Fast vier Stunden lang diskutierten am 26. Juni 2003 etwa 140 Gäste und eine Runde aus Experten und Parlamentariern im Sitzungssaal des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags im Paul-Löbe-Haus, einem Nebengebäude des Reichstags. Mit dem Thema „Antisemitismus, deutsche Medien und der Nahostkonflikt“ griffen die vier Träger der Veranstaltung – das Moses Mendelssohn Zentrum für Europäisch-Jüdische Studien an der Universität Potsdam, das Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, das Kulturforum der Sozialdemokratie und honestly-concerned – eine aktuelle Frage aus der deutschen Debatte auf.
Das American Jewish Comittee förderte als Co-Sponsor die Podiumsdiskussion über sein Berliner Büro unter der Leitung von Deidre Berger. Eine wichtige Rolle spielte bei der Vorbereitung Gert Weisskirchen, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, der auch für seine Fraktion an der Podiumsrunde teilnahm.
Zum Stand der Antisemitismusdebatte
Es gebe keine neue Antisemitismus-Welle in Europa, erklärte EU-Sprecher Javier Solana vor kurzem gegenüber US-Vertretern in Washington. Solana widerspricht mit dieser Behauptung allen Feststellungen in Umfragen und anderen Untersuchungen. Die französische Regierung erkennt öffentlich an, daß der sich zunehmend auch an den Schulen ausbreitende Antisemitismus ein Problem darstellt, das zum Handeln zwingt. Das Simon Wiesenthal Zentrum weist in seinen Publikationen immer wieder auf die jetzt wahrzunehmende größte antisemitische Welle in Europa seit 1945 hin. Es neigt inzwischen zu dem Schluß, der Umfang dieser neuen Bewegung übertreffe denjenigen der antisemitischen Strömungen zu Beginn der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Liegt es an einem Mangel an politischer Sensibilität, der Solana, anders als andere – insbesondere die unmittelbar betroffenen jüdischen Gemeinschaften – die Zeichen der Zeit nicht erkennen läßt? Ist Solana über die zahlreichen Publikationen zum wachsenden arabisch-islamischen Antisemitismus, auch unter den muslimischen Minderheiten in Europa, nicht unterrichtet? Die Antwort auf diese Fragen hat für die deutsche Diskussion Bedeutung, auch für die Schlußfolgerungen aus der Debattenrunde vom 26. Juni in Berlin.
Gegen Israel gerichtete, voreingenommene Erklärungen von EU-Akteuren sind bekannt. Terroranschläge und israelische Antiterrormaßnahmen stellen sie oft auf eine gemeinsame politische Ebene. Antijüdische Propaganda und Gewalttaten „versteht“ Solana vermutlich, wie andere EU-Vertreter, als Reaktion auf den Nahostkonflikt – als vielleicht überzogene und daher abzulehnende, aber zumindest dem Anlaß nach zu begreifende Antwort auf die „Unterdrückung“ der arabischen Palästinenser. Daß Israel zum „Juden“ unter den Staaten gemacht wurde, wie es Rabbi Andrew Baker auf der Berliner Podiumsdiskussion formuliert hat, daß an Israels Politik Maßstäbe mit einem programmierten negativen Bewertungsergebnis angelegt werden, die für keinen anderen Staat gelten, daß auf die Forderung nach der Auslöschung Israels, die islamische Staaten und Gruppen erheben oder arabische Schulbücher und Medien verbreiten, nicht deutlich mit Wort und Tat reagiert wird, daß sich politische Aversionen im Alltag vielfach in gleicher Weise gegen Israel und die jüdischen Gemeinschaften richten – das alles entzieht sich der kritischen politischen Wahrnehmung Solanas und anderer. Es entzieht sich dieser Wahrnehmung nicht etwa deshalb, weil ihnen die relevanten Fakten unbekannt wären, sondern weil sie diese Fakten nach einem Erklärungsmuster deuten, das die geschilderten anti-israelischen und antijüdischen Tendenzen in Gesellschaft, Politik und Medien rechtfertigt oder relativiert.
Die Nahostpolitik Solanas und der EU-Administration fügt sich dementsprechend ohne weiteres in die Reihe derjenigen Positionen ein, die das Friedenshindernis im wesentlichen in der israelischen „Besatzung“, zudem in Eigenschaften des jüdischen Staates, weniger oder gar nicht dagegen in der arabischen Leugnung des israelischen Existenzrechts oder im arabischen Antisemitismus und Terror sehen. Daß diese Auffassung in vielen europäischen Ländern vom Mehrheitsstrom der öffentlichen Meinung getragen wird, ist zu vermuten.
Deutsche Medien und der Nahostkonflikt
Eine ähnliche Ausgangslage besteht in der deutschen Medien- und Politikdebatte zum arabisch-israelischen Konflikt und zu den neuen antisemitischen Strömungen, also auch für die in Berlin geführte Diskussion. Die Beiträge zur ersten Runde des Berliner Forums – von Andrew Baker, der das American Jewish Committee vertrat, von Ulrich W. Sahm, einem deutschen Journalisten in Israel, von Eldad Beck, einem israelischen Journalisten in Deutschland, von Sacha Stawski, dem Gründer des Internetforums honestly concerned, und von Rabbi Andreas Nachama, Mitglied im Kuratorium des Moses Mendelssohn Zentrums – haben in beeindruckender Weise das Problem beschrieben: die Aussonderung Israels in Medien und Politik und den fließenden Argumentationsübergang zum Antisemitismus.
Die deutsche Öffentlichkeit wird, so Ulrich W. Sahm, von tendenziös berichtenden Nachrichtenagenturen „mit scheinbar harmlosen Worten„, etwa mit Zusätzen nach dem Muster vom „Hardliner“ Scharon oder mit der seit langem in der Sache widerlegten Formel von einer „Provokation Scharons auf dem Tempelberg“, sowie mit „fragwürdigen Ministatistiken“ über die palästinensischen und israelischen Totenzahlen „gezielt zu Judenhaß, falschem Mitleid und Parteinahme gedrängt„. Eine Nachrichtenagentur fügt, wie Ulrich W. Sahm schilderte, jeder Meldung eine derartige pauschale Zahlenangabe zu den israelischen und palästinensischen Toten bei.
Die über 2.300 arabischen Toten wurden aber nicht alle „von den Israelis getötet“, wie einige Ministatistiken unterstellen. Auf der palästinensischen Seite sind dabei, genauer untersucht, weit über die Hälfte der Toten Kombattanten, also am bewaffneten Konflikt Beteiligte, oder auf andere Weise ohne Kombattantenstatus, zum Beispiel als Selbstmordattentäter, Konfliktteilnehmer. Ein Viertel der als Opfer gezählten arabischen Frauen sind Selbstmordattentäterinnen oder Kombattantinnen. Die rund 200 palästinensischen Selbstmordattentäter werden alle, so Sahm, in den erwähnten Statistiken von Nachrichtenagenturen als Opfer der Israelis angesehen. Dies gilt ebenso für Bombenbauer, die bei „Arbeitsunfällen“ durch Sprengstoffexplosionen umkommen, oder sogar für diejenigen Palästinenser, die wegen angeblicher Kollaboration mit Israel, zum Beispiel wegen einer Information über geplante arabische Terrorattentate, von ihren Landsleuten ermordet wurden. Die Zahl der toten Frauen ist auf der israelischen Seite dreimal so hoch wie auf der palästinensischen Opferliste. Allein diese Relation kann, wenn sie denn, was nicht der Fall ist, von den Nachrichtenagenturen verbreitet würde, mehr als manche andere Information Aufschluß über den Charakter der „Al-Aksa-Intifada“ geben.
Einseitigkeit und parteiliche Lageanalysen prägen, so Eldad Beck, das Mehrheitsbild in der deutschen Nahostberichterstattung. Ein großer Teil der deutschen Medien sieht es offenbar als seine Aufgabe an, in den Berichten über den arabisch-israelischen Konflikt nicht nur das Geschehene zu schildern, sondern zugleich offen oder verdeckt Wertungsnoten zu vergeben, in aller Regel mit einem negativen Ergebnis für Israel.
Manche von Eldad Beck dargestellten Beispiele aus der deutschen Pressepraxis liegen in der Nähe der Manipulationsgrenze. Dies gilt etwa für den redaktionellen „Ausgleich“ gegenüber einer möglicherweise israelfreundlich wirkenden Artikelüberschrift durch beigefügte Bilder, die zwar keinen Zusammenhang mit dem konkreten Berichtsthema aufweisen, aber, in Übereinstimmung mit der sonst vorherrschenden Tendenz, Israel negativ bewerten. Über ihren Bericht mit der Überschrift „Israel bereitet Rückzug vor“ setzte eine deutsche Zeitung zum Beispiel ein großes Bild mit folgender erklärender Zeile: „Ein israelischer Soldat zielt an einem Checkpoint in der West Bank auf einen sich nähernden Mann“. Eldad Beck hat in seinem Referat gezeigt, daß es sich dabei nicht um einen isolierten Einzelfall in den deutschen Medien handelt.
Wichtig ist, wie die Angehörigen der jüdischen Gemeinden die Auseinandersetzung sehen. Sacha Stawski und Andreas Nachama erleben als Juden den alltäglichen Antisemitismus in Deutschland, der, wie alle Umfragen zeigen, zunimmt und nicht etwa nur die extremen Politikflügel erfaßt. Antijüdische Auffassungen sind weit verbreitet, auch in der Mitte der Gesellschaft, wie Sacha Stawski mit persönlichen Erfahrungen und ebenso mit neueren Erhebungen belegt. Verständlich finden danach 36 Prozent der Deutschen die Äußerung „Ich kann gut verstehen, daß manchen Leuten Juden unangenehm sind“. 35 Prozent der 18- bis 29jährigen sehen nach einer von Stawski zitierten Spiegel-Umfrage eine Analogie zwischen Israels Handeln und Hitlerdeutschlands Mord an den Juden.
Natürlich wende er sich nicht gegen begründete Kritik an Israel oder an der israelischen Regierung, wie sie auch in Deutschland bereits seit langer Zeit immer wieder geäußert werde, betonte Stawski; israelfeindliche oder antisemitische Parteilichkeit seien jedoch nicht zu akzeptieren. Er vertrat damit eine Position, die von allen Diskussionsteilnehmern geteilt wurde.
Sacha Stawski kritisierte, wie andere auf dem Podium, die tendenziöse Wortwahl von Politik und Medien zum Nahostkonflikt. Sichtbar wird sie etwa in dem negativen Etikett „Vergeltung“ zur Bezeichnung der israelischen Antiterrormaßnahmen. Diese Formulierung war vor kurzem auch in einer deutschen Regierungserklärung verwandt worden. Niemals wird sie demgegenüber zur Beschreibung für Antiterroraktionen der Koalitionsstreitkräfte in Afghanistan oder im Irak gebraucht. Jüdische Bürger werden, wie Stawski und Nachama mit – negativ – beeindruckenden Beispielen deutlich machten, immer wieder persönlich zum Nahostkonflikt angesprochen. Hauptquelle für die Meinungsbildung zu diesem Konflikt sind selbstverständlich die deutschen Medien. Jüdische Schüler wurden, so Sacha Stawski, an deutschen Schulen von ihren nichtjüdischen Lehrern aufgefordert, aufzustehen und das Verhalten der israelischen Armee zu rechtfertigen.
Verantwortung von Medien und Politik
Zwingend stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Medien und Politik. Sie wird, anders als im Historikerstreit der 80er Jahre, bislang aber nur zögernd angenommen.
Die Bundeszentrale für politische Bildung, eine Einrichtung im Verantwortungsbereich des Bundesinnenministeriums, hat eine Studie zur Darstellung des arabisch-israelischen Konflikts in den Hauptnachrichten des deutschen Fernsehens in Auftrag gegeben. Sie wurde von der Bundeszentrale im letzten Jahr auch auf einer Medienkonferenz vorgestellt und verbreitet. Nach den Untersuchungsergebnissen bekommen beide Konfliktparteien – Palästinenser und Israelis – ungefähr die gleiche Zeit in der Fernsehberichterstattung. Tendenzen will dabei die Studie nicht festgestellt haben. Das sichtbare Israelbild werde allerdings zunehmend vom überlegenen Militär bestimmt. Israel gerate damit in die Rolle des Angreifers, was zu Sympathieverlusten führen könne.
Die Studie ist inzwischen von dem Medienwissenschaftler Rolf Behrens kritisiert worden, der auch eine in diesem Jahr veröffentlichte Untersuchung zur Israelberichterstattung im „Spiegel“ verfaßt hat (Raketen gegen Steinewerfer – Das Bild Israels im „Spiegel“). Auch ohne Kenntnis der wissenschaftlichen Kritik sind einige Stärken und Grenzen der von der Bundeszentrale in Auftrag gegebenen Fernsehstudie gut zu erkennen. Die Studie führt selbst die für Israel negativen Wirkungen der Panzer- und sonstigen Militärbilder an.
Wer aber als Angreifer erscheint und wer nicht, hängt nicht nur von den eingesetzten Waffen- und Militärsystemen ab – wie etwa der Afghanistan-Krieg zeigt. Wenn die von Bombenexplosionen zerfetzten Körper und Gliedmaßen der ermordeten israelischen Kinder, Frauen und Männer – aus gut nachvollziehbaren Gründen – vom deutschen Fernsehen niemals gezeigt werden (es gibt diese Bilder; man kann sie auch im Internet sehen), wohl aber immer wieder verletzte oder tote Palästinenser, wenn sich die gewaltbezogene Bildberichterstattung auf der israelischen Seite demgegenüber überwiegend auf das israelische Militär bezieht, werden damit gewollt oder ungewollt bestimmte Wirkungen erzielt. Für diese Wirkungen tragen diejenigen Verantwortung, die Fernsehbilder auswählen. Ulrich W. Sahm hat in seinem Vortrag in Berlin den Mechanismus der parteilichen Bildvermittlung und der damit verbundenen Effekte nicht nur am Beispiel des arabisch-israelischen Konflikts deutlich beschrieben.
Noch klarer werden die Zusammenhänge, wenn man die politischen Signale registriert, die der gesprochene Text der Fernsehnachrichten enthält. Erwähnt wurde bereits das Beispiel, Israels Antiterrorkampf als „Vergeltung“ zu bezeichnen und ihn damit zu delegitimieren. In Fernsehnachrichten werden darüber hinaus fast schon regelmäßig anti-israelische arabische Terroristen nicht als „Terroristen“, sondern als „Extremisten“ oder „Radikale“ angesprochen, worauf verschiedene Teilnehmer an der Berliner Diskussion hinwiesen. Ein deutscher Sender brachte es fertig, am gleichen Tag über ein mißlungenes Bombenattentat auf britische Polizisten in Nordirland zu berichten, die Tat dabei „irischen Terroristen“ zuzuschreiben und anschließend von Hamas-Mitgliedern als „Extremisten“ zu sprechen.
Vor diesem Hintergrund ist es eher erstaunlich, daß die Studie der Bundeszentrale, wie dies noch vor kurzem geschehen ist, als Referenzquelle für eine neutral/positive Bewertung der Medienberichterstattung zum Nahostkonflikt ohne Nennung neuerer Beiträge herangezogen wird. Die Debatte mit den vier Bundestagsabgeordneten, mit Gert Weisskirchen (SPD), Sybille Pfeiffer (CDU), Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) und Markus Löning (FDP), hat in der zweiten Hälfte der Berliner Diskussion die Frage nach der Beurteilung der Medienberichterstattung noch einmal aufgenommen. Dabei wurde die Verantwortung der Bundeszentrale für politische Bildung unmittelbar angesprochen. Es wäre – im Sinne der Berliner Diskussionsergebnisse – sicherlich ein gutes Zeichen, wenn die Bundeszentrale eine aktuelle und umfassende Untersuchung zum Thema der wachsenden antijüdischen, antisraelischen und antisemitischen Tendenzen, auch, aber nicht nur in den Medien, in Auftrag geben würde.
„In den Medien ist ein Prozeß im Gange, der uns Politikern erst jetzt deutlich wurde,“ kommentierte Gert Weißkirchen (SPD) die kritische Bestandsaufnahme aus der ersten Runde der Berliner Podiumsdiskussion. Bei einigen – erschreckenden – Schilderungen habe der Atem gestockt; die problematischen Medientendenzen seien ihm, Weisskirchen, in der dargestellten „Intensität nicht bewußt gewesen.“ Einen ähnlichen Eindruck hatten auch die anderen Bundestagsabgeordneten gewonnen. Man kann ihn dann besonders gut nachvollziehen, wenn man den Berliner Debattenverlauf nicht nur, wie hier, in Auszügen, sondern in den Originalbeiträgen zur Kenntnis nimmt. Einige Referate sind bereits jetzt oder in Kürze im Internet zu lesen (honestly-concerned.org, juedische.at, israelnetz.de). Eine geplante Buchpublikation wird alle Vorträge und den Diskussionsverlauf wiedergeben.
<>Sibylle Pfeiffer (CDU) kritisierte auf dem Berliner Forum mit deutlichen Worten die „falsche Berichterstattung“ in den deutschen Medien. Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) führte die Defizite in der Nahostberichterstattung zum Teil auf mangelnde historische Kenntnisse der beteiligten Redakteure zurück – ein Argument, das übrigens auch in der parallel geführten französischen Debatte eine Rolle spielt. Markus Löning (FDP) distanzierte sich von der Möllemann-Richtung in der FDP. Er teilte im übrigen die Kritik am deutschen Medientenor zum arabisch-israelischen Konflikt. Deutschlands Platz sei, so seine Auffassung, an der Seite Israels, auch mit Blick auf die deutsche Geschichte. In diesem Punkt widersprach ihm Ulrich W. Sahm, der zwar, wie geschildert, die anti-israelische und antisemitische Propaganda in der deutschen Nahostberichterstattung scharf kritisiert, in der politischen Orientierung aber für Neutralität eintritt.
Antisemitismus ist ein Problem der Nichtjuden, das negative Auswirkungen auf das Zusammenleben mit Juden und auf die Gesamtgesellschaft hat. Auf diese Erkenntnis wies, wohl unter Zustimmung fast aller Anwesenden, Claudia Roth hin. Die damit markierte Position hat Auswirkungen auf die Folgediskussionen nach dem Berliner Forum vom 26. Juni. Gert Weisskirchen regte eine Plenardebatte im Bundestag über zunehmende antisemitische und israelfeindliche Tendenzen in den deutschen Medien an. Er wies zudem auf die Mitwirkungsmöglichkeiten von Vertretern der Parteien in Rundfunk- und Fernsehräten hin. Diesen Vorschlägen stimmten die anderen Bundestagsabgeordneten zu. Eine vergleichbare Frage aus dem Publikum richtete sich an das Auswärtige Amt, das maßgeblich das Hamburger Orient-Institut finanziert. Dessen Leiter, Prof. Udo Steinbach, hatte vor nicht allzulanger Zeit arabische Selbstmordterroristen mit Warschauer Ghettokämpfern verglichen und damit mittelbar Terroranschläge gegen Israelis gerechtfertigt.
Im nächsten Jahr wird, auch aufgrund deutscher Initiativen, in Berlin eine OSZE-Konferenz stattfinden, die sich, wie eine entsprechende OSZE-Veranstaltung im Juni dieses Jahres, mit der Antisemitismusentwicklung in Europa befassen wird. Das Thema ist nicht bei allen Teilnehmerstaaten und ihren Vertretern in gleicher Weise beliebt.
Perspektiven: die Auseinandersetzung mit einer deutschen Revisionsbewegung, die wahrscheinlich bereits mehrheitsfähig ist
In ersten Stellungnahmen nach der Berliner Diskussionsrunde wurde der Wunsch formuliert, die Initiativen gegen die antisemitischen und israelfeindlichen Tendenzen in Medien und Gesellschaft besser zu koordinieren. Die ersten Ansätze zu einer Reaktion auf die problematischen Medienströmungen gehen, abgesehen von wenigen Ausnahmen, im wesentlichen auf das letzte Jahr zurück. Die Gründung von honestly-concerned unter zunächst schwierigen Bedingungen, diverse Buchpublikationen und andere medienbezogene Aktivitäten, auch an den Hochschulen, spielten in diesem Zusammenhang eine Rolle. Die Bildung eines losen Netzwerks für verschiedene Teilnehmer, für einzelne Personen, Vereinigungen, Institutionen oder Internetforen, ist erst jetzt möglich. Wichtig ist dabei in jedem Fall die Verbindung von Initiativen mit unterschiedlicher Verankerung und Schwerpunktsetzung, auch die Verbindung von jüdischen und nichtjüdischen Trägern. Manche Medienberichte neigen dazu, die Aktionen gegen Antisemitismus und Israelfeindschaft vor allem als einen Fall der jüdischen Interessenvertretung, unterstützt von einigen nichtjüdischen Einzelpersonen, zu schildern. Dieser unzutreffenden Interpretation sollte, wo immer dies möglich ist, widersprochen werden.
Im Historikerstreit der 80er Jahre ging es unter anderem darum, eine Geschichtsinterpretation abzuwehren, die insbesondere durch den Vergleich mit dem Völker- und Massenmord in der Sowjetunion die Bedeutung des deutschen Holocaustverbrechens relativieren wollte. Der Streit ist durch eine Intervention des damaligen Bundespräsidenten beendet worden.
Wenn heute 35 Prozent der 18- bis 29jährigen in Deutschland Israels Handeln mit Hitlerdeutschlands Judenmord vergleichen, so hat dies bestimmt kein geringeres Gewicht als die Relativierungsneigungen deutscher Historiker gegenüber dem Holocaust, die wir in den 80er Jahren erlebt haben. Auch eine ausgesprochen israelfeindliche Interpretation des arabisch-israelischen Konflikts wird nicht leugnen können, daß dieser Konflikt, gemessen am Ausmaß der Opferzahlen und des Unglücks, gegenüber anderen kriegerischen Auseinandersetzungen zurückstehen muß – etwa gegenüber dem Krieg des Nord- gegen den Südsudan mit Hunderttausenden von Toten und noch mehr Vertriebenen, dem algerischen Bürgerkrieg oder der Unterdrückung der Tibeter und Uiguren in China, um nur einige Beispiele zu nennen. Der von über einem Drittel der heranwachsenden Generation vertretene Hitlerdeutschland-Israel-Vergleich macht also den Holocaust – das Menschheitsverbrechen nicht nur des 21. Jahrhunderts – letztlich zu einer Randnotiz der Geschichte.
Kann ernsthaft bezweifelt werden, daß hier Entlastung von der eigenen historischen Verantwortung als mächtiges Motiv zu erkennen ist? Können die deutschen Medien mit Blick auf ihre Berichterstattung zum Nahostkonflikt überzeugend behaupten, über dieses Motiv und die Wirkungen der eigenen Berichtstendenz nicht Bescheid zu wissen?
Dafür, daß es so weit kommen konnte, wie es diese Fragen beschreiben, tragen die Nichtjuden in Deutschland, wir Nichtjuden, und nicht die Juden Verantwortung. Die öffentliche Diskussion nach der Möllemann-Provokation des letzten Jahres belegt, daß viele in den Medien, aber auch in der Politik leicht und ohne Folgen Grenzen überschreiten, die früher beachtet wurden. Bedenklicher als die Taten ist das Schweigen. Vieles spricht dafür, daß die eingangs geschilderte Position Solanas auch in Deutschland inzwischen mehrheitsfähig ist. Eine israelfeindliche Bewegung mit antisemitischen Untertönen ist dabei, das deutsche Geschichtsbild zu revidieren, die historische Holocaust-Verantwortung Deutschlands durch Israel-Hitlerdeutschland-Vergleiche zu relativieren, kurz, in Walsers Diktion, sich gegen die „Ausschwitz-Keule“ zu „wehren“.
Damit ist ein Teil der Schwierigkeiten beschrieben, mit der Initiativen zu rechnen haben, die sich gegen die neu/alte deutsche Revisionsbewegung wenden. Viele sehen die Dimension des Problems nicht oder leugnen – wie Solana – trotz aller insoweit nicht interpretationsfähigen Umfrageergebnisse schlichtweg seine Existenz.
Andrew Baker vom American Jewish Committee sagte in seinem Schlußwort auf dem Berliner Forum, die Medienbestandsaufnahme bestätige diekritischen Auffassungen in den USA über die Medientendenzen in Europa und, im einzelnen, in Deutschland; sie übertreffe sie sogar – negativ – in einigen Punkten. Andererseits sei die Diskussion im Paul-Löbe-Haus ein gutes Zeichen – ein Zeichen dafür, daß eine Gegenbewegung aktiv sei. Erleichterung darüber, einmal eine „andere Stimme“ gehört zu haben, äußerten einige Teilnehmer des Berliner Forums vom 26. Juni. Manche dieser Erklärungen ließen aber auch Resignation gegenüber einer übermächtigen Mehrheitsmeinung erkennen. Die Debatte im Paul-Löbe-Haus hat zum Thema „Antisemitismus, deutsche Medien und der Nahostkonflikt“ zum ersten Mal Experten, Betroffene sowie Vertreterinnen und Vertreter der vier Bundestagsfraktionen zusammengeführt. Sie hat einen Beitrag zur Aufklärung über problematische deutsche Entwicklungen geleistet. Sie war ein erster wichtiger Schritt. Eine sichtbare Veränderung wird aber erst nach weiteren gemeinsamen Anstrengungen zu erwarten sein, die sich notfalls auch gegen eine deutsche Mehrheitsströmung richten müssen. Denn die zu überwindenden Vorurteile und Prägungen sind, wie die Berliner Diskussionsrunde gezeigt hat, inzwischen tief in der öffentlichen Meinung verankert.
Klaus Faber ist der Geschäftsführende Vorsitzende des Wissenschaftsforums Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sowie Staatssekretär a.D.