Es ist ein besonderer Freudentag und Bagdad zeigt sich aus diesem Anlass von seiner schönsten Seite. Von weit her und aus allen Landesteilen des Reiches sind die Menschen angereist, um ihrem Oberhaupt zu huldigen, denn ihn zu sehen, diese Gelegenheit gibt es nur einmal jährlich, während Ramadan, dem muslimischen Fastenmonat.
Nur im neunten Monat des islamischen Kalenders – laut islamischer Überlieferung hat der Prophet Muhammad in diesem Monat die erste Qur’an-Sure durch den Erzengel Gabriel empfangen – verlässt Kalif Emir Al-Mu‘mamin al-Abbassi seinen Palast, um sich seinem Volk zu zeigen. In Gold und Silber gekleidet, zieht er mit seinem Gefolge zum Gebet zur Hauptmoschee. Die Prozessionsteilnehmer sind in Seide und Purpur gehüllt. Singend und tanzend führen Untertanen den Zug an.
Kaum jemand bemerkt den Fremden unter ihnen, die Menschen sind zu sehr von der feierlichen Prozession gefangen und in Bagdad ist man ohnehin an den Anblick von Ausländern auch von weither gewohnt. Benjamin von Tudela, der jüdische Reisende aus dem fernen Spanien, verfolgt aufmerksam die Szenerie und den Freudentaumel und macht sich ausführliche Notizen. Wie schon an anderen von ihm zuvor besuchten Orten und Städten gilt auch in Bagdad sein besonderes Interesse den Lebensumständen der jüdischen Gemeinde.
Schnell knüpft er Kontakte zu Einheimischen und erfährt von ihnen die Namen der wichtigsten lokalen jüdischen Persönlichkeiten und Rabbiner. Einigen begegnet er persönlich. Über den Kalifen erfährt Tudela, dass er aus der Abbassiden-Dynastie stammt und somit als ein direkter Nachkomme der Familie des Propheten Muhammad gilt.
Ein beliebter Kalif
Die ortsansässigen Juden berichten nur Gutes über Emir Al-Mu’mamin al-Abbassi, Tudela notiert sich dazu in seinen Reiseaufzeichnungen Folgendes: Der Kalif gilt als ein freundlicher, gütiger und wohltätiger Mann und als hervorragender Regent aller Untertanen. Besonders loben seine jüdischen Glaubensbrüder die ausgezeichneten Hebräischkenntnisse ihres muslimischen Herrschers, sein immenses Wissen über den mosaischen Glauben und die Gesetze. Für seine Statistik hält Tudela fest, dass um die 1.000 Juden in Bagdad leben sollen.
Wir erfahren vom Rabbiner von der Iberischen Halbinsel viel über ferne Länder und ihre Menschen. Aber wer war Rabbi Benjamin von Tudela? Über seine Herkunft und Jugendjahre ist kaum etwas bekannt, auch keine genauen Lebensdaten. Selbst der Name seiner Mutter ist nirgends überliefert.
Verschiedene Quellen wissen nur so viel: Geboren wurde er in Spanien in dem navarresischen Ort Tudela. Sein Vater hieß Jonah. Im Elternhaus soll sehr viel Wert auf Wissen gelegt worden sein, Benjamin genoss eine umfassende Erziehung und galt unter seinen Mitmenschen als außerordentlich gebildet, auch hinsichtlich des Judentums. Eine mögliche Erklärung, warum ihn seine Zeitgenossen als Rabbi bezeichneten.
Anlass der Reise nicht bekannt
Ob er tatsächlich als Rabbiner gewirkt hat, ist nicht verbrieft. 1160 verließ Benjamin von Tudela seine Heimat und brach über Saragossa zu seiner langjährigen Erkundungsreise auf. Über Anlass oder Motivation ist ebenfalls nichts zuverlässig überliefert. Benjamin von Tudela könnte Juwelenhändler gewesen sein. Dies wäre eine denkbare Erklärung für sein großes Interesse an den Handelsrouten der Seidenstraße und am Austausch von Handelsgütern zwischen China und dem Westen. Als Seidenstraße bezeichnet man seit der Antike ein Netz von Karawanenstraßen, deren Hauptroute Ostasien mit dem Mittelmeer verbindet.
Gewöhnlich begleiteten die chinesischen Händler ihre Ware nicht den gesamten Weg nach Westen, sondern nur über kurze Distanzen. An chinesischen Umschlagsplätzen wie Dunhuang oder Jinchang wurden die Handelsgüter an zentralasiatische Mittelsmänner verkauft oder getauscht, welche die Handelswaren zu den Städten der persischen, syrischen und griechischen Kaufleute weitertransportierten.
Eine weitere Vermutung: Wollte Benjamin von Tudela sichere Pilgerrouten ins Heilige Land erkunden? Wenn ja, vielleicht war seine Absicht, gute Kontakte zu jüdischen Gemeinden zu knüpfen, die ihre spanischen Glaubensbrüder auf dem Pilgerweg und im Heiligen Land beherbergen würden.
Zunehmend judenfeindliche Stimmung
Benjamin von Tudela lebte in einer für Juden schreckensvollen Zeit. Sowohl in christlich wie auch in islamisch beherrschten Gebieten wurde die Stimmung im Hochmittelalter zunehmend judenfeindlicher. 1145 stürzten die streng gläubigen Almohaden, ein nordafrikanischer Berberstamm, in Spanien die Dynastie der Almoraviden und fassten Fuß auf der Iberischen Halbinsel. Ihr Begründer Abd al-Mu’min drohte den Christen und Juden: Ihr habt die Wahl: Islam oder Tod!
Die Machtübernahme der Almoraviden markiert das Ende der bislang toleranten Atmosphäre zwischen Juden und Muslimen. Andersgläubige galten von da an als Gesetzlose.
Folgen Sie uns auf Facebook und X!
Melden Sie sich für den Newsletter an!
In den Jahren 1147 und 1148 richteten die Kreuzfahrer in Tortosa ein Blutbad unter den Juden an. Das Rheinland wurde von grausamen antijüdischen Ausschreitungen in den sogenannten „SchUM-Gemeinden“, womit die Orte Speyer, Worms und Mainz gemeint sind, erschüttert. Vielleicht wollte Rabbi Benjamin von Tudela sichere Fluchtwege und Exilmöglichkeiten für die spanischen Juden erkunden.
Das Reisen in jener Zeit war unbequem, der Mann aus dem spanischen Tudela nahm große Strapazen und Gefahren auf sich. Mancherorts herrschten politische Unruhen und kämpferische Auseinandersetzungen. Seine Reiseroute verlief von Spanien aus zunächst durch mehrere Länder Europas.
Allgemein prekäre Situation der Juden
Eine besonders lange Zeit scheint er in Konstantinopel verbracht zu haben. Die Stadt am Bosporus markierte den westlichen Endpunkt einer der Handelswege der Seidenstraße. Viele Juden waren Händler oder erfolgreich in der Seidenproduktion tätig. Obwohl es einige von ihnen zu großem Reichtum gebracht hatten, beschreibt Tudela die Gesamtsituation für die Juden im Vergleich zu anderen Orten als prekär.
Lediglich der hoch angesehene Rabbi Shlomo Hamitrsi, er diente am königlichen Hof, konnte hin und wieder seinen Einfluss geltend machen und Repressalien gegenüber den Juden entgegenwirken. Von Konstantinopel aus reiste der rastlose Benjamin in den Libanon, bevor er den langersehnten Boden des Heiligen Landes betrat.
Tudela besuchte Orte wie Nablus, Akko, Tiberias und Bethlehem. Wir erfahren in seinem Reisebericht viel Wissenswertes über die Drusen, Garizim und Samariter. Seine detaillierten Schilderungen aus Jerusalem und dem Leben der Menschen sind wohl einmalig für seine Zeit. Über Belinas, das historische Dan, setzte er seine Reise in die berühmten syrischen Handelsstädte Damaskus und Aleppo fort.
Auch hier betrieben die Menschen Handel über das Routennetz der Seidenstraße. Den Abstand der von ihm bereisten Orte gab Benjamin von Tudela in seinen Reiseaufzeichnungen in Tagesreisen oder in „Parasangen“ an, wobei eine Tagesreise 10 Parasangen entspricht und eine Parasange etwa 4 Kilometer sind.
Bis an die persische Grenze
Von Syrien aus zog es ihn weiter nach Bagdad. Unter dem nachhaltigen Eindruck der Begegnung mit dem Abbassiden-Kalifen während des Ramadan-Festes reiste er in Mesopotamien, dem Zweistromland, bis an die persische Grenze. Auch hier traf er auf Zwischenhändler der Seidenstraße. Von ihnen sammelte er eifrig Informationen über jüdische Gemeinden in Persien.
An der Malabarküste Indiens begegnete er chinesischen Kaufleuten und ergriff die Gelegenheit, um von ihnen mehr über Juden in China zu erfahren. Benjamin von Tudela ist vermutlich der erste Europäer, der vom Handel mit Indien berichtet und in dessen Reiseaufzeichnungen das Wort Tibet auftaucht. Der Name Tibet leite sich vom arabischen tubbat ab und bezeichnet ein turk-mongolisches Volk. Nach alttibetischen Quellen aus dem achten Jahrhundert nannten sich die Tibeter selbst Pöpa und ihr Land Pö oder Pöyul.
Seine nicht weniger strapaziöse Heimreise trat Tudela über die Arabische Halbinsel und Ägypten an. Dort verbrachte er ebenfalls eine längere Zeit, wie wir aus seinem Reisebericht erfahren.
Nach 13 langen Jahren kehrte Benjamin von Tudela 1173 erschöpft in seine Heimat Spanien zurück, wo er noch im selben Jahr in Kastilien verstarb. 300 Orte soll er besucht haben. Nicht immer sind seine Angaben absolut zuverlässig. An manchen Orten, die wir in seinen Notizen finden, ist er nicht persönlich gewesen, vielmehr stützt er sich in seinen Beschreibungen auf Angaben anderer, meist Händler der Seidenstraße, vermerkt aber stets gewissenhaft seine Quellen. Historiker betrachten ihn daher als vertrauenswürdig.
Vorgänger von Marco Polo
Der Rabbi aus Tudela verfasste seinen Reisebericht, Masa’ot schel Binjamin min Tudela, auf Hebräisch. 1543 wurde sein Werk in Konstantinopel erstmals ins Lateinische übersetzt, später in alle wichtigen europäischen Sprachen. Einhundert Jahre nach Benjamin von Tudela wagten die venezianischen Gebrüder Polo das Abenteuer und reisten gen Osten.
Im Jahr nach Marco Polos Tod brach 1325 der marokkanisch-stämmige Gelehrte Ibn Abu Abdullah Muhammad Ibn Battuta (1304 bis 1377), als Ibn Battuta bekannt, zu einer langen Forschungsreise auf. Mit Schiffen, Kutschen und Kamelen erkundet er Ostafrika, den Persischen Golf, Indonesien, Indien, China und Spanien. Seine Forschungsreise führten ihn bis Sumatra, Vietnam und schließlich Quánzhōu in der Provinz Fújiàn, von wo er seine Heimreise nach Marokko antrat. Von seinen Beobachtungen und Begegnungen berichtet Ibn Battuta in seinem spannenden Reisebericht Rihla, arabisch für: Reise.
Was auch immer den Mann aus dem spanischen Tudela Mitte des 12. Jahrhunderts zu seiner Reise in ferne und kaum erforschte Länder bewegt haben mag, eines ist unumstritten: Der Nachwelt gilt Rabbi Benjamin von Tudela als der bedeutendste jüdische Reisende des Mittelalters.
6 Antworten
Man möchte zusammen mit Rabbi von Tudela die Welt bereisen und die Menschen mit ihren Ansichten, ihren Überzeugungen und ihren Glaubensausrichtungen kennenlernen.
An die Redaktion, gibt es darüber Lesbares?
Wenn ja,bei welchem Verlag ist es erhältlich?
Ich würde gerne mehr dazu wissen …..SHALOM
Lieber Klaus,
das Werk heißt „Buch der Reisen“. ISBN 10: 3820414428.
Vielen herzlichen Dank an euch. Ich werde es morgen bestellen……SHALOM ALEJCHEM
Habe es mir schon bestellt, ist aber zur Zeit nicht verfügbar, frühestens ab Ende April, aber wohl eher später, kann sich bis August hinziehen, schade muss halt geduldig sein.
SHALOM ALEJCHEM
Auf Englisch existieren mehr Quellen und Bücher, drei Anregungen.
„The Itenary of Rabbi Benjamin of Tudela
download link:
https://menadoc.bibliothek.uni-halle.de/publicdomain/content/titleinfo/646468
weitere Quellen:
https://www.amazon.de/Itinerary-Benjamin-Tudela-Perfect-Library/dp/1519581823
The Project Gutenberg eBook
„The Itinerary of Rabbi Benjamin of Tudela,“ prepared and published by A. Asher, is the best edition of the diary of that traveller. The first volume appeared in 1840, and contained a carefully compiled Hebrew text with vowel points, together with an English translation and a bibliographical account. A second volume appeared in 1841 containing elaborate notes by Asher himself and by such eminent scholars as Zunz and Rapoport, together with a valuable essay by the former on the Geographical Literature of the Jews and on the Geography of Palestine, also an Essay by Lebrecht on the Caliphate of Bagdad.
Der link: https://www.gutenberg.org/files/14981/14981-h/14981-h.htm
Mit freundlichen Grüßen aus Jerusalem.
Gundula Madeleine Tegtmeyer – Journalistin und Autorin des Artikels