter Fauzi Azars, betrieben. Hier gibt es kostenlose Karten vom Jesus Trail, einen Reiseführer für den Jesus Trail und andere Wanderwege Israels, Kaffee, Kuchen und Beratung – natürlich auch für Jesus Trail-Wanderer, die nicht im „Fauzi Azar Inn“ übernachten. Denn auf den Jesus Trail ist man stolz und Nassar zeigt das Haus ihres Großvaters mit den hohen Räumen und den libanesischen Deckenmalereien auch gerne spontanen Besuchern.
Die orange-weißen Markierungen des Jesus Trails beginnen an der Verkündigungskirche in Nazareth. Von dort aus taucht der Weg ein in die verwinkelten Gassen der Altstadt und ihren arabischen Basar. Außer an Sonntagen, wenn alle Geschäfte im überwiegend christlichen Nazareth geschlossen sind, brummt die Altstadt vor Leben, vor Händlern und Käufern, Kindern, Katzen und immer mehr Touristen. Aus diesem Trubel führen schließlich 406 Stufen aus der Stadt hinaus und bald bietet sich dem Wanderer ein erster traumhafter Blick auf die grünen Hügel Galiläas. Ein Blick, den auch Jesus genossen haben mag, als er nach Kana ging, um auf einer Hochzeitsfeier sein erstes Wunder zu tun. Kana ist auch das Ende der ersten Etappe des Jesus Trails. Je nach sportlicher Verfassung kommen die Pilger und Wanderer mehr oder weniger außer Atem am Haus der Familie Bellan an, die das einzige Gasthaus in Kana betreibt. Es liegt direkt am Jesus Trail und ist eines der Geschäfte und Herbergen, die wegen des Jesus Trails entstanden. Die Bellans heißen ihre Gäste im familieneigenen Wohnzimmer willkommen, gegessen wird im Esszimmer und auch sonst wirkt die Herberge weniger wie eine sterile Unterkunft, sondern mehr wie ein Zuhause. „Der Jesus Trail stärkt die Gemeinden vor Ort“, ist Inon sicher, „denn jeder Wanderer gibt natürlich in den Orten Geld aus.“
Außerdem sollen die Wanderer auf dem Jesus Trail, so hofft Inon, zur Verständigung zwischen den arabischen und israelischen Gemeinden beitragen. „Wenn Wanderer die eine Nacht in einem arabischen Ort schlafen und am nächsten Tag in einem Kibbutz, dann haben beide Orte ein gemeinsames Interesse, nämlich, dass es dem Wanderer gut geht und er wiederkommt“, so Inon.
So endet die zweite Etappe des Weges auch in einer jüdischen Ortschaft, im Kibbutz Lavi. Daran, dass der Staat Israel nicht auf friedlichem Wege entstand, erinnert die dritte Etappe, die von Lavi nach Arbel führt. Auf halbem Weg streift der Jesus Trail ein Stück überwuchertes Land, aus dem wie ein mahnender, knöcherner Finger ein Minarett ragt. Dieser Turm und ein paar Ruinen sind alles, was von dem arabischen Dorf Hittin noch übrig ist. Es ist eines von denen, die im arabisch-israelischen Krieg 1948 entvölkert und zerstört worden waren. An diesem Krieg und allen darauffolgenden militärischen Operationen Israels war auch die Golani-Brigade, ein Großverband der israelischen Steitkräfte beteiligt. Ein Museum, das die militärschen Erfolge der Brigade würdigt, liegt ebenfalls am Jesus Trail. Doch auch die bewegte jüdische Vergangenheit kommt auf dem Weg zu Wort. Am Rand des israelischen Örtchens Arbel erinnern die Ruinen einer Synagoge aus dem 4. Jahrhundert daran, dass auch nach der Vertreibung der Juden durch die Römer um 70 nach Christus jüdische Gemeinden im Heiligen Land bestehen blieben. In Arbel betreiben Sara und Israel Schavit ein Gasthaus mit günstigen Zimmern und einer erlesenen Speisekarte. Wer sich die Zeit nimmt, die Schavits näher kennenzulernen, erfährt von Sara irgendwann die Geschichte ihrer Eltern, die im Holocaust starben. Auch Zeitzeugen gehören zum Jesus Trail – noch. Israelis ebenso wie Araber, die von den Schrecken der Kriege 1948 und 1967 zu berichten wissen.
Beste Wanderzeit im Frühjahr
Wer sich die Zeit nehmen kann, sollte den Jesus Trail im Frühjahr besuchen, wenn die Regentage des Winters fast versiegt sind und die Sonne noch nicht so heiß brennt. Dann sind die Wiesen und Hügel entlang des Jesus Trails gesprenkelt mit wilden Alpenveilchen, zwischen denen immer mal wieder eine Mohnblume ihre Blüten hervorreckt, und die Zitronenbäume tragen noch strahlend gelbe Früchte. Doch wer Temperaturen von 40 Grad nicht scheut, kann auch im Sommer in Israel wandern. Im Winter sollten wasserdichte Schuhe und eine Regenjacke zur Ausstattung gehören.
Für Wanderer, die sich ohne ein Gewicht auf dem Rücken an der Natur und der Geschichte des Landes erfreuen wollen, bieten verschiedene Herbergen entlang des Weges einen kostenpflichtigen Gepäcktransport zur nächsten Unterkunft an. Zahlreiche kostenlose Angebote der Jesus Trail-Organisatoren zeigen, dass es bei der Gründung nicht allein darum ging, die Orte entlang des Weges durch den Tourismus finanziell zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen. Denn Inon sieht im Tourismus noch etwas anderes: „Ich glaube fest daran, dass Tourismus eine positive Veränderung bewirken kann.“ Denn „jeder Wanderer bringt auch positive Energie mit. Und die brauchen wir hier im Nahen Osten dringend“. Informationen rund um den Jesus Trail, auch auf Deutsch, gibt es unter www.jesustrail.com.