Peggy Parnass: Eine Frau wie das pralle Leben

Am Mittwochmorgen ist Peggy Parnass gestorben. Die Autorin, Publizistin und Gerichtsreporterin wurde 98 Jahre alt. Sie hinterlässt ihren Bruder Gady, der mit seiner Familie in einem Kibbuz in Israel lebt, und Sohn Kimme Parnass.
Von Israelnetz

HAMBURG (inn) – Runder Geburtstag? Das mochte sie gar nicht. Obwohl sie ihn denn doch gefeiert hat. Am 11. Oktober. Weil es so schöne Blumensträuße gab. Zu ihrem 90. Geburtstag erhielt sie beispielsweise fast hundert rote Rosen vom Fischer-Verlag. Keine genaue Zahl. Denn wie alt sie wirklich war, das hielt Ruth Peggy Sophie Parnass geheim. Wurde sie 1927 geboren? Oder 1928? Auf jeden Fall in Hamburg und auf jeden Fall an einem 11. Oktober.

Normalerweise brachte sie Blumen immer zu einem Freund. Weil sie Blumen nicht sterben sehen konnte. Weil sie überhaupt nichts sterben sehen konnte. Nun ist sie selbst diesen Weg gegangen. Obwohl sie sagte: „Nur nicht sterben – das stört mich wirklich“.

Für Peggy Parnass hatte der Mensch kein Alter. „Ich kenne 20-jährige Greise und 80-jährige Jugendliche, und ich bin immer die Jüngere. Weil ich einfach nicht alt werden kann, Menschen sind so lange jung, so lange sie aktiv sind“, sagte sie immer.

Peggy Parnass war Jüdin und überlebte die Schoa dank des Weitblicks ihrer Mutter. Hertha Parnass hatte früh begriffen, was die Nazis wollten – alle Juden vernichten. Sie brachte ihre Kinder Ruth Peggy Sophie und Gerd Hans Ludwig, genannt Gady, Anfang 1939 zum Hamburger Hauptbahnhof, zum Zug, zum Kindertransport nach Schweden, und rettete sie so vor dem NS-Rassenwahn. Die Erinnerung daran hat Peggy Parnass in ihrem Buch „Kindheit – Wie uns unsere Mutter vor den Nazis rettete“ festgehalten, das sie mit der Künstlerin und Zeichnerin Tita do Rego Silva erarbeitete und im Fischer-Verlag herausbrachte.

„Obwohl sie wusste, dass sie uns nie wiedersieht, stand sie da und hat gelacht, ihr herrliches Lachen mit weit aufgerissenem Mund, und gewunken, solange wir uns sehen konnten“, schreibt die Tochter in „Kindheit“. Jahrzehnte später sagte sie: „Ich kann seitdem Bahnhöfe nicht mehr sehen, aber den Hamburger Hauptbahnhof ganz besonders nicht.“ Obwohl sie in seiner unmittelbaren Nähe lebte.

Freundschaft mit einer Künstlerin

Geboren ist Peggy Parnass mitten auf Hamburgs Kiez. In St. Pauli. Nach ihrer Rückkehr aus Schweden zog sie wieder auf einen Hamburger Kiez, nach St. Georg, an die Lange Reihe, das bunte Viertel an der Außenalster. Dort, wo Künstlerinnen und Künstler leben und arbeiten. Das ist der Kiez von Peggy Parnass, dort wurde sie zur Ikone der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit, der Andersdenkenden, der außergewöhnlichen Menschen, die sie so sehr liebte.

Dort lebt auch ihre Freundin Tita do Rego Silva, die an Koppel 66 ihr Atelier hat, und mit der Peggy Parnass ihr Buch „Kindheit – Wie uns unsere Mutter vor den Nazis rettete“ neu herausgegeben hat.

„Als ich 1988 aus Brasilien nach Hamburg kam, wohnte ich erst bei Freunden und sah morgens immer auf dem gegenüber liegenden Balkon eine Frau mit roten Haaren, die ihre Blumen goss, nackt“, erinnerte sich Tita do Rego Silva. Sie fragte ihre Freunde, wer das denn sei. „Das ist Peggy“, sagten sie schlicht, und für Tita do Rego Silva stand fest, diese Frau muss ich kennenlernen. Der Beginn einer Freundschaft zwischen der Künstlerin und der Autorin, Gerichtsreporterin und Journalistin.

Tita do Rego Silva las Peggy Parnass‘ Lebensgeschichte und wusste sofort, das muss ich illustrieren. Die Idee zu einem wundervollen Buch war geboren. 2012 brachten die beiden das Kunstbuch „Kindheit“ im großen Format heraus. Es erschien in der Edition „Die Holzschnittbücher“ im Hamburger Verlag Schwarze Kunst, wurde von der Edition Buchkunst als „Schönstes Buch des Jahres 2013“ ausgezeichnet und war rasch vergriffen.

Peggy Parnass und Tita do Rego Silva suchten einen Verlag für eine zweite Auflage. In der NDR-Sendung „Drei nach Neun“ kündigte Peggy Parnass das Buch schon mal vehement an. Das drang bis zum renommierten Fischer-Verlag, der „Kindheit“ in der Reihe „Die Bücher mit dem blauen Band“ erneut herausbrachte. Es gelang ebenso anrührend wie die Erstauflage, nur kleiner und handlicher.

Trotz Verbot im Freibad

Berührend ist beispielsweise die Szene, als Peggys Vater Simon, genannt Pudl, mit dem Fahrrad nach Hause kam und schon auf der Straße, der Methfesselstraße in Hamburg, sein Kommen laut mit der Fahrradklingel ankündigte. Oder – der Nazi, der ihn abholte. Und auch kein Erbarmen zeigte, als der am 5. Dezember 1879 in Tarnopol im damaligen Galizien geborene Simon Parnass seine ihm nach dem Ersten Weltkrieg verliehenen Verdienstkreuze entgegenhielt. Die Nazi-Schergen lachten nur darüber. Oder ihre Angst, als sie trotz Verbot im Ohlsdorfer Freibad schwimmen gingen. Juden durften nicht in öffentlichen Badeanstalten schwimmen.

Bei der Präsentation des Buches zeigte Peggy Parnass auch Fotografien von ihrer Familie, von Bübchen, den sie erst hasste, weil sie eifersüchtig war und ihn so hässlich fand mit seinem Glatzkopf, dann aber herzlich liebte, als die blonden Ringellocken wuchsen, und er sie mit seinem Charme einwickelte. Gady lebt heute in einem Kibbuz in Israel.

Sie erzählte von ihrem Vater Simon, 30 Jahre älter als die Mutter, einem Charmeur und Abenteurer, der nächtelang fort blieb und das Geld verspielte, während ihre Mutter weinte und schrie vor Kummer. Doch kaum stand der Abtrünnige wieder in der Tür, brach die große Liebe erneut über Peggys Eltern herein. „Dann küssten und küssten sie sich, bis sie keine Luft mehr kriegten. Das fand ich schön.“

Peggy Parnass berichtete auch davon, wie ihr Vater am 28. Oktober 1938 bei der „Polen-Aktion“ verhaftet wurde und die Mutter mitging. Hertha Parnass kam wieder frei, sie stand nicht auf der Liste der Nazis. Noch nicht. Der Vater war Pole und wurde wie alle Polen, die in Deutschland lebten, ausgewiesen.

Die Nazis kesselten die Familie immer mehr ein, demütigten und verfolgten sie. Sie durften sich nicht mehr auf eine Bank im Park setzen, durften nicht einmal mehr Eis vom Eismann holen, und auch die anderen Kinder drangsalierten sie und ihren kleinen Bruder. In ihrem Buch beschrieb Peggy Parnass auch, wie die Milchfrau ihre Mutter und sie ohrfeigte und aus dem Laden auf die Straße warf.

„Gehe mit einem fremden Mann!“

Der Vater war inzwischen aus Polen wieder zu seiner Familie gekommen. Doch dann wurde er wieder verhaftet und mit ihm seine fünfjährige Tochter. Die Nazis transportierten sie auf einem Lastwagen quer durch Hamburg, vorbei an der gaffenden und geifernden Menge, und sperrten sie zu anderen Hamburger Juden in eine Turnhalle.

Ihr Vater sagte ihr, sie solle zu einem fremden Mann gehen und Papa zu ihm sagen, mit ihm die Turnhalle verlassen und sich nicht mehr umdrehen. Die SS-Leute fanden sie süß – und ließen sie mit dem Mann gehen. Er gab ihr Geld für die Straßenbahn, um ins Jüdische Waisenhaus zu fahren. Sie fuhr zu ihrer Mutter nach Hause.

Nach dem tragischen Abschied auf dem Hamburger Hauptbahnhof haben Peggy und Gady Parnass ihre Mutter nie wieder gesehen. Peggy Parnass hat mehr als 100 Verwandte im Holocaust verloren, ermordet von den Nazis.

Foto: Heike Linde-Lembke
Die Stolpersteine für die Eltern von Peggy Parnass

„Meine Eltern haben weder Grab noch Grabstein. Nur drei Stolpersteine vor ihrer Wohnung in der Methfesselstraße 13. Zwei Steine mit ihren Namen drauf. Auf dem dritten Stein steht ‚Die Liebenden‘. Weil sie sich ja so wahnsinnig geliebt haben“, sagte Peggy Parnass bei der Stolperstein-Verlegung. Mit Leidenschaft verteidigte sie die Stolpersteine: „Seitdem Gunter Demnig sich für uns, das heißt, für unsere vielen Ermordeten engagiert, kommt er gar nicht mehr zu seiner eigenen künstlerischen Arbeit. Ich bin ihm sehr dankbar für das, was er macht.“

Ihre Tante Flora Neumann, nach der die Straße neben der Israelitischen Töchterschule bei den Hamburger Messehallen benannt ist, war erst gegen die Stolpersteine. „Sie war dann aber doch sehr einverstanden, dass es die Stolpersteine für meine Eltern gibt“, sagte Peggy Parnass. Die Dokumentationsreihe „Stolpersteine in Hamburg-Eimsbüttel und Hamburg-Hoheluft-West – Biografische Spurensuche“ erinnert auch an die Familiengeschichte (Seite 417, Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg).

In Schweden wurde Peggy nach den ersten gemeinsamen Pflegefamilien von ihrem Bruder getrennt. Er stellte erst das Essen ein, dann das Sprechen, weil niemand mit ihm Deutsch sprach, ihn aber auch niemand Schwedisch lehrte. Er lebte fünf Jahre in einem Waisenhaus, sie durfte ihn nur wenig besuchen. Eine der Waisenhaus-Aufpasserinnen stellte sich ihr stets in den Weg. „Da stand sie, groß wie ein Haus, dieses Satansweib, und breitete die Arme aus“, schreibt Peggy in „Kindheit“.

Studentenbühne und Gerichtsreporterin

Nach dem Krieg studierte Peggy Parnass in London, Stockholm und Paris. Nach Deutschland? Nie wieder. Doch nach einem Besuch bei ihrer Cousine Ursel blieb sie in Hamburg, weil sie dort „so viele dufte Leute getroffen hat“. Dazu gehörten der Dichter Peter Rühmkorf und „konkret“-Herausgeber Klaus Rainer Röhl. Sie gründeten eine Studentenbühne. Peggy wurde Gerichtsreporterin, schrieb Bücher, darunter 1983 „Unter die Haut“ und 1990 „Süchtig nach Leben“, in denen sie aus ihrem Leben und dem der anderen erzählte, die sie begleitet haben.

Die Autorin, Journalistin, Schauspielerin und Gerichtsreporterin aus Hamburg hat immer für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gestritten, ist für das Recht auf die Straße gegangen, hat demonstriert und sich nie den Mund verbieten lassen. „Ich hatte auch nie einen Chef, das hätte ich nicht ertragen“, sagte sie einmal. Eine Anstellung bei der FAZ blieb ein Intermezo, ihre offene und stark Stellung beziehende Art zu schreiben passte nicht zur FAZ, und die FAZ passte nicht zu ihr.

In Hamburg wurde Peggy Parnass Gerichtsreporterin für die „Hamburger Morgenpost“, für „konkret“ und weitere Zeitungen, nahm intensiven Anteil nicht nur an den Opfern, sondern spürte vor allem dem Warum nach. Ihre Gerichtsreportagen, 1979 zusammengefasst in dem Buch „Prozesse“, wurden zum Spiegel des bundesrepublikanischen Zustands der 1970er- und 1980er-Jahre. Dafür gab es 2008 das Bundesverdienstkreuz, eine von vielen Auszeichnungen. Das Bundesverdienstkreuz aber fand sie gar nicht so toll, „weil es auch viele Nazis und ehemalige SS-Männer bekommen haben“. Sie lehnte ab. Erst nach einem Zuspruch ihrer Freunde Stefan Troller und Ralph Giordano nahm sie es an.

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Peggy Parnass war stets neugierig auf alles. Sie stand auf der Bühne, lebte in WGs, demonstrierte. Vor allem gegen die Nazis, denn sie wusste stets, sie sind immer noch da, und das heute mehr denn je. Doch als sie nach der Schoa nach Hamburg zurückkehrte, merkte sie, es sind auch andere da. Andere, die wie sie gegen die braune Brut kämpfen. Peter Rühmkorf, Rainer Maria Röhl, Ralph Giordano, Esther Bejarano bis zu Dick Busse, mit dem sie Kabarett machte.

Sie gab Sprachkurse in Schwedisch, dolmetschte für die Polizei und war sogar Eintänzerin „für fünf Mark und ein paar Schnittchen“. Vor allem aber war Peggy Parnass eine freie Frau, wach und unabhängig. Eine, die sich einmischte. Eine, die nie losließ oder gar ihre Ruhe einforderte. Im Gegenteil. Sie ging raus, ging auf die Bühne, beispielsweise mit dem Schauspieler Burghart Klaußner in den Hamburger Kammerspielen, und erzählte aus ihrem und dem Leben anderer.

Woher nahm sie diese Kraft, immer wieder auf die Bühne zu gehen, immer wieder auf Demos zu gehen, immer wieder aufzubegehren, sich einzumischen und mit Gleichgesinnten für ein besseres, ein Nazi-freies Leben, für Mitmenschlichkeit und gegen Antisemitismus einzutreten, beispielsweise für den Hamburger Kulturverein Mit2Wo von Giorgio Paolo Mastropaolo und dem Autor und Lichtkünstler Michael Batz? „Das ist meine unbändige Freude am Leben“, sagte Peggy Parnass, und ein kindlich-fröhliches Strahlen leuchtete aus ihren großen Augen.

Peggy Parnass wurde 1979 mit dem Joseph-Drexel-Preis für hervorragende Leistungen im Journalismus ausgezeichnet, 1980 mit dem Fritz-Bauer-Preis. 1998 erhielt sie Biermann-Ratjen-Medaille, 2005 die St.-Georg-Medaille, 2012 den Goldenen Drachen St.-Georg, 2020 die Ehrendenkmünze in Gold der Hansestadt Hamburg.

Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Zeit

„Als Journalistin hat Peggy Parnass wesentlich zur gesellschaftlichen Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit beigetragen und eine kritische Erinnerungskultur gefördert. Als Künstlerin und Aktivistin engagierte sie sich in besonderem Maße für Toleranz und Demokratie. Ihr Lebensmittelpunkt war der Stadtteil St. Georg, den sie mit ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit prägte“, schrieb der Hamburger Senat in seinem Nachruf.

Peggy Parnass starb am Mittwochmorgen im Alter von 98 Jahren. Sie hinterlässt ihren Bruder Gady, der mit seiner Familie in einem Kibbuz in Israel lebt. Sohn Kimme, geboren am 22. Januar 1951, ist Schwede, lebt aber in Hamburg. Peggy Parnass, diese so mutige, streitbare Frau, eine Frau wie das pralle Leben, ist jetzt in einer anderen Welt. Hier fehlt sie schon jetzt.

Von: Heike Linde-Lembke

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Eine Antwort

  1. Danke für diesen mit Achtung und Liebe geschriebenen Nachruf.
    Er macht mich neugierig, noch mehr über Peggy Parnass zu erfahren.

    Was mir in Zusammenhang mit der Geschichte Gadis in Erinnerung kam, war das Leid der Verschickungskinder der letzten Jahrzehnte.
    Peggy und Gadi waren das ja wie viele andere jüdische Kinder damals ja gewissermaßen auch.
    Nur dass auch noch unklar war, ob sie ihre Familie je wiedersehen würden.
    Aber auch sie waren den Launen der Erwachsenen in ihrer neuen Umgebung ausgeliefert und auch das war nicht immer gut.
    Wieviele Traumata auch da entstanden sein mögen über die vielleicht nie gesprochen wurde. Und dann immer wieder Erfahrungen mit Terror und Gewalt, wie jetzt am 7.10. Soviel Schmerz.
    Aber auch soviel Lebenswille und Kraft.
    Die menschliche Seele kann viel aushalten. Aber auch nur begrenzt. Es braucht Mut über diese Erlebnisse zu sprechen und sie frei zu lassen. Weinen,
    Möge Gott immer wieder Mut, Gnade und Hoffnung schenken. Heilung ist möglich.
    Ich denke da jetzt besonders an die Geiseln und ihre Familien.

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