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„Als Papa mir mein Fahrrad schenkte“

Vor zwei Jahren erinnert sich die mittlerweile verstorbene Jerusalemerin Margalit Fried an den Besuch von Adolf Hitler in ihrer Heimatstadt. Ein Fahrrad bringt der in Saarbrücken geborenen Jüdin Kindheitserinnerungen zurück.
Von Merle Hofer
Fahrrad in Jerusalem

Wenn Margalit Fried von ihrer Kindheit im deutschen Saarbrücken erzählt, klingt es wie aus einer anderen Zeit. Als dritte von fünf Geschwistern wurde Fried 1926 in eine jüdische Familie aus Polen geboren. Sie ist fast neun, als ihr Vater von den Nationalsozialisten abgeholt wird. Viele Jahrzehnte später, im Jahr 2023, sitzt sie in einem kleinen Café in der Jerusalemer Innenstadt. Wie fast jeden Morgen frühstückt sie hier mit ihrem guten Freund Jossi.

Zwei Juden, die in Deutschland geboren und dann auf abenteuerliche Weise nach Palästina, Eretz Israel, ausgewandert – oder vielmehr geflohen – sind. Seit Jahrzehnten leben sie in Jerusalem. Ihrer beider Muttersprache ist Deutsch, doch sie reden Hebräisch miteinander. Nur manchmal, wenn Besuch aus Deutschland kommt, wechseln sie ins Deutsche.

Am Morgen des 30. Januar vor zwei Jahren bin auch ich dabei. Wir sprechen darüber, dass vor 90 Jahren Adolf Hitler an die Macht kam. Jossi war damals noch nicht geboren, doch auch er hat später unter dem NS-Regime gelitten und erinnert sich nur ungern an seine Zeit als Kind im Lager Bergen-Belsen. Trotz allem strahlen Margalit und Jossi Lebensfreude aus. Und genießen ihren Lebensabend, zum Beispiel, wenn sie jeden Morgen zusammensitzen.

Ein Fahrrad weckt Kindheitserinnerungen

Es ist 12 Uhr, als die beiden aufbrechen. Jossi wird von einem Freund abgeholt, ich begleite Margalit wenige Meter zum bestellten Taxi. Auf dem Weg dorthin nehme ich mein Fahrrad mit. Als ich das Schloss aufschließe, schaut sie fragend. „Ich habe kein Auto“, erkläre ich.

Wehmütig schaut sie auf das alte Rad mit dem weißen Rahmen. Ich lache sie an: „Möchtest du eine Runde drehen?“ Energisch winkt die Mittneunzigerin ab: „Nein, nein. Auf keinen Fall. Aber weißt du“, bedächtig wählt sie ihre Worte. „Dein Fahrrad erinnert mich an das Rad, das mein Vater mir geschenkt hat. Ich war sechs oder sieben Jahre alt. Es sah sehr ähnlich aus.“

„Ich konnte damit sehr schnell fahren“, ein Lächeln huscht über Margalits Gesicht. „Ich war so stolz auf mein eigenes Fahrrad.“ ‚Das muss vor 1935 gewesen sein‘, schießt es mir durch den Kopf. ‚Das Jahr, in dem die Nazis deinen Vater abholten, weil er nach dem Brand einer Schokoladenfabrik Blei von der Straße aufgehoben hatte.’

Erinnerung an den Jubel bei Hitlers Ankunft

1935 war auch das Jahr, in dem Hitler unter großem Jubel der Bevölkerung Margalits Heimatstadt Saarbrücken besucht hatte. „Gesehen habe ich ihn nie. Aber an dem Tag habe ich seine Stimme gehört.“ Nur wenige Minuten zuvor hatte sie davon erzählt. „Meine Mutter und wir Kinder blieben an dem Tag zuhause.“

‚Im gleichen Jahr floh Margalits Mutter mit ihr und ihren Geschwistern aus Deutschland, zunächst für wenige Monate zu Verwandten nach Polen…‘ Meine Gedanken werden jäh unterbrochen.

„Pass auf dich auf“, ruft mir die agile Dame aus dem offenen Fenster ihres Taxis entgegen. „In Jerusalem ist das Fahrradfahren gefährlich.“ Margalits Taxi setzt sich in Bewegung. Ich winke ihr nach und schwinge mich aufs Rad. Beim Radeln durch die Innenstadt Jerusalems werde ich plötzlich ganz dankbar.

Liebe Margalit, danke, dass du deine Erinnerungen mit mir geteilt hast! Seit diesem Morgen im Januar denke ich immer, wenn ich mit meinem Rad an „eurem“ Café vorbeifahre, an ein kleines pausbäckiges Mädchen mit dunklen Augen, das mit seinem Fahrrad fröhlich durch die Straßen Saarbrückens fährt. Und ich erinnere mich an den Satz, den ich so oft von Überlebenden der Schoa gehört habe: „Hitler ist tot. Doch Am Israel chai – das Volk Israel lebt!“

Margalit Fried ist am 11. Juli 2024 im Beisein ihrer Familie in Jerusalem gestorben. Sie wurde 97 Jahre alt.

Dieser Artikel erschien zuerst im August 2023 in der Zeitschrift factum.

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6 Antworten

  1. Vor achtzig Jahren wurde Auschwitz befreit.
    Ich wünsche mir eine Zeitmaschine, mit der ich alle Nazis, alle Propalifans, alle Leugner und Relativierer der Shoah, alle Judenhasser und Israelfeinde bis zum Hals in den Leichenbergen von Auschwitz, Treblinka, Belsen Buchenwald und so fort versenken kann, warten, bis ihr Verstand fast zerrüttet ist, und sie alle mit schlohweißen Haaren und Grauen in Augen und Verstand in die Gegenwart zurück holen.
    Dann,erst dann, wenn sie davon gekostet haben, werden sie begriffen haben…..SHALOM

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    1. Deine harsche Verurteilung der Nazi-Mörderbanden ist verständlich. Auch wenn dieser (schwache) Trost, der die an den G“tt Israels glauben eventuell versöhnen kann, diese Menschen werden für ihre Taten bezahlen müssen. Der Tag wird kommen, da sie vor dem Schöpfer alles Dinge stehen und ihren Lohn bekommen.
      Was mich auch umtreibt ist das Schweigen vieler sich Christen nennenden „Kirchenmitglieder“, die wöchentlich ihre Gottesdienste feiern, aber über Israel und das Leiden der Juden kaum ein Wort verlieren. Sie verhalten sich fast ebenso defensiv und feige, wie 1933. G“tt möge diesen Seelen gnädig sein. Übrigens, Hass auf die Täter des 3. Reiches habe ich bei meinen vielen Aufenthalten in Israel nicht vorgefunden. Ebenso keinen Hass auf die nachfolgenden Generationen. Auf Nachfrage bei Betroffenen kam die Antwort: Unsere Torah verbietet uns den Hass, der letztendlich uns selbst schaden würde. Shalom

      17
      1. Jesaja, auch ich empfinde keinen Hass auf die von mir Erwähnten, obwohl die Hälfte der Familie meiner Mutter in Belsen ermordet wurde. Die meisten von denen haben keine Ahnung von dem, was sich damals abgespielt hat. Mein Wunsch ist es aber, daß diese Leute die WAHRHEIT auf die harte Tour erfahren, damit sie lernen und ihnen ihre ideologischen Flausen ein für alle Mal
        aus dem Hirn getrieben werden…..SHALOM

        1
  2. Sehr berührender Artikel. Erinnert mich an Begegnungen, die ich vor Jahren in Israel mit Überlebenden der Shoah hatte. Unvergessliche Momente.

    10
  3. Habe gerade mit meiner Freundin in Givatayim telefoniert. Sie freute sich sehr über meinen Anruf. Wir lernten uns 2004 vor der Menorah in Jerusalem kennen, gingen gemeinsam zu einer Führung in die Knesset, bei der Eva für mich von Ivrith ins Deutsche übersetzte. Sie stammt aus Ungarn und überlebte Auschwitz-Birkenau, den Todesmarsch nach Ravensbrück und die letzte Zeit in Bergen-Belsen zusammen mit ihrer Mutter. Sie kehrten nach Ungarn zurück und wanderten dann nach Israel aus 1949. Sie heiratete einen ungarischen Überlebenden, hat zwei Töchter und Enkel und Urenkel. Im September wird sie 99 Jahre alt.
    Hass ist kein Thema bei ihr. Sie nahm mich bei unserem ersten Treffen in ihre Arme und sagte: „Als das passierte, warst du noch nicht geboren. Du kannst nichts dafür.“
    Auch von anderen Überlebende, die ich traf, habe ich nie ein Wort des Hasses gehört.

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