G´tt, der Schöpfer der Welt, ist ein Baumeister. Aber was benutzte ER als Baumaterial? Die chassidische Antwort, eine religiös-mystische Strömung im Judentum, darauf lautet: Seine Sprache schuf die Wirklichkeit, die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets – den Code zur Welt.
Da es seinerzeit keine speziellen Zeichen für Zahlen gab, wurde jedem Buchstaben ein fixer Zahlenwert zugeordnet, mit dem gerechnet werden konnte. Bei großen Zahlen wurden die jeweiligen Buchstaben hintereinander gesetzt, bis der erforderliche Betrag dargestellt wurde. Fünf Buchstaben haben am Ende eines Wortes eine abgewandelte Erscheinungsform, behalten aber den gleichen Ziffer- beziehungsweise Zahlenwert.
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Betrachten wir einige hebräischen Buchstaben unter chassidischer Interpretation etwas näher:
א
Alef ist der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets und besteht aus einem Jud oben und einem Jud unten. Der Buchstabe Waw, der gerade Strich, steht zwischen ihnen und verbindet die beiden Juds. Das obere Jud ist ein Hinweis auf den Namen G‘ttes, der mit einem Jud beginnt. Das untere Jud verweist auf den Jehudi, den Juden, dessen hebräische Bezeichnung ebenfalls mit einem Jud beginnt. Wofür mag wohl das Waw stehen? Es steht für das Vertrauen, das die Juden und Jüdinnen und G´tt verbindet. Im hebräischen Alphabet ist jedem Buchstaben ein Zahlenwert zugeordnet.
Der Zahlenwert von Jud ist 10, der von Waw lautet 6. Addieren wir die beiden Juds sowie das Waw, ergibt sich der Zahlenwert 26. Er entspricht dem biblischen G´ttesnamen, bestehend aus vier Konsonanten, dem sogenannten Tetragramm: Jud (10) + He (5) + Waw (6) + He (5) ergibt 26.
ב
Die Tora beginnt die Schöpfung der Welt mit dem Buchstaben Bejt – bereschit, auf Deutsch im Anfang. Deshalb sei der Buchstabe auf drei Seiten geschlossen, lautet die chassidische Erklärung, und auf der vierten offen – um uns zu lehren, dass die Welt unvollkommen erschaffen wurde. Folglich sind negative Aspekte auch Teil der Wirklichkeit. Führt der Mensch gute Taten aus, kann er die vierte, die offene Seite vervollständigen und die Welt zu einem besseren Ort machen. Das hebräische Wort berecha, Segen, beginnt mit beijt, darum benutzte G´tt diesen Buchstaben als ersten bei der Erschaffung der Welt.
ג
Gimel ist der dritte Buchstabe im hebräischen Alphabet und hängt mit gomel zusammen, einem Ausdruck des Gebens, wie etwa in gemilut chassidim, der Wohltätigkeit. Wieviel ein Mensch einem anderen auch zu geben vermag, „ist es doch nur ein kleiner Teil des Reichtums, den er in sich trägt“, sagen die chassidischen Weisen. Das spiegele sich in seiner Form wider.
Das Waw verkörpert den Geber, das kleine Jud an seinem unteren Ende entspricht dem geringen Reichtum, der einem anderen Menschen gegeben wird. Mit etwas Fantasie kann man in der Form des Gimel die Gestalt eines Menschen deuten. Auch das Wort ge‘ula, die „Erlösung“, beginnt mit einem Gimel.
ה
Wenden wir uns dem Talmud zu, denn hier heißt es, dass die Welt mit Unterstützung des Buchstabens He erschaffen wurde. Dieser Buchstabe bezeichnet einen zarten Laut, spricht man ihn aus, bewegen sich weder Zunge noch Lippen. Das He kommt aus dem inneren Wesen eines Menschen. G´tt erschuf die Welt mit diesem Buchstaben ohne jede Anstrengung, und selbst nach der Erschaffung der Welt war im Schöpfer keinerlei Veränderung festzustellen. Gemäß der geheimen Lehre, der Torat ha-Sod, konnte Avrahams Frau den Sohn Jizchak erst gebären, nachdem G´tt ihren Namen von Saraj zu Sarah und somit zu einem He an ihrem Namensende geändert hatte.
ז
Sajin ist der der siebte Buchstabe. Die Ziffer Sieben spielt in der Natur und ihrem Zyklus eine zentrale Rolle. Die deutsche Bedeutung des hebräischen Wortes sajin ist „Waffe“ – und in der Tat: Seine Form ähnelt einem Schwert. Es kann zum Angriff aber auch zur Verteidigung eingesetzt werden. Der Buchstabe Sajin entspricht dem Zahlenwert Sieben und symbolisiert den siebten Hirten aus dem Hause Davids, dem Maschiach, in dessen Zeiten die Schwerter verschwinden werden.
In Jesaja 2,4 lesen wir: Und er wird richten zwischen den Nationen und Recht sprechen für viele Völker. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Nicht ⟨mehr⟩ wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen (Elberfelder Bibel).
ח
Die Bretter, aus denen das Mischkan bestand, das Heiligtum in der Wüste, bildeten die Form eines Chet. Dieser Buchstabe hat eine nach unten geöffnete Seite. Er versinnbildlicht den harten Fall, der die Folge der Sünde ist und dem Sünder die Möglichkeit nimmt, Teschuva, tätige Reue, zu praktizieren. Die Intention des Mischkan war es, die Gegenwart G´ttes in die Welt zu bringen, G´tt selbst an den geringsten Stellen zu entdecken und die Welt zu erlösen.
Der Zahlenwert des Chet ist die Acht, sie symbolisiert die Sünde. Laut chassidischer Ansicht hat der Menschen acht Körperteile, die ihn zur Sünde verleiten: Augen und Ohren, Mund, Nase, Hände und Beine, Geschlechtsorgane und Herz. Die Mizva (Gebot) der Zizit, derSchaufäden – sie haben acht Fäden – wurde gegeben, um zu helfen, schlechten Einflüssen zu widerstehen.
י
Flüchtig betrachtet wirkt der Buchstabe Jud unscheinbar, aber dem ist nicht so, denn das Jud verkörpert den Anfang und die Kräfte aller anderen Buchstaben. Kein geringerer als der G´ttesname beginnt mit ihm: Jud – He – Waw – He, der die Erschaffung aller Welten symbolisiert. Das Jud ist ursächlich dafür, dass diese Schöpfung stetig fortgesetzt wird.
כ
Der elfte Buchstabe ist das Kaf, er ist geformt wie eine gebogene Linie, die etwas umfasst. Eine Hand wird auf Hebräisch ebenfalls kaf genannt, denn sie kann Dinge umschließen und zudem festhalten. G´tt umschließt die gesamte Welt, die Welt ist spirituell und physisch von der G´ttlichkeit durchdrungen und umgeben.
Die jüdischen Weisen haben dazu gesagt: „Der Heilige, gelobt sei ER, ist der Ort der Welt“, Sefer ha-Likkutim 155. Die Gematria von Kaf ist zwanzig. Zwanzig kann in zweimal zehn geteilt werden. Die erste zehn steht für die zehn Aussprüche, mit denen die Welt erschaffen wurde. Die zweite zehn steht für die zehn Gebote. In 4. Mose heißt es: „Zehn-zehn ist das Kaf“.
ם – מ
Der Buchstabe Mem hat den Zahlenwert 40. Darin liegt eine tiefe Verbindung zur Tora, denn Mose musste vierzig Tage und vierzig Nächte auf dem Berg Sinai ausharren, um sie zu empfangen. Das Mem hat zwei Erscheinungsformen, das offene und das geschlossene am Wortende. Dies entspricht der Tora, denn auch sie besteht aus zwei Teilen. Der offene Teil ist jedem zugänglich, es sind die Erzählungen und Rechtsvorschriften. Der geschlossene Teil am Wortende, das Mem sofit, ist die auch als Kabbala bekannte verborgene Lehre, die Torat ha-Nistar, die nur durch wenige eingeweihte Menschen weitergegeben wird.
Der Buchstabe Mem klingt ähnlich wie das hebräische Wort für Wasser, majim. Wasser ist eine Metapher für die Tora. Der Zahlenwert 40 ist eng mit Gebet und Teschuva, der Umkehr, verknüpft. Nach der Sünde des Goldenen Kalbs betete Mose 40 Tage und 40 Nächte und arbeitete an weiteren 40 Tagen und 40 Nächten an Teschuva, bis G´tt dem jüdischen Volk letztlich verzieh.
ן – נ
Laut Rabbi Akiva (um 50/55 bis 135 nach der Zeitrechnung) wurde die Neschama, die Seele, mit dem Buchstaben Nun geschaffen. Das Nun hat zwei Formen, eine gebogene und am Wortende eine lange gerade. Sie versinnbildlichen, dass es auf uns Menschen ankommt, dem G´tt die Neschama anvertraut hat. Verhalten wir uns integer, ist unsere Neschama aufrecht; sind wir korrumpierbar, dann ist unsere Seele gekrümmt. Rabbi Akiva gehört zu den bedeutendsten Vätern des rabbinischen Judentums und wird zu den Tanna‘im der zweiten Generation gezählt. Er gehört zu den Zehn Märtyrern, die unter Kaiser Hadrian getötet wurden.
Das Nun hat den Zahlenwert 50. Es gibt fünfzig Stufen der Keduscha, der Heiligkeit, wie auch fünfzig Stufen der Tum‘a, der Unreinheit. In Ägypten waren die Israeliten auf die 49. Stufe der Tum‘a hinabgestiegen und mussten sich daher nach dem Auszug aus Ägypten 49 Tage auf die Offenbarung der Tora vorbereiten.
ע
Der Buchstabe Ajin bedeutet übersetzt „Auge“. Man kann in ihm zwei Augen deuten, das eine blickt nach rechts, das andere nach links. Auf die Frage, warum der Mensch mit zwei Augen, aber nur einem Mund und einer Nase erschaffen wurde, soll der chassidische Rebbe von Premyschlan, einem Ort in der heutigen Westukraine, folgendes geantwortet haben: „Damit man mit einem Auge die guten Eigenschaften des Anderen sieht und mit dem zweiten die eigenen Fehler“.
Dem Ajin wurde der Zahlenwert 70 zugeschrieben, dies entspricht auch der Anzahl der Rabbiner des Sanhedrin ha-Gadol, des „Großen Rates“, auch: „Hoher Rat“, plus Mose, denn G-tt sagte zu ihm: „Versammelt für mich 70 Männer von den Ältesten Israels“. Mose war von G´tt dazu bestimmt worden, den Vorsitz über sie zu führen: „Und sie sollen dort bei dir stehen“. Die 70 Richter plus Mose ergibt somit 71.
ש
Das Schin ist der 21. Buchstabe im hebräischen Alphabet, er hat den Zahlenwert 300. Die drei Linien des Schin verweisen auf die drei Avot, die Vorväter Avraham, Jizchak und Ja‘akow. Das Shin ist der Anfangsbuchstabe von Scha-dai, einem der Namen G´ttes. Dies erklärt, warum auf den Kopf-Tefillin ein Schin steht, dieses Shin bilden die Männer zudem durch die Riemen der Hand-Tefillin, wenn sie sie um die Hand wickeln.
ת
Die Wörter Tora, Tefilla (Gebet), und Teschuva beginnen mit dem letzten Buchstaben des Alphabets, dem Taw. Sein Zahlenwert ist 400. Der Mensch besteht aus 10 Sefirot, den zehn g‘ttlichen Emanationen im kabbalistischen Lebensbaum, dem Ez Chaim.
Durchdringen Tora, Tefilla und Teschuva den Menschen, ergibt sich die Zahl 400. Das Taw symbolisiert die Vollständigkeit der Verbindung dieser drei. Das hebräische Wort emet für „Wahrheit“ beginnt mit einem Alef, dem ersten Buchstaben des Alphabets, in der Mitte steht das Mem und am Ende treffen wir auf das Taw. Wahrheit wird Bestand haben, worauf auch der Ausdruck Torat Emet hinweist, „Tora der absoluten Wahrheit“.
4 Antworten
Unheimlich interessanter Bericht. Das wird sehr gut erklärt. Obwohl ich die Erklärung zu den Buchstaben ×-mal lesen muss,um es zu verinnerlichen.😆 Vielen Dank an Frau Tegtmeyer!!!
@Klaus,ich musste gleich an dich denken. Hattest du dich nicht mal geäußert, das du leider Sprache/Schrift nicht so gut kannst,aber gerne möchtest? Vielleicht bekommst du ja Lust mehr darüber zu lernen.
Viele Grüße Manu
Wunderbar. Vielen Dank.
Als Laie verstehe ich in diesem Buchstabensystem nicht einmal Bahnhof.😅
Auf Massada hatte ich vor Jahren das Vergnügen, einem alten Sofer (Schreiber) über die Schulter zu schauen, wie er biblische Texte auf Pergament übertrug. Er gab mir ein Kärtchen mit meinem Namen in hebräischer Schrift.
Es ist unglaublich interessant und wissenswert, dass die Buchstaben auch Zahlenwerte beinhalten.
„Damit man mit einem Auge die guten Eigenschaften des Anderen sieht und mit dem zweiten die eigenen Fehler.“ Weise Worte der Wahrheit. Gott möge mir helfen dies im Umgang mit meinen Mitmenschen zu beherzigen. Shalom!
Ein Meisterwerk der Schreibwerkstatt. Nun, wenn Menschen etwas herstellen, benötigen sie Material. Gott benötigt nichts, ausser sich selbst. ER ist nicht Teil seiner Schöpfung, ER schuf sie durch seine eigene Allmacht. In der Zeitspanne, wo die Erde „wüst und leer“ war , könnte!!! der Fall Satans stattgefunden haben, der ja Tag und Nacht auf Zerstören aus ist. Wir lesen von Tag+Nacht, von Abend+Morgen, von der Erschaffung einer männlichen und einer weiblichen Variante, usw. Welch ein genialer Schöpfer !