Viele wünschen sich, bei einer orthodoxen jüdischen Familie den feierlichen Shabbat-Anfang, den „Erev Shabbat“, mitzuerleben. Für mich ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, als wir von einer Familie aus unserer Nachbarschaft eingeladen wurden. Nur war dann alles ganz anders, als ich es erwartet hatte.
Den siebten Tag, den biblischen Ruhetag, könnte man mit unserem Sonntag vergleichen. Aber manches ist auch anders. Der Shabbat beginnt mit dem Sonnenuntergang. Im biblischen Schöpfungsbericht beginnen alle Tage mit dem Abend: „Es ward aus Abend und Morgen…“ In Israel wird es früher dunkel als in Europa. Deshalb beginnt der Shabbat im Sommer etwa um sieben Uhr. Im Winter kann es auch schon um vier Uhr sein.
Orthodoxe Juden beenden alle Arbeiten. Gekocht und gebacken wird vorher. Am Samstag wird entweder kalt gegessen oder die Speisen werden vom vorherigen Abend her warm gehalten, andere Speisen garen mehrere Stunden, die ganze Nacht hindurch, bis sie dann am Shabbatmittag gar sind, wie beispielsweise der berühmte „Tscholent“, ein Eintopf.
Vom biblischen Verbot, am Shabbat Feuer anzuzünden, leiten Juden nicht nur ab, daß sie den Herd nicht anmachen dürfen. Am Shabbat dürfen keinerlei Elektrogeräte angeschaltet werden. Die Zündung vom Auto ist ebenso tabu wie der Telefonhörer. Raucher haben eine einzigartige Gelegenheit zu beweisen, daß sie von Zigaretten nicht wirklich abhängig sind. Aus diesem Grund wird auch nicht fotografiert. An der Klagemauer sind an Festtagen „Touristenvertreiber“ zu beobachten, die so gerne diese besonderen Augenblicke mit ihren Kameras festgehalten hätten.
In orthodoxen jüdischen Familien kehrt Ruhe ein. Es klingelt kein Telefon – und das in einem Land, in dem die „Mobiltelefonlosen“ zur Rarität geworden sind – Fernseher und Radios werden nicht eingeschaltet. Man geht in die Synagoge, sitzt gemeinsam am Tisch und geht spazieren. Da die meisten orthodoxen Familien sehr kinderreich sind, gibt es immer kleine Kinder, mit denen die Eltern auf den Spielplatz gehen.
Säkulare Juden halten sich nicht so sehr an diese Regeln. Für sie ist der Shabbat ein Ruhetag und vor allem ein Tag, an dem die ganze Familie etwas gemeinsam unternehmen kann. Dazu muß ich noch bemerken, daß auch nicht-orthodoxe Familien in Israel in der Regel zwei bis fünf Kinder haben. Während als die eine Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels (die orthodoxe) zu Hause bleibt, macht sich die andere Hälfte (die säkulare) auf den Weg in die Natur. Und weil Israel nicht besonders groß ist, ist es am Shabbat nicht leicht, ein Plätzchen zu finden, wo niemand spaziert, picknickt oder auch einfach nur das Autoradio dröhnen läßt. Vom Wetter her ist dies praktisch das ganze Jahr über möglich.
Am Shabbat fahren in Jerusalem keine öffentlichen Verkehrsmittel und alle Geschäfte sind geschlossen – abgesehen von ein paar „weltlichen“ Ausnahmen im Großraum Tel Aviv oder in Eilat. Und auch dort sind es Privatunternehmen. Der Staat hält den Ruhetag ein. Vor nicht allzu langer Zeit gab es in den israelischen Medien eine große Diskussion, ob es zulässig sei, am Samstag riesige Turbinen auf großen Lastwägen zu transportieren. Während der Woche hätte der Turbinentransport den ganzen Verkehr auf dem Transportweg lahmgelegt.
Wie man im „christlichen Abendland“ Weihnachten plant, mit Backen, Kochen und Putzen vorbereitet, so lebt man in Israel auf den Shabbat zu. Es ist äußerst wichtig, daß alles rechtzeitig fertig wird. Vor dem Shabbat-Beginn werden die Kinder zusammengerufen, um zu duschen und sich feierlich anzuziehen. Männer und Jungen tragen dunkle Hosen und weiße Hemden und ihr Anblick ist wirklich schön, wenn sie dann miteinander in die Synagoge gehen. Die Mütter zünden zur bestimmten Zeit die Shabbatkerzen an, als Zeichen der Unterscheidung zwischen dem „Profanen“ und dem „Heiligen“, als Zeichen dafür, daß der Festtag angefangen hat. In Jerusalem erinnert eine Sirene an den Shabbat-Eingang.
Nach der Rückkehr aus der Synagoge versammelt sich die ganze Familie zum Festessen. Der Shabbat hat seine eigene Liturgie, besondere Gebete, die auf Bibeltexten basieren und im „Siddur“, dem jüdischen Gebetsbuch, zusammengefaßt sind.
Ich hatte mir also vorgestellt, daß wir am Freitagabend eine Art liturgische Feier erleben werden. Aber schon die vielen kleinen Kindern, die offensichtlich nicht in erster Linie dazu erzogen worden waren, brav am Tisch zu sitzen, wirkten irgendwie aufregend. Der Familienvater, dessen Familie aus dem Jemen nach Israel eingewandert war, sprach die Gebete in einer für uns atemberaubenden Geschwindigkeit. Genauso schnell segnete er dann das Brot, zerriß es und warf die Stücke den Anwesenden auf die Teller.
Meine Befürchtung, daß er die kleinen Becher, die zur Segnung des Weins bereitstanden, ähnlich behandeln würde, hat sich dann aber zum Glück nicht bestätigt. Dazu muß ich vielleicht noch erklären, daß die Israelis insgesamt viel lauter sind als Deutsche und jemand, der ihre Sprache nicht versteht, kann leicht den Eindruck gewinnen, daß sie ständig streiten. Dabei unterhalten sie sich aber nur „engagiert“, oder eben „israelisch“. Auf alle Fälle bin ich nach meinem ersten „Erev Shabbat“ mit gemischten Gefühlen nach Hause gegangen…
Ich bin nicht sicher, ob ich die einzige bin, die gemerkt hat, daß es am besten ist, sich gar keine Vorstellungen zu machen, bevor man Israel aus eigener Erfahrung kennenlernt.