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An vorderster Front – Interview mit dem Vizesicherheitschef des Gusch Katif

Eigentlich hieß er einmal Michael Nützel und wohnte in Sonthofen im Allgäu. Im März 1995 will der Ingenieur, Jahrgang 1966, im Auftrag einer Elektronikfirma nach Jordanien fahren. Dass er dort mit seinem Auto nie ankommt, liegt daran, dass der israelisch-jordanische Grenzübergang wenige Minuten vor seiner Ankunft geschlossen hatte. Im Kibbuz Ein Dor findet Michael Nützel eine Unterkunft für eine Nacht – und bleibt dort hängen.

Nach einem Sprach- und Konversionskurs im religiösen Kibbuz Sde Elijahu tritt der „total ungläubige Katholik“ am 9. März 1998 zum Judentum über, erwirbt dadurch die israelische Staatsbürgerschaft, ändert seinen Familiennamen in „Nizan“ und arbeitet als Fahrer eines Lieferwagens. Um etwas mehr zu verdienen, übernimmt er Nachtwachen, absolviert in verschiedenen Kursen eine militärische Ausbildung und bringt es bis zum stellvertretenden Sicherheitschef der 22 israelischen Siedlungen des Gusch Katif im Gazastreifen.

Viele israelische Siedler im Gusch Katif haben mittlerweile schon einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Michael Nizan erklärt das nicht als Bereitschaft zum Abzug, sondern als „Lebensversicherung“ und: „Wenn man eine Lebensversicherung unterschreibt, bedeutet das ja noch nicht, dass man morgen oder in drei Wochen sterben will.“ Auch er selbst plant für alle Fälle. Auf dem Tisch unter den großen Gummibäumen in seinem Garten in der Siedlung Gadid liegt ein Plan des Gartens, alles maßstabstreu. Nizan will Entschädigung gerichtlich einklagen, für jeden Baum und jeden Strauch, für die Bewässerungsanlage und den Elektrozaun gegen streunende Hunde: „Es ist mein Lebensziel geworden, den Staat zu schädigen.“

Vor ihm auf dem Tisch liegt auch eine Maschinenpistole. Immer griffbereit. Seine Arbeit bezeichnet Michael Nizan als „ziemlich gefährlich, aber viel interessanter als nicht gefährlich“. Dutzende von Scharfschützenattacken, Raketen- und Granatangriffen, Infiltrationen von Terroristen und Bomben hat er nach eigener Aussage überlebt, eben „alles, was internationaler Terror so zu bieten hat“.

In seinem Wohnzimmer führt Michael Nizan seine Sammlung von Kassamraketen und Mörsergranaten vor, die in seinem Haus eingeschlagen sind. Im gesamten Gusch Katif waren es in den vergangenen fünf Jahren mehr als 6.000. Die Palästinenser beschriften ihre gefährlichen Grüße sorgfältig. Deshalb weiß Michael Nizan: „Das ist die neueste Version. Sie heißt ‚Al-Burak‘, wie das Pferd des Propheten Mohammed. – Und so fliegt sie auch…“ Lachend macht der Sicherheitsoffizier die schlingernden Flugbewegungen des Objekts nach, das Schrecken in den israelischen Siedlungen in und um den Gazastreifen verbreiten soll.

Mit Michael Nizan sprachen für Israelnetz Johannes Gerloff und Ulrich W. Sahm.

Israelnetz: Haben Sie keine Angst, wenn Sie in Kampfhandlungen verwickelt sind?

Michael Nizan: Vorher und hinterher schon. Während der Angriffe ist man aber viel zu aufgeregt. Es geht alles sehr schnell. Da bleibt für Angst keine Zeit.

Israelnetz: Wenn man durch den Gusch Katif fährt, ist alles eingezäunt, die Siedlungen, die landwirtschaftlichen Nutzflächen, die Gewächshäuser. Auch entlang der Straßen verlaufen elektrische Zäune. Fühlen Sie sich da nicht eingesperrt?

Michael Nizan: Wenn man von außen kommt, sieht das so aus. Aber man gewöhnt sich an die Zäune, nach ein paar Jahren sieht man sie gar nicht mehr. Dafür gibt es hier viele andere Vorteile, zum Beispiel kaum Kriminalität. Die Leute hier sind wahnsinnig hilfsbereit, unterstützen sich gegenseitig. Die Kinder wachsen auf wie im Paradies. Seit ich hier lebe, habe ich nicht ein einziges Mal eine Prügelei gesehen.

Israelnetz: Was wird sich mit dem 14. August 2005 hier ändern?

Michael Nizan: Die Regierung will alle 22 Siedlungen hier räumen. Wir sind dagegen und werden versuchen, das zu verhindern.

Israelnetz: Werden Sie die Waffe einsetzen?

Michael Nizan: Nein, die Waffe dient nur zum Selbstschutz und zum Schutz der Siedler gegen Palästinenser. Wir alle hoffen, dass die Waffen auf beiden Seiten nicht zum Einsatz kommen werden.

Israelnetz: Wie soll der Widerstand gegen den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen dann konkret aussehen?

Michael Nizan: Ein Volksaufstand ist geplant. Man kann sich mit Händen und Füßen gegen die Räumung wehren. Zehntausende werden sich in Israel gegen die Räumung stellen, indem sie zum Beispiel Straßen blockieren, die Infrastruktur lahm legen. Aber alles so gewaltfrei wie möglich.

Israelnetz: Wann werden Sie selbst, als Mitglied des Sicherheitsapparates, abgezogen?

Michael Nizan: Es gibt eine Vereinbarung, dass wir nach der Räumung abgezogen werden.

Israelnetz: Werden Sie als Sicherheitsmann an der Räumung beteiligt sein?

Michael Nizan: Auf keinen Fall. Wir werden weiter versuchen, so viel Sicherheit für die Leute zu garantieren wie nur möglich, vor Granateneinschlägen, Raketenanschlägen oder Schießereien auf der Straße. Wir machen einfach unsere Arbeit weiter, so wie wir das gewohnt sind. Die Armee verlangt von uns, nicht einzugreifen, auf keiner Seite.

Israelnetz: Und daran werden Sie sich halten?

Michael Nizan: Ja, wir werden es mit Sicherheit versuchen.

Israelnetz: Vorhin haben Sie einmal erwähnt, was Sie selbst nach dem Abzug tun werden…

Michael Nizan: …dass ich die israelische Fahne einziehen und die deutsche hissen werde, weil ich einen deutschen Pass habe? Das war natürlich ein Witz! Das würde ich keine 24 Stunden überleben. Die Araber würden mich in Stücke reißen.

Israelnetz: Sie selbst haben Ariel Scharon bei den letzten Parlamentswahlen gewählt…

Michael Nizan: … zu meinem großen Bedauern. Dafür könnte ich mir heute noch die Hand abhacken.

Israelnetz: Wären Ehud Barak oder Amram Mitzna von der Arbeitspartei besser gewesen?

Michael Nizan: Im Nachhinein muss man sagen, ja. Die Linke wäre nicht in der Lage gewesen, Siedlungen zu räumen. Scharon benimmt sich wie ein Diktator. Gegen seine Wahlversprechen, gegen seine eigene Partei hat er immer weiter gemacht. Mit allen Mitteln hat er einen Volksentscheid verhindert. Jeder Minister, der sich gegen den Trennungsplan ausgesprochen hat, wurde entlassen. Ich glaube nicht, dass ein linker Regierungschef das fertig gebracht hätte.

Israelnetz: Andererseits hatte Mitzna aber doch eine Trennung von den Palästinensern und die Räumung von Siedlungen im Wahlprogramm.

Michael Nizan: Das ist ja der Wahlbetrug. Mitzna hat die Wahl mit diesem Programm verloren. Das ist ungefähr das Gleiche, wie wenn in Deutschland die Grünen die Wahl gewinnen und zwei Tage danach beginnen, in einem Naturschutzgebiet ein Atomkraftwerk zu bauen.

Israelnetz: Man kann doch auch anderswo ein schönes Leben führen. Warum hängen Sie so sehr am Gusch Katif?

Michael Nizan: Ich bin irgendwie auf Gottes Wegen nach Gusch Katif gekommen und hier geblieben. Das ist heute mein Zuhause.

Israelnetz: Aber zu biblischen Zeiten war das hier doch Philisterland…

Michael Nizan: …darüber streiten die Rabbiner. Aber mit absoluter Sicherheit haben Juden in Gaza gelebt. In Gaza-Stadt gibt es bis heute die Überreste einer alten Synagoge.

Israelnetz: Die gibt es doch auch in Deutschland?

Michael Nizan: Das ist Ausland. Der Gusch Katif liegt im Land Israel.

Israelnetz: Es gibt noch andere Orte, die biblisch zum Land Israel gehören und heute außerhalb des Staates Israel liegen. Warum ist der Gusch Katif so wichtig?

Michael Nizan: Wir haben eine Verantwortung für den Staat Israel. Die Auswirkung der Räumung dieser 22 Siedlungen wird für Israel absolut verheerend sein. Der palästinensische Terror wird dadurch nur noch verstärkt. Die Palästinenser sehen, dass ihnen fünf Jahre Terror und Mord Gebiete eingebracht haben, was kein Friedensabkommen geschafft hat. Scharon setzt mit diesem Rückzug Maßstäbe und signalisiert, dass sogar er bereit ist, dem Terror nachzugeben. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum die Palästinenser nicht mit dem Terror weitermachen und ihn sogar noch verstärken sollten. Sie werden weiter Terrordruck ausüben und weitere Gebiete innerhalb Israels und Jerusalem fordern.

Israelnetz: Der Gusch Katif hat viele Terror-Opfer zu beklagen…

Michael Nizan: … ja, es hat 50 Tote unter der Zivilbevölkerung gegeben und mehr als 120 Soldaten, die ums Leben gekommen sind. Aber man kann vor dem Terror nicht fliehen. In Netanja, in Jerusalem, in Tel Aviv, in jeder größeren Stadt in Israel gab es mindestens genau so viele Tote. Wenn wir jede Stadt verlassen würden, in der der palästinensische Terror Leute getötet hat, gäbe es in zwei Jahren kein Israel mehr.

Israelnetz: Ein Argument der Regierung ist, dass sich die Grenze zum Gazastreifen nach einem Rückzug leichter verteidigen lässt.

Michael Nizan: Das ist Blödsinn. Die Grenze um Gaza muss noch viel schärfer bewacht werden. Die Grenze zwischen Gaza und Ägypten soll von Ägyptern bewacht werden. Das bedeutet, dass Langstreckenwaffen nach Gaza hinein kommen werden, die den ganzen Staat Israel bedrohen. Das ist das Potential dieser Räumung. Verheerend.

Die Leute hier sind in einem absoluten Schock. Sie können nicht verstehen, dass ihre eigene Regierung sie aus ihren Häusern vertreibt, und das ohne irgendein Friedensabkommen. Wir leben hier inmitten von Terror, und Scharon belohnt den Terror.

Israelnetz: Auch der Rückzug aus dem Sinai war dramatisch, und auch damals, Anfang der 80er Jahre, wurden Siedlungen geräumt, und auch damals gab es keinen Volksentscheid.

Michael Nizan: Ja, aber das Umfeld war ein ganz anderes. Es gab, wie gesagt, ein internationales Friedensabkommen mit den Ägyptern, und damals haben die Israelis den Arabern vertraut. Im Rückblick muss man sagen, dass dies zu Recht geschehen ist. Wir haben mit Ägypten einen… ziemlichen… Frieden… also keinen hundertprozentigen… Aber einen Zustand, mit dem wir leben können.

Aber sich heute auf die Palästinenser zu verlassen, ist Selbstmord. Außerdem ist das bei Scharon kein Schritt nach vorne, sondern Flucht. Scharon flieht vor dem Terror, um seine Söhne vor einer Strafverfolgung zu retten. Die ganze Scharon-Familie ist in kriminelle Machenschaften verwickelt. Der Generalstaatsanwalt war ein Linker, der Scharon mehr hasst als der Teufel das Weihwasser. Mit der Siedlungsräumung will Scharon einfach die Linke beruhigen.

Israelnetz: Inzwischen ist der Staatsanwalt kein Linker mehr…

Michael Nizan: …aber alle Führungspositionen innerhalb der Regierung, die Staatsanwaltschaft, die Gerichte und sogar die Medien hat Scharon unter Kontrolle. Er hat sich ein komplettes System aufgebaut und fungiert wirklich wie ein Diktator. Die Demokratie in Israel ist zerstört und durch eine Diktatur ersetzt worden.

Israelnetz: Heißt das dann, dass es Ihrer Meinung nach in Israel keine freien Wahlen mehr geben wird?

Michael Nizan: Wenn’s nach Scharon ginge, bestimmt nicht [lacht]. Aber ein bisschen Hoffnung haben wir schon noch.

Israelnetz: Ein Argument der Abzugsbefürworter ist, dass Israel aus demographischen Gründen aufhört, eine jüdische Demokratie zu sein, wenn es die besetzten palästinensischen Gebiete nicht abgibt.

Michael Nizan: Das lasse ich nicht gelten. Die Araber im Gazastreifen haben keine israelische Staatsbürgerschaft. Dass hier jetzt 8.000 Juden leben, spielt demographisch für Israel gar keine Rolle.

Israelnetz: Auf Sichtweite hier sieht man Araber, die „Muwassis“ heißen und an vielen Stellen gar nicht durch Zäune von den jüdischen Siedlungen getrennt leben. Was sind das für Leute?

Michael Nizan: Das sind Palästinenser, Beduinen. Schon vor den Abkommen von Oslo war das ganze Gebiet hier, ein Streifen von 40 Kilometern Länge, von Beduinen bewohnt. Sie lebten hier schon seit Hunderten von Jahren. Nach Oslo bekam Arafat das Recht, dieses Gebiet zu verwalten. Er hat angefangen, diese Leute zu enteignen und so viele Palästinenser wie möglich in dieses Gebiet zu bringen. Die Palästinensische Autonomiebehörde übt Druck auf sie aus, weil wir mit diesen Beduinen super klar kamen. Aber das ging in die Hose, denn inzwischen leben dort schon drei Viertel Palästinenser – und auch mit denen verstehen wir uns blendend.

Israelnetz: Ging von den Muwassis kein Terror gegen Sie aus?

Michael Nizan: Bis heute kein einziger Anschlag. Es gab drei Terroranschläge aus dem Muwassi-Gebiet auf uns, aber das waren Palästinenser aus Gaza, die mit Fischerbooten kamen, um es auszunutzen, dass es keine Absperrungen zwischen diesem Gebiet und den Siedlungen gibt.

Israelnetz: Vor einigen Wochen wurden in den israelischen Medien ausführlich Bilder gezeigt, wie jüdische Jugendliche im Gebiet der Muwassis einen Araber mit Steinen bewerfen und fast lynchen.

Michael Nizan: Ja, ich weiß, ich war auch da. Die Auseinandersetzungen dauerten drei Tage und das passierte am dritten Tag. Da war mit Sicherheit zu viel Gewalt im Spiel. Ich möchte diese Taten auf keinen Fall verteidigen. Der jüdische Siedler, der das getan hat, kam übrigens nicht aus dem Gusch Katif, sondern von außerhalb.

Aber auch der Araber war kein Unschuldiger. Er hat am Morgen zuvor noch ein israelisches Mädchen im Alter von zwölf Jahren durch einen Stein schwer verletzt. Das wurde aber weniger berichtet, in Israel ganz, ganz wenig und in Europa bestimmt nicht.

Israelnetz: Der Siedlersender „Arutz Scheva“ hat verbreitet, die ganze Szene sei gestellt gewesen. Können Sie dazu etwas sagen?

Michael Nizan: Nein, nein, das war mit absoluter Sicherheit nicht gestellt. Das ist wirklich passiert und es war vorherzusehen. Da gab’s drei Tage lang schon täglich Auseinandersetzungen zwischen den Palästinensern und den Leuten, die das Haus besetzten, und es war absolut klar, dass die Lage explodiert, und die israelische Armee und Polizei hat drei Tage lang absolut nichts getan, um das zu verhindern. Die wussten ganz genau, dass das explodiert, und es hat ihnen unheimlich viel genutzt, um das schlechte Image der Siedler weiter zu verbreiten.

Israelnetz: Das waren also Leute von außen, die Sie unterstützen wollten, und Ihnen dabei einen Bärendienst erwiesen haben?

Michael Nizan: Ja, im Nachhinein muss man das so sehen.

Israelnetz: Wie reagieren Sie jetzt darauf?

Michael Nizan: Viel, viel vorsichtiger. Also, wir versuchen jetzt, Störenfriede von außerhalb schon im Vorfeld auszusondern und teilweise sogar der Armee und Polizei zu übergeben.

Israelnetz: Sie sind ja Deutscher, haben einen deutschen Pass und sehen auch überhaupt nicht wie ein Israeli aus. Gehen Sie manchmal nach Gaza oder nach Rafah?

Michael Nizan: Nein, das ist unmöglich. Also, vor sechs, sieben Jahren wäre das vielleicht noch möglich gewesen. Aber durch meine Arbeit bin ich viel zu bekannt auf der palästinensischen Seite. Es gibt Steckbriefe von der Hamas mit meinem Bild drauf, die in ganz Gaza aushängen. Das wäre ein absolutes Selbstmordunternehmen.

Israelnetz: So richtige Plakate…?

Michael Nizan: …richtige Steckbriefe, mit meinem Kopf drauf, und dem Versprechen, dass, wer mich umbringt, eine Belohnung bekommt…

Israelnetz: Sagen Sie doch mal, wie viel das ist, ob sich das lohnt?

Michael Nizan: 10.000 Dollar sind auf meinen Kopf ausgesetzt – und außerdem sollen dem, der mich umbringt, nur noch Söhne und keine Töchter geboren werden.

(Bild: Johannes Gerloff)

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