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Flüchtlinge im eigenen Land – Stimmungsstreiflichter von den evakuierten Gazasiedlern

„Galut Yerushalayim“ – „Exil in Jerusalem“ nennt Dror Vanunu seine Situation. In der Lobby des Jerusalemer Schalom-Hotels erzählt der Sprecher der Gazasiedler von den Folgen der „ethnischen Säuberung“ von 8.000 Israelis. Auf dem Tisch liegt ein Kalender für das jüdische Jahr 5766, den die Interessenvertretung „Freunde des Gusch Katif“ verbreitet. Neben den Bildern von der Siedlungsräumung im August 2005 steht immer wieder das Motto der entwurzelten Idealisten: „Wir werden nie vergessen und nicht vergeben!“

„Das war mein Haus!“, zeigt Vanunu auf einem der Bilder. Vor zwei Jahren hatten Zeitungen noch getitelt: „Ariel Scharon will räumen – Dror Vanunu baut.“ Von seinem 180-Quadratmeter-Traumhaus in Neve Dekalim, das er in den vergangenen zwei Jahren noch gebaut hat, hat Vanunu zwei Tage vor dem endgültigen Rückzug der Armee aus dem Gazastreifen nur noch einen Trümmerhaufen gesehen. Drei Monate später sitzt er mit seiner Frau Keren und drei kleinen Kindern im Hotel in Jerusalem – und sieht sich selbst noch als Privilegierten, weil sie beide noch Arbeit haben.

Auch Jossi Barbi aus der Siedlung Elei Sinai sieht sich als Flüchtling im eigenen Land. Die Dorfgemeinschaft von Elei Sinai hat zu Fuß die Ortschaft auf den Räumungsbefehl hin verlassen und wenige Hundert Meter nördlich des Grenzübergangs Eres an der Kreuzung von Jad Mordechai ein „Flüchtlingslager“ eingerichtet. Der Elektriker schwärmt von seiner 393-Quadratmeter-Villa und den paradiesischen Zuständen in Elei Sinai. Jetzt wohnt er im Zelt, mit seiner Frau und vier Kindern auf neun Quadratmetern. Im Zelt nebenan werden die fünf Kinder des Kindergartens von Elei Sinai betreut. Unter allen Umständen will die Dorfgemeinschaft das neue Leben gemeinsam aufbauen.

Andere Gusch-Katif-Flüchtlinge, die ihr Schicksal nicht so entschlossen selbst in die Hand genommen haben, wurden von Provisorium zu Provisorium geschickt. Eine Gruppe von 24 Familien aus Gadid rühmt sich, die meistevakuierte Gemeinschaft zu sein. Ihre erste Unterkunft war das Hotel Reich in Jerusalem. Von dort wurden sie ins Kibbuz-Gästehaus von Neve Ilan, westlich von Jerusalem verlegt, das sie kurz darauf für zehn Tage räumen mussten. Sie fanden in Tiberias am See Genezareth Unterkunft, zogen zurück nach Neve Ilan, wurden für ein Wochenende nach Jerusalem evakuiert und befinden sich jetzt im Kibbuz Chafez Chaim. Hier warten sie für unbestimmte Zeit, bis über ihr endgültiges zeitweiliges Quartier entschieden wird – von dem aus sie dann anfangen können, zu planen und zu entscheiden, wo sie letztendlich ihre Siedlung neu aufbauen wollen.

Die 58 Familien aus Kfar Darom weigerten sich Ende November, in das Hochhaus in der südisraelischen Stadt Aschkelon einzuziehen, das ihnen die Regierung als Zwischenlösung für die nächsten zwei bis drei Jahre zur Verfügung stellen will. Immer neue Verzögerungen und Forderungen der Wohnungsgesellschaft Amigur hatten die Geduld der Evakuierten überstrapaziert. Jetzt argumentieren sie, sie seien ohnehin nicht an ein Hochhaus gewöhnt und wollten nur in Einfamilienhäusern wohnen.

Wenige Kilometer nördlich des Demonstrationsflüchtlingslagers von Jad Mordechai liegt östlich der Straße nach Aschdod die „Karavillen-Stadt“ Nizan, in der bislang 350 Familien eine provisorische Unterkunft gefunden. „Karavilla“ ist eine Wortneuschöpfung der Gazarückzugsära, die kreiert wurde, um das hebräische Wort für Wohncontainer, „Karavan“, zu vermeiden. Von weitem sehen die grünen Rasenflächen, die frisch geteerten Straßen und die rot bedachten Häuschen wie eine schmucke Neubausiedlung aus. Bei näherem Hinsehen aber ist auch Nizan nicht mehr als ein Edelflüchtlingslager.

Die einstigen Vorzeigezionisten Israels geben kein gutes Bild ab. Sprunghaft ist die Scheidungsrate in die Höhe geschnellt. Anstatt das Geld zu sparen, um sich eine Zukunft aufbauen zu können, verschwenden diejenigen, die ihre Entschädigung bereits bekommen haben, das Geld sinnlos an neue Autos oder Luxusartikel. Eltern, die den größten Teil des Tages vor dem Fernsehapparat verbringen, haben die Kontrolle über ihre Kinder verloren. Drogenmissbrauch, Diebstahl und Gewalt – in Gusch Katif praktisch unbekannt – nehmen zu. Vier Mädchen im Alter von 16 bis 19 Jahren sind stationär in psychiatrischer Behandlung

„Jerusalem Post“-Reporterin Caroline Glick, die durch ihre Berichterstattung aus dem Irak zur Medienlegende in Israel avanciert ist, stellt eine Liste von irrationalen Verhaltensweisen der Evakuierten zusammen, die nicht einmal von der Inkompetenz, Gleichgültigkeit und bürokratischen Sinnlosigkeit der Regierungsmaßnahmen in den Schatten gestellt wird. Am offensichtlichsten in Nizan sind da vielleicht der Wachturm in der Mitte und die vier Wachtürme am Rande der Siedlung, die – wenngleich unbemannt – doch die entsprechenden Assoziationen hervorrufen.

Der Besitz der Gaza-Siedler wurde in Container verpackt, für die sie Miet- und Lagerkosten bezahlen müssen. Ein Problem ist, dass die Evakuierten nicht an ihre täglichen Gebrauchsgegenstände heran können. Viele haben nicht einmal Winterkleidung. 24 Container mit Privatbesitz von ehemaligen Gusch-Katif-Bewohnern sind verschwunden. Was an öffentlichem Gut geplündert wurde, ist noch nicht erfasst. Diejenigen, die – etwa in Nizan – bereits ihre Container auspacken konnten, mussten feststellen, dass das schnelle Einpacken, die unprofessionellen Packer und die Sommerhitze ihren Tribut gefordert haben. Im Durchschnitt sind zwanzig Prozent des Inhalts unbrauchbar geworden.

Von 700 Unternehmen wurden bislang lediglich drei entschädigt. 78 Prozent der Evakuierten sind nach Siedlerangaben arbeitslos. Kein einziger der 300 evakuierten Landwirte wurde bislang kompensiert, und keiner hat Land erhalten, das kultiviert werden könnte. Land, das zur Neuerschließung zur Diskussion steht, wird aufgrund seiner mineralischen Zusammensetzung jahrelange Vorbereitung brauchen, bis es die Erträge liefern kann, die man im Gusch Katif gewohnt war.

James Wolfensohn, Quartettbotschafter und ehemaliger Weltbankpräsident, hatte wohlhabende amerikanische Juden dazu bewegt, den jüdischen Siedlern ihre Gewächshäuser abzukaufen, um sie als Startkapital für eine blühende Wirtschaft an die Palästinenser zu verschenken. Doch ein Teil der Gewächshäuser wurde von randalierenden Palästinensern geplündert. Jetzt weigert sich die Weltbank laut den betroffenen Landwirten die Entschädigung zu bezahlen, weil die Palästinenser diese Gewächshäuser ja nicht mehr bewirtschaften könnten. Ein geringer Trost sind Versprechungen des israelischen Landwirtschaftsministeriums, den Gusch-Katif-Landwirten Fortbildungskurse anzubieten, die sie darauf vorbereiten soll, ihre Betriebe unter anderen Klima- und Bodenbedingungen wieder aufzubauen.

Die Liste der Klagen nimmt kein Ende. Viele der Evakuierten zahlen für ihre zerstörten Häuser Kredite ab, ganz unabhängig davon, ob sie mit der Räumungsbehörde kooperiert haben. Familien, die lediglich zur Miete im Gusch Katif gewohnt haben, haben keinen Anspruch auf eine staatliche Wohnung. Sie bekamen in der dritten Novemberwoche einen Brief der Räumungsbehörde, in dem sie aufgefordert werden, ihre Hotelunterkünfte innert einer Woche zu räumen.

Auch wenn die Erbitterung aus den Schlagzeilen verschwunden ist, in der israelischen Gesellschaft schwelt sie weiter. Die Siedler beklagen, dass viele Israelis ihrem Schicksal gleichgültig oder gar feindselig gegenüber stehen. Die Popularität Ariel Scharons ist ungebrochen, und der 77-Jährige hofft mit einer neuen Partei auf eine neue Amtszeit, wenn im März 2006 gewählt wird. Seine Anhänger verweisen auf die immensen Kosten, die der Regierung für die Neueingliederung der evakuierten Siedler entstanden sind – und dass man für einen Frieden und den Fortbestand Israels als jüdische Demokratie eben bereit sein müsse, schmerzhafte Kompromisse auf sich zu nehmen.

(Foto: Johannes Gerloff)

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