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Bleib ein Mensch!

„Ich kann ja nicht hassen, ich hab ja gerne Menschen.“ Zvi Blumenfrucht denkt an die furchtbarste Zeit seines Lebens zurück und fasst mit jiddischem Akzent zusammen, was zum Motto seines Lebens geworden ist: „Verzeihen ist leichter als Vergessen“. Er krempelt seinen linken Ärmel hoch und zeigt mir die Häftlingsnummer aus Auschwitz: 108009.

Vor etwas mehr als 78 Jahren wurde der Journalist, der bis heute regelmäßig für eine jiddisch-sprachige Zeitung schreibt, im polnischen Lodz als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Bevor er seinen Schulabschluss machen kann, wird die Familie im Dezember 1939 ins Ghetto Krakow deportiert, von dort weiter ins Konzentrationslager Auschwitz.

„Herschele – der hebräische Name „‚Zvi“ ‚ heißt übersetzt „‚Hirsch“ ‚ – du gehst herois von dannen, weil du den Nummer host 108009″, sagt ihm sein Vater, als ihnen die Häftlingsnummern auf die Unterarme tätowiert werden. Mit der jüdischen Tradition zutiefst vertraut hatte Vater Blumenfrucht die Quersumme der Nummern seiner Söhne errechnet und in hebräische Buchstaben umgesetzt. Die Quersumme von 1+8+9 ist 18, der Zahlenwert des hebräischen Wortes „Chai“, was „lebe“ bedeutet. Die Häftlingsnummer wurde Zvi zur Schicksalsnummer. Er ist der einzige Überlebende seiner Familie.

Das Vermächtnis, das ihm sein Vater mit auf den Weg gibt, ist: „Bleibe ein Mensch, denn du bist ein Blumenfrucht!“ – Ein „Mensch“, so erklärt Zvi Blumenfrucht, ist im Jiddischen ein gradliniger Charakter, der nicht lügt, nicht stiehlt, auf dessen Wort man sich verlassen kann und der vor allem ein gutes Herz hat. „‚Bleib ein Mensch‘, das war meine Devise in Auschwitz“, erinnert sich der agil wirkende ältere Herr – und man spürt ihm ab, dass ihn dieser Vorsatz ein Leben lang begleitet und geprägt hat.

Am 18. Januar 1945 evakuieren die Deutschen das KZ Auschwitz. Für Zvi und seine Mithäftlinge beginnt ein wochenlanger Todesmarsch, in eisiger Kälte, ohne Essen. „Wir haben Gräser gegessen“, erinnert sich Zvi, „mit geschwollenen Beinen und voller Filzläuse mussten wir immer weiter marschieren. Wer stehen blieb, bekam einen Genickschuss.“ In der Nähe von Hof an der Saale macht der junge Mann einen Fluchtversuch. Ein SS-Mann lässt ihn – durch Schüsse schwer verletzt – liegen, weil er den 16-jährigen Jährigen für tot hält.

Doch „wie ein Gottesfinger“, so erinnert sich Blumenfrucht heute, erscheint ein katholischer Pater, Dr. Norbert Backmund, liest ihn zwischen den Bahngleisen auf und sorgt dafür, dass der junge Jude gesund gepflegt wird. Sein Unterkiefer ist zerschmettert und in Armen und Beinen hat er weitere Schusswunden. Liebevoll erinnert sich Zvi Blumenfrucht an „Vater Norbert“. Bis heute erhält er die Verbindung zum Kloster Windberg nahe Straubing in Oberbayern aufrecht.

Über die Alpen und Rom führt sein Weg dann Ende der 40er Jahre nach Israel, wo Blumenfrucht heute mit seiner Frau Hanna, zwei Kindern und sechs Enkelkindern lebt. „Vergessen führt ins Exil. Die Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.“ Diese Worte stehen auf einer Urkunde, die Vater Norbert Backmund im Juni 1972 in der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Jad VaSchem für seinen Einsatz für verfolgte Juden verliehen bekam.

Verzeihen, ja, das will Zvi Blumenfrucht aus ganzem Herzen. Mit offenen Armen empfängt er junge Deutsche und erzählt bereitwillig von damals: „Heute gibt es ein anderes Deutschland als zur Nazizeit!“ – Aber vergessen, nein, das darf nie geschehen. „Zu leicht kann ein Mensch, der doch als Ebenbild Gottes geboren wurde, zum Sadisten, zum Mörder, zum Scheusal werden.“ Zvi weiß: „Das kann schon wieder kommen.“

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