Experten befassten sich nach den Anschlägen auf das World Trade Center in der US-Metropole New York am 11. September 2001 mit der Frage, wie sehr dieser Terroranschlag bei der Bevölkerung der Stadt Posttraumatische Stresssymptome (PTSD) auslöste. Es gibt viele Studien und durchaus variierende Erkenntnisse. Unterm Strich kann man jedoch festhalten: Rund 7,5 Prozent der New Yorker litten unmittelbar danach unter PTSD, zusätzlich zeigten fast 10 Prozent Anzeichen von Depression. Die Zahlen gingen graduell im Laufe der Zeit und/oder im Zuge einer Behandlung zurück. Und doch, auch Jahre später rangen Betroffene weiterhin mit Beschwerden.
Der Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 versetzte ganz Israel in einen Schockzustand. Das Entsetzen wuchs während der nachfolgenden Tage, als sich nicht nur das Ausmaß abzeichnete, sondern die Brutalität und Grausamkeit der Hamas-Verbrechen ins Bewusstsein der Menschen drangen. Obwohl Israelis nationale Traumata nicht unbekannt sind – der Jom-Kippur-Krieg 1973 ist nur eins davon –, wurde klar: Dies ist ein präzedenzloser Einschnitt in der israelischen Geschichte; und zwar in jeder nur erdenklichen Hinsicht. Die Folgen für Israel sind schlimmer als 2001 für die USA.
Im Herbst 2023 stand fest, dass auf das israelische Gesundheitssystem mindestens 300.000 Bürgerinnen und Bürgern zukommen, die infolge des Überfall-Traumas dringend psychologische Hilfe benötigen. Nur wenig später musste die Zahl revidiert werden: Hinzu kamen traumatisierte Evakuierte sowie Soldaten und Reservisten, Hinterbliebene von Gefallenen sowie Angehörige und Freunde von im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln.
Überdies müssen Personen berücksichtigt werden, die infolge der Nachrichten, aber vor allem wegen der Bilder und Clips indirekt traumatisiert wurden. Ganz zu schweigen von einer Dunkelziffer, denn unendlich viele Israelis berichteten ihren Ärzten überhaupt nicht über Schlafstörungen, Albträume, Beklemmungen, Angst, Unruhe und Störungen der Funktionstüchtigkeit. Erhebungen schätzen, dass einer von drei Einwohnern Israels nach dem 7. Oktober traumatisiert war. Schließlich verwiesen staatliche Berichte auf mindestens drei Millionen Einwohner Israels, die mit PTSD ringen. Angesichts einer Gesamtbevölkerung von knapp zehn Millionen ist das ein erschreckendes Ausmaß, das enorme Herausforderungen für das Gesundheitssystem mit sich bringt.
Ein „gebrochenes Herz“
Dass Stress zu Herzinfarkten führen kann, ist hinlänglich bekannt. Doch bezüglich des „Gebrochenes-Herz-Syndroms“ dauerte es, bis die Erkenntnis als allgemein anerkannt galt, dass die Verbindung zwischen Körper und Geist bei akutem emotionalem Stress zu biologischen Reaktionen führen kann. Alle kennen den Ausdruck „gebrochenes Herz“, um Liebeskummer zu beschreiben. Das „Gebrochenes-Herz-Syndrom“ bezieht sich nicht nur im übertragenen, sondern im wortwörtlichen Sinn auf ein gebrochenes Herz, obwohl klar ist, dass dieses lebenswichtige Organ gar nicht zerbrechen kann. Nicht nur physischer Stress kann zu diesem Syndrom führen, sondern auch emotionaler Stress – positiver wie negativer –, aber ebenfalls eine Traumatisierung mit anhaltender tiefer Depression oder gar Trauer.
Liegt dieses Syndrom vor, so treten Funktionsstörungen der linken Herzkammer auf. Häufig wird das als Herzinfarkt gedeutet, zumal viele Betroffene Atemnot und ein Engegefühl in der Brust verspüren, die mit Schweißausbrüchen und Übelkeit einhergehen. Doch der Unterschied ist, dass anders als beim Herzinfarkt weder eine Verengung noch ein Verschluss der Herzkranzgefäße vorliegt.
Im Falle des Syndroms des gebrochenen Herzens kommt es hingegen zu einer Veränderung der Form des Herzens, weshalb Mediziner diesen Zustand auch Takotsubo-Syndrom nennen. Auf Japanisch bedeutet das „Tintenfisch-Falle“, denn die sieht genauso aus, wie das formveränderte Herz, das wie ein runder Krug mit kurzem Hals wirkt. Wenngleich nicht akute Lebensgefahr wie bei einem Herzinfarkt besteht, so ist im Fall einer signifikanten Störung der Herzfunktion dringend eine medikamentöse Behandlung erforderlich.
Durch Israel geistern erste Vermutungen
Nur wenige Monate nach dem Hamas-Überfall vernahmen Israelis erstmals, dass Hinterbliebene öffentlich die Ansicht äußerten, ihre Angehörigen seien wegen eines gebrochenen Herzens verstorben. Dazu gehörte Rachel Edri, die mit ihrem Ehemann David fast 20 Stunden lang in ihrem Haus in der Kleinstadt Ofakim in der Gewalt von fünf schwerbewaffneten Hamas-Terroristen festgehalten wurde.
Das Ehepaar überstand die Geiselnahme physisch unversehrt. Angehörige berichteten aber, dass sich David, der kurz nach der Geiselnahme seinen 68. Geburtstag beging, nie wieder der alte war. Rachel und ihre Kinder wie auch Enkel kümmerten sich intensiv um ihn. Er bekam jede nur erdenkliche Behandlung. Als er im Februar 2024 verstarb, meinte die Familie, er habe sich die Ereignisse so sehr zu Herzen genommen, dass ihn das von innen heraus zerbrach und sterben ließ.
Im Mai 2024 erschienen dann die ersten ausführlicheren Medienberichte über immer mehr infolge des 7. Oktober gebrochene Herzen. Das ging darauf zurück, dass Ärzte Alarm schlugen. Israel, das unter anderem 2015 als eines jener OECD-Länder mit der niedrigsten Sterberate infolge von Herzkrankheiten hervorgehoben wurde, sah einen massiven Anstieg von Patienten, die in den Notaufnahmen mit Herzinfarkt-Symptomen eintrafen, jedoch mit dem Syndrom des gebrochenen Herzens diagnostiziert wurden.
Eigentlich ist es keine weitverbreitete medizinische Kondition, doch allein in einem der größeren israelischen Krankenhäuser wurden innerhalb von knapp drei Monaten (Oktober bis Dezember 2023) nicht wie üblich 16, sondern 30 Fälle verzeichnet. Darunter waren besonders viele Frauen, erst recht, wenn die Patientinnen mindestens 50 Jahre alt waren. Nicht wenige Frauen, die in den Notaufnahmen erschienen, waren Mütter, die sich um ihre Söhne als Reservisten im aktiven Dienst sorgten oder die um ihre gefallenen Söhne trauerten.
Traurige Gewissheit
Im Spätsommer 2024 steuerte Israel auf ein Jahr des Ausnahmezustands zu, der es zwingt, einen Mehrfrontenkrieg auszutragen. Spätestens zu dem Zeitpunkt war nicht mehr von der Hand zu weisen, dass das Takotsubo-Syndrom tatsächlich Teil des nationalen israelischen Traumas ist. Statistiken indizierten nämlich einen Anstieg von 100 Prozent.
Eli Lev, der am Medizinischen Zentrum Assuta – Aschdod die Abteilung für Kardiologie leitet, meinte gegenüber den Medien dazu: „Wir sehen landesweit eine Verdoppelung der Patientenzahl. Wir gehen davon aus, dass der extreme psychische Stress [der Ereignisse vom 7. Oktober] zu einer Zunahme des Syndroms bei allen Einwohnern des Staates Israel führte.“
Sein mit ihm zusammenarbeitender Kollege Juval Kochila wies darauf hin, dass die meisten Patienten mit der entsprechenden medizinischen Hilfestellung in wenigen Monaten das Syndrom meistern könnten – und doch: „Unsere Studie widmet sich den tiefgreifenden und weitreichenden Auswirkungen des Oktober-Massakers und des Krieges auf die gesamte israelische Gesellschaft, egal wo im Land die Menschen leben. Das Syndrom äußert sich in einer erheblichen Störung der Herzmuskelkontraktionen (…). Es handelt sich nicht um ein ‚gutartiges‘ Syndrom. Es kann zu erheblichen Komplikationen kommen. Dieses Syndrom trägt auch zu den Sterblichkeitsraten bei.“
Schicksalsschläge, von denen man sich nicht erholt
Das vernahmen Israelis im Spätsommer 2024. Hanna Katzir war im November 2023 unter den Senioren waren, die die Hamas nach fast 50 Tagen Geiselhaft freiließ. Als sie im Dezember 2024 verstarb, wunderte sich niemand, dass ihre Tochter Carmit Paltry Katzir meinte: „Ihr Herz hielt dem unglaublichen Leiden seit dem 7. Oktober nicht stand.“
Hanna Katzir wurde 78 Jahre alt. Sie war die erste der freigelassenen Geiseln, die ein gutes Jahr nach der Tortur im Gazastreifen verstarb. Nicht nur ihr Ehemann Avraham (Rami) wurde am 7. Oktober im eigenen Haus im Kibbuz Nir Os ermordet, sondern auch ihr Sohn Elad während der Geiselhaft im Gazastreifen. Zudem musste sie nach ihrer Rückkehr von dem Ausmaß der Verletzung ihrer Kibbuz-Gemeinschaft erfahren. Von den rund 400 Mitgliedern dieses Kibbuz wurde ein Viertel ermordet oder in den Gazastreifen verschleppt.
Die Gemeinschaft lebt bis heute übergangsweise in eigens für sie hergerichteten Wohnungen in Kiriat Gat. Sie bangt noch immer um lebende Geiseln und hofft, dass die Leichen von ermordeten Geiseln ebenfalls nach Israel zurückkehren, um sie würdig beisetzen zu können. Doch es ist nicht nur diese Gemeinschaft sowie die Angehörigen der Geiseln und die wachsende Gemeinschaft der trauernden Eltern, Geschwister, Großeltern und Partner, die nach anderthalb Jahren immer mehr Herzschmerzen verspüren. Das zeigte nur allzu deutlich die Trauer, die sich mit der Rückführung der Leichen von Schiri Bibas und ihren zwei Söhnen Ariel und Kfir über ganz Israel senkte.
Antje C. Naujoks studierte Politologie an der FU Berlin und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die unter anderem freischaffende Übersetzerin lebt seit fast 40 Jahren in Israel, davon mehr als ein Jahrzehnt in Be‘er Scheva.
3 Antworten
Eli Lev : „ Wir gehen davon aus, dass der extreme psychische Stress [der Ereignisse vom 7. Oktober] zu einer Zunahme des Syndroms bei allen Einwohnern des Staates Israel führte.“
Verstehen die Iren das ( irische Spielerinnen verweigern Israelis Handshake) ? Nein.
So traurig und herzzerreißend,
Die Geschehnisse des 7. Okt. waren so bestialisch und grausam, dass es eigentlich fast unmöglich ist, dies zu verarbeiten, je nachdem, wie konkret jemand davon betroffen ist, welche Disposition bzw. Prädispositon jemand mitbringt.
Im „Normalfall“ sind es einzelne Personen, die eine Katastrophe erleben, und nicht damit zurecht kommen.
In diesem Fall ist es ein ganzes Volk, dass irgendwie damit zurecht kommen muß… kein Wunder,
dass „Herzen zerbrechen“.
Irgendwann dachte ich, wie es wohl Überlebende der Shoah damit geht, und eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen bzw. „meine“ Verstorbene Shoah-Überlebende, ich bin dankbar, dass sie diese Katastrophe des jüdischen Volkes nicht mehr erleben musste, es wäre absolut „unvorstellbar“.
Einer ihrer Sätze war: „Der Mensch ist des Menschen größter Feind“, oder, „Menschen sind schlimmer als Tiere. Ein Tier tötet, um zu fressen, zu überleben, Menschen haben „saddistische Züge bzw. Motive“.
Diese Worte habe ich in erster Linie aufgrund ihrer Geschichte eingeordnet. Ich dachte nicht, dass diese so grausam „wahr und real“ werden könnten.
Shalom,-Ana@-Ich unterstütze Ihren Kommentar hier voll und ganz. Jerusalem