Das hebräische Wort „Alija“ bedeutet wörtlich übersetzt „Hinaufsteigen“. Ins Land Israel und sein Zentrum, Jerusalem, geht man immer hinauf. Das gilt auch für Menschen, die aus höher gelegenen Gegenden, etwa den Alpen oder dem Himalaya, nach Israel kommen. Im Gegenzug ist das Verlassen des Heiligen Landes immer ein Abstieg. So heißt es schon von Abram in 1. Mose 12, Vers 10: „Abram ging hinab nach Ägypten …“ Seine Rückkehr in das verheißene Land wird zu Beginn des folgenden Kapitels beschrieben: „Und Abram zog herauf aus Ägypten“ (1. Mose 13,1). Die hebräische Bibel ist, genau wie das moderne Hebräisch, konsequent in diesem Sprachgebrauch.
„An den Wasserströmen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten“, klagte der Psalmist (Psalm 137,1). „Wenn ich dich, Jerusalem, vergesse, wird meine rechte Hand absterben. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich nicht gedenke, wenn ich Jerusalem nicht erhebe über den Gipfel meiner Freuden“, sagt jeder Bräutigam nach dem Treueversprechen an seine Braut und zertritt im Gedenken an das zerstörte Jerusalem ein Glas.
Im Jahr 70 nach Christus wurde der Tempel, der von einigen Rückkehrern aus Babylon gebaut und von Herodes dem Großen prachtvoll renoviert worden war, dem Erdboden gleichgemacht. Nach dem zweiten jüdischen Krieg im Jahr 135 verbot der römische Kaiser Hadrian Juden den Zugang zu Jerusalem unter Androhung der Todesstrafe. Judäa wurde in Palästina, Sichem in Neapolis (heute „Nablus“) und Jerusalem in Aelia Capitolina umbenannt. Jede jüdische Verbindung zum verheißenen Land und seinen heiligen Städten sollte unkenntlich gemacht werden.
Doch die Sehnsucht blieb. Nach jedem Essen haben Juden durch die Jahrtausende hindurch gebetet: „Erbarme dich doch Herr, unser Gott, über dein Volk Israel, über Jerusalem, deine Stadt, über Zion, den Wohnort deiner Herrlichkeit.“ Das Passahfest beginnt mit dem Sederabend, bei dem sich das jüdische Volk jedes Jahr die Erlösung aus Ägypten vor Augen führt. Zum Abschluss eines jeden Sederabends verspricht man einander: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“
An die Hoffnung auf „Alija“ klammerten sich Juden, als Rabbi Mosche Ben Nachman, kurz „Ramban“ oder „Nachmanides“ genannt, Mitte des 13. Jahrhunderts in Jerusalem nur noch zwei Juden, aber keine Synagoge und keine Torahrolle vorfand. In der Stadt, aus der eigentlich die Torah hervorgehen sollte (Jesaja 2,4; Micha 4,2), war keine einzige Torahrolle. Es gab keine Hoffnung mehr, die man als Jude noch hätte verlieren können, stellt Nachmanides in der Zeit zwischen dem Sechsten und Siebten Kreuzzug fest.
Am Ziel der Heimkehr hielt das Volk Israel fest, auch als Martin Luther im 16. Jahrhundert darüber spottete: „So lasst sie noch hinfaren jns land und gen Jerusalem, Tempel bawen, Priesterthum, Fuerstenthum und Mosen mit seinem gesetze auffrichten und also sie selbs widerum Jueden werden und das Land besitzen.“ Sarkastisch fügte der deutsche Reformator noch hinzu: „Wenn das geschehen ist, so sollen sie uns bald auff den ferssen nach sehen daher komen und auch Jueden werden“ (WA 50.323,36-324,8). Würden Lutheraner die Worte des wortgewaltigen Reformators ernst nehmen, müssten sie sich heute, 500 Jahre nach Anschlag der 95 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg, beim nächsten Rabbiner zur Beschneidung melden. Denn „die jueden faren jns land und gen Jerusalem“. Im Jahr 2016 lebt die größte jüdische Gemeinde weltweit wieder im Land Israel. Seit zweieinhalb Jahrtausenden haben nicht so viele Juden im Land Israel gewohnt.
Ein Schrei nach Erlösung
„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“ (Psalm 130,1) – das ist die richtige Gebetshaltung, erklärt ein orthodoxer Jude und verweist darauf, dass viele Synagogen deshalb so gebaut sind, dass man einige Stufen hinabsteigen muss, um dann tatsächlich „aus der Tiefe“ rufen zu können. Vor allem aber ist dieses „Lied des Hinaufgehens“, so die Überschrift von Psalm 130, ein Schrei nach Erlösung aus der Zerstreuung. Wenn der Apostel Paulus in Aussicht stellte, dass einmal „ganz Israel gerettet“ wird (Römer 11,26), dann schließt das in jüdischem Denken automatisch mit ein, dass Gott durch den Propheten Hesekiel (39,28) nicht nur die Rückkehr des Volkes in das Land vorhersagt, sondern auch verspricht: „Ich will nicht einen von ihnen dort zurücklassen“.
Der Gott Israels hat den Schrei seines Volkes gehört. Seit dem absoluten Tiefpunkt Jerusalems zur Zeit von Rabbi Mose Nachmanides und dem Bau der nach ihm benannten „Ramban-Synagoge“ begann ein ständiger Strom von Juden in das Land Israel hinaufzuziehen. 1483 trifft Rabbi Elia aus Ferrara in Jerusalem ein, 1579 120 Neueinwanderer aus Damaskus, 1700 Juda der Fromme mit 1.000 seiner Anhänger. Die so genannte Hurva-Synagoge erinnert noch heute an ihn. 1721 kommt Rabbi Jesaja Horowitz. Im 18. Jahrhundert werden in Jerusalem 19 Talmudschulen von Juden aus Italien, Konstantinopel, Amsterdam und Aleppo gegründet. 1760 trifft Rabbi Schalom Scharabi aus dem Jemen in Jerusalem ein und 1771 gründet Rabbi Menachem Mendel aus Witebsk mit 300 Anhängern eine chassidische Siedlung.
1799 rückt das Heilige Land mit dem Orientfeldzug Napoleons in den Brennpunkt des internationalen Interesses. Bevor der französische Kaiser vor den Toren von Akko scheitert, verkündet er noch, Palästina und Jerusalem sollten seinen rechtmäßigen Erben, dem jüdischen Volk, zurückgegeben werden.
Im 19. Jahrhundert setzt sich dieser Trend fort. Antisemitische Ausbrüche verstärken ihn. Als beispielsweise 1840 die Juden von Damaskus beschuldigt werden, den Priester Toma und seinen moslemischen Diener ermordet zu haben, um ihr Blut für die Mazzot (ungesäuerten Brote) am Passahfest zu verwenden, drängt der in Sarajevo geborene Rabbi Juda Alkalai sein Volk zur Alija. 1881 lösen Pogrome in Russland und Rumänien die so genannte „Erste Alija“ aus. 40.000 Juden machen sich auf den Weg nach Palästina.
Während um Jerusalem herum erste jüdische Siedlungen entstehen – Mischkenot Schaananim (1860), Mea Schearim (1873), Machane Jehuda (1887) –, setzen sich jüdische Bittsteller vor dem Berliner Kongress (1878) für die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina ein. Fürst Otto von Bismarck erklärt sie für wahnsinnig. Trotzdem formiert sich der Zionismus als säkulare politische Bewegung in Europa. Anfang September 1897 schreibt der österreichische Journalist Theodor Herzl unmittelbar nach dem ersten Zionistenkongress in sein Tagebuch: „Fasse ich den Baseler Kongress in ein Wort zusammen — das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen — so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.“
Gegen immense Widerstände setzt sich die Bewegung fort. Unermüdlich bearbeitet Herzl die Mächtigen seiner Zeit, bittet den deutschen Kaiser um ein Protektorat über den jüdischen Staat und muss sich von Papst Pius X. im Januar 1904 in Rom sagen lassen: „Die Juden haben unseren Herrn nicht anerkannt, also können wir das jüdische Volk nicht anerkennen.“
1899 vertreibt der Pascha von Damaskus die Juden aus einer Siedlung auf den Golanhöhen. Im April 1909 wird die erste jüdische Stadt im Land Israel gegründet: Tel Aviv. Im Dezember desselben Jahres entsteht der erste Kibbutz: Degania am Südende des Sees Genezareth. Im März 1917 vertreiben die Türken alle Juden aus Haifa und Tel Aviv.
Im November 1917 erklärt die britische Regierung in der so genannten „Balfour Declaration“ ihre Unterstützung für eine jüdische Heimstätte in Palästina. Am 24. Juli 1922 beauftragt der Völkerbund in San Remo die britische Regierung im Palästina-Mandat ausdrücklich damit, die Alija und die Besiedlung des Landes durch das jüdische Volk zu fördern. Zwischen 1919 und 1924 kommen 35.000 idealistische Pioniere mit „Zertifikaten“ der britischen Regierung ins Mandatsgebiet Palästina. 1924-1931 treiben polnische Wirtschaftssanktionen viele jüdische Angehörige aus kleinbürgerlichen Schichten „hinauf nach Zion“. Zwischen 1929 und 1939 fliehen eine Viertel Million Juden vor den Nazis aus Deutschland nach Palästina. Diese großen jüdischen Einwanderungswellen nach Palästina erregen den Widerstand von Teilen der arabischen Bevölkerung. Extremistische Führer wie der Großmufti und Hitler-Freund Hadsch Amin el-Husseini gewinnen die Oberhand und hetzen ihre Anhänger immer wieder zu blutigen Aufständen an, etwa 1929 und 1936. Die britische Regierung reagiert auf die arabische Gewalt mit einer Einschränkung und teilweise massiven Behinderung der jüdischen Einwanderung nach Palästina, ein klarer Verstoß gegen das Völkerbundsmandat. David Ben-Gurion, der wenige Jahre später zum ersten Premierminister des Staates Israel werden sollte, stellt in dieser schweren Zeit die Richtlinie auf: „Wir werden gemeinsam mit England gegen Hitler kämpfen, als gäbe es kein Weißbuch, und wir werden das Weißbuch bekämpfen, als gäbe es keinen Krieg.“
Bevölkerung verdoppelt sich
Die Raison d‘Être des 1948 gegründeten jüdischen Staates Israel ist, bedrängten Juden aus aller Welt Zuflucht zu bieten. Der junge Staat wurde von einer Welle der Immigration überschwemmt, so dass sich allein in den Jahren von 1948 bis 1951 die jüdische Bevölkerung in Israel verdoppelte. Die ersten Einwanderer kamen nicht nur als Holocaustüberlebende aus Europa. Ungefähr eine Million Juden mussten in diesem Zeitraum ihre Heimat in arabischen Ländern verlassen, weil ihnen das Leben dort unmöglich gemacht wurde. Die meisten flohen nach Israel.
In den fast sieben Jahrzehnten seines Bestehens bewältigte der Staat Israel mehrere große Einwanderungswellen, so dass heute mehr als sechs Millionen Juden im „Land ihrer Väter“ leben.
Eljakim HaEtzni wohnt seit 44 Jahren in Kirijat Arba bei Hebron. Unermüdlich verteidigt der fast 90-jährige Jurist und ehemalige Knessetabgeordnete das Recht seines Volkes auf ein Leben im Land Israel. Er erinnert sich, wie seine Familie 1938 aus dem norddeutschen Kiel vertrieben wurde mit den Worten: „Juden nach Palästina!“ „Jetzt sind wir hier, und es ist euch wieder nicht recht!“, hält er seinen deutschen Zuhörern entgegen. Die Jahre des Kampfes haben ihn zu der Überzeugung gebracht, dass nur „Tatsachen auf dem Boden“ die Verwurzelung des jüdischen Volkes im Land Israel dauerhaft garantieren. Auf das Wohlwollen der Völkerwelt, internationales Recht oder internationale Garantien gibt der alt gewordene Siedlerführer nicht mehr viel.
HaEtzni gibt sich als nicht-orthodoxer, säkularer Jude. Trotzdem weiß er: „Wir sind hier kraft der Bibel.“ Er glaubt nicht an einen Gott, der sich um das Schicksal einzelner Menschen kümmert. Aber er ist fasziniert von der Tatsache, dass die Bibel schon vor 2.500 Jahren vorausgesagt hat, dass das Volk Israel den Geboten seines Gottes ungehorsam sein wird; dass es deshalb sein Land verlassen und in alle Welt zerstreut werden wird; dass es sich dort aber nicht assimilieren können, sondern nach Jahrtausenden der Diaspora wieder in sein Land zurückkehren wird. „Das ist rational nicht erklärbar!“, weiß der alte Herr.