Zu den Kindheitserinnerungen eines jeden Israeli gehört der Geruch von Feuer und gebratenen Kartoffeln genauso, wie das Bild von Dutzenden riesiger Feuerstellen unter dem unendlichen Sternenhimmel. Am Vorabend des Halbfeiertages „Lag Ba´Omer“ – in diesem Jahr ist das der Abend des 26. Mai – entzünden Juden in ganz Israel, in den Parks und in der Natur, aber auch am Straßenrand oder auf unbebauten Grundstücken, Lagerfeuer und braten Kartoffeln. Manche feiern mit Freunden, andere Feuerstellen werden von Schulklassen betreut. Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge sind allgegenwärtig, um schlimme Folgen der Feiern rechtzeitig abzuwenden.
Im ganzen Land sammeln die Kinder an den Tagen vor Lag Ba´Omer fleißig Holz. Weil in Israel andauernd gebaut wird, ist es nicht schwer, alte Paletten zu finden. Neben den Baumzweigen, die Stürme oder Schnee im letzten Winter heruntergerissen haben, sind auch der kaputte Holzstuhl oder das abgenutzte Sofa, die als Sperrmüll neben dem Müllcontainer stehen, heiß begehrt.
Der Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Gruppen, die ein eigenes Feuer vorbereiten, ist hart, und wer sein Holz behalten will, muss es gut verstecken. Nur zu oft ist die Mahnung der Lehrer, dass Schalungsholz auf Baustellen nicht für die Lagerfeuer bestimmt ist und die damit verbundene Warnung vor Diebstahl, in den Wind geredet – nach Lag Ba´Omer findet man in Israel kaum noch herumliegendes Holz.
„Omer“ ist der hebräische Ausdruck für „Garbe“. In 3. Mose 23,9-16 steht: „Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, und es aberntet, so sollt ihr die erste Garbe eurer Ernte zu dem Priester bringen… Danach sollt ihr zählen vom Tage nach dem Sabbat, da ihr die Garbe als Schwingopfer darbrachtet, sieben ganze Wochen… nämlich fünfzig Tage, sollt ihr zählen und dann ein neues Speiseopfer dem Herren opfern.“ Am Passahfest erinnert sich das Volk Israel also nicht nur an den Auszug aus Ägypten. Pessach ist auch ein Erntedankfest.
Vom zweiten Tag des Passahfestes an werden 49 Tage gezählt, bis am 50. Tag Schawuot, das Wochenfest beginnt. Vom griechischen Wort für „50“ ist übrigens die Bezeichnung für das christliche „Pfingstfest“ abgeleitet. Die hebräischen Buchstaben Lamed und Gimel haben gemeinsam den Zahlenwert 33, nacheinander ausgesprochen ergeben sie „Lag“. „Lag Ba´Omer“ ist also der 33. Tag der Omer-Zählung.
Wie Lag Ba´Omer zum „Lagerfeuerfest“ wurde, ist unklar. Verschiedene Traditionen werden mit dem 33. der Omer-Zählung in Verbindung gebracht. Manche wollen mit dem Lagerfeuer an den Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer (132-135 n. Chr.) erinnern. Die aufständischen Juden hatten sich damals Nachrichten per Signalfeuer von Berg zu Berg vermittelt.
Kabbalisten datieren den Todestag von Rabbi Schimon Bar Jochai auf Lag Ba´Omer. Alljährlich versammeln sich deshalb Hunderttausende orthodoxer Juden am Berg Meron in Galiläa, wo er der Tradition zufolge beerdigt wurde. Dort findet ein riesiges Festival statt, auf dem viel getanzt und gesungen wird.
Die Omer-Zeit ist für das jüdische Volk eher eine traurige Erinnerung an die brutale Verfolgung durch die Römer. Auch der berühmte Rabbi Akiba und viele seiner Jünger wurden zur Zeit der Omer-Zählung ermordet. Einer anderen Überlieferung zufolge sollen 24.000 Torah-Schüler in dieser Zeit einer Epidemie zum Opfer gefallen sein, weil einer den anderen nicht genügend geachtet hatte. Deshalb wird während der Omerzählung eine Trauerzeit eingehalten, während der orthodoxe Juden ihr Äußeres vernachlässigen und keine Hochzeiten gefeiert werden.
Am 33. Omer soll dann aber das „Studenten-Sterben“ aufgehört haben. Deshalb wurde dieser Tag im Mittelalter zum Tag der jüdischen Studenten. Bis heute feiern die Studenten Israels Lag Ba´Omer als ihr Fest. Nach einer Auslegung des 2. Buches Mose, Kapitel 16, von Moses Sofer fiel an diesem Tag zum ersten Mal Manna vom Himmel.
Auf jeden Fall wird am 33. Tag der Omer-Zählung die Trauerzeit und alle mit der Trauer verbundenen Sitten und Gebräuche unterbrochen. An Lag Ba´Omer darf man sich Bart und Haare wieder schneiden, und Hochzeiten können stattfinden. Deshalb ist dieser Tag in Israel als Hochzeitstag sehr beliebt. Und deshalb schneiden orthodoxe Juden an Lag Ba´Omer am Meron in einer feierlichen Zeremonie ihren dreijährigen Jungen zum ersten Mal die Haare. Orthodox-jüdische Buben unter drei Jahren sind von Mädchen nicht an der Frisur zu unterscheiden, sondern nur an der Kleidung. Die Mädchen tragen natürlich Röcke und Kleidchen, die Jungs Hosen.
Vom Vorabend des 16. Nissan, des zweiten Pessach-Tages, an wird zu Hause und in den Synagogen an jedem Abend „Omer“ gezählt. An Wochentagen wird Omer kurz nach Sonnenuntergang, mit Beginn des neuen Tages, an Feiertagen kurz vor Sonnenuntergang im Stehen und mit einem Segen gezählt. Falls jemand am Abend das Zählen vergessen hat, darf er es am nächsten Tag nachholen, dann aber ohne Segensspruch. Für die Vergesslichen gibt es übrigens die „Omer-Kalender“, die vielleicht als Vorbild für den christlichen Adventskalender hergehalten haben könnten. Oder war es umgekehrt?
Der Feststellung „Heute ist der erste (zweite, dritte…) Tag nach dem Omer“ folgen Gebete und Psalmen. Dabei spielt der Psalm 67 eine besondere Rolle. Wenn man von der Überschrift absieht, besteht er aus 49 Worten, die den 49 Tagen der sieben Wochen zwischen Pessach und Schawuot entsprechen. Psalm 67 schließt mit den Worten: „Das Land gibt sein Gewächs; es segne uns Gott, unser Gott! Es segne uns Gott, und alle Welt fürchte ihn!“
Überhaupt ist dieser Psalm von der Bitte bestimmt, dass alle Menschen Gottes Heil erkennen und Gott danken mögen. Die im Neuen Testament überlieferten Pfingstereignisse wurden also sieben Wochen durch das Gebet Israels vorbereitet: „Parther, Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene und Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber redeten von den großen Taten Gottes“ (Apostelgeschichte 2,9-11). Zwischen Ostern und Pfingsten betet Israel jeden Abend darum, „dass man auf Erden erkenne seinen Weg, unter allen Heiden sein Heil“. Und der Refrain des Psalms ist: „Es danken dir, Gott, die Völker, es danken dir alle Völker!“ (Psalm 67,3-4.6).
In der „Zeit der Ernte“, in der „Omer-Zeit“ also, spielt auch die Geschichte von Naomi, Rut und Boas, die im biblischen Buch Rut überliefert wird. Die Moabiterin Rut bekennt ihre Treue zur israelischen Schwiegermutter und ihren Glauben an den Gott Israels mit den Worten: „Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott“ (Rut 1,16). Rut wurde schließlich Boas’ Frau und die Urgroßmutter von König David, von dessen Nachfahren Juden wie Christen erwarten, „dass du die Menschen recht richtest und regierst die Völker auf Erden“ (Psalm 67,5).
(Bild: Johannes Gerloff)