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Trauer, Fassungslosigkeit und Zuversicht

Das Hamas-Massaker und der Krieg prägen das Leben in Israel. Touristen bleiben aus. Israelis schwanken zwischen Freude und Bangen.
Von Elisabeth Hausen

Wer in diesen Kriegszeiten nach Israel reist, merkt schon während des Fluges: Vieles ist anders als früher. An Bord des Flugzeuges befinden sich nur wenige Nicht-­Israelis. Am Ben-Gurion-Flughafen sind deutlich weniger Passagiere unterwegs. Plakate erinnern an die Lage der Geiseln, und überall sehe ich Schilder, die den Weg zum gegen Raketen gesicherten Bereich weisen – falls Alarm ertönen sollte.

In der Jerusalemer Altstadt, wo sich normalerweise Touristen tummeln, herrscht überwiegend Leere. Viele Läden sind geschlossen, andere haben kürzere Öffnungszeiten. Die wenigen Ausländer werden von Händlern mit Beschlag belegt, das Tourismusgeschäft liegt brach. Vor dem Gottesdienst einer messianisch-­jüdischen Gemeinde in der Neustadt erteilt ein Mitarbeiter Anweisungen für den Fall eines Alarms: Ruhe bewahren, Frauen und Kinder sollen vor den Männern den Schutzraum aufsuchen.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Eine vergleichsweise leere Gasse in der sonst von Touristen belebten Jerusalemer Altstadt

Plakate von Entführten sind zahlreich auch in der israelischen Hauptstadt zu sehen, verbunden mit der Aufforderung, sie nach Hause zu bringen. Regelmäßig protestieren Angehörige von Geiseln und Mitstreiter gegen Premierminister Benjamin Netanjahu. Auf einem Transparent ist zu lesen: „Die Stimme des Blutes meiner Brüder schreit zu mir von der Erde“. Das ist eine Anspielung auf die biblische Geschichte von Kains Mord an Abel, wo Gott zu Kain spricht (1. Mose 4,10).

Verbrannte Häuser und Autowracks

Noch bedrückender als im fast touristenfreien Jerusalem ist die Stimmung, wenig überraschend, in dem Gebiet, wo die Hamas und ihre Helfer am 7. Oktober 2023 ihr Massaker verübten. Im Kibbuz Nir Os wirkt es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Verbrannte Häuser zeugen von der Brutalität des Terrorangriffes.

In der Ferne ist die im Süden des Gazastreifens gelegene Stadt Chan Junis zu sehen. Von dort kamen die Angreifer über die Felder in die israelische Ortschaft. Sie brannten Lagerräume und die nächstgelegene Häuserzeile nieder, ermordeten und entführten Bewohner. In einem dieser Häuser lebte die Familie Bibas: Jarden und Schiri mit ihren Söhnen Ariel und Kfir, der erst neun Monate alt war, als er verschleppt wurde. Auf der Veranda liegt ein Aufkleber mit der deutschen Aufschrift: „Mein Name ist Kfir. Ich wurde gekidnappt.“ Die Familie hat neben der israelischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Verbranntes Haus im Kibbuz Nir Os, der von Hamas-Terroristen verwüstet wurde

Eine Gruppe wird herumgeführt, sonst ist der Kibbuz so gut wie menschenleer, bis auf die Wachsoldaten am Ortseingang. Plakate weisen auf das Schicksal der Bewohner hin: ermordet, entführt, freigelassen. Die Überlebenden wurden evakuiert. An den Hauswänden findet sich immer wieder der Schriftzug „kaschir“, das bedeutet „tauglich“ – die Sicherheitskräfte haben ihre Untersuchungen abgeschlossen, die Gefahr durch etwaige Terroristen in diesem Gebäude ist gebannt.

Deprimierend ist auch die Stätte, an der zahlreiche Wracks von ausgebrannten oder durchschossenen Fahrzeugen gesammelt wurden. Besucher sehen eine Mauer aus Autos, deren Insassen an jenem schwarzen Schabbat von Terroristen angegriffen wurden. Im Vordergrund stehen einzelne Fahrzeuge, dazu gehören mehrere verbrannte Krankenwagen. Manche Autos gehörten Helden, die mehrmals ins Kampfgebiet fuhren, um Unbekannte zu retten – bis sie selbst erschossen wurden.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Ausgebrannter Krankenwagen auf dem „Autofriedhof“

Neben einer Bushaltestelle in der Nähe des Kibbuz’ Re’im gibt es an einer Schnellstraße einen weiteren düsteren Ort: In einen kleinen Schutzraum flüchteten sich etwa 40 Menschen vom Nova-­Festival. Sie drängten sich in dem engen Raum, halfen ­einander – doch die Terroristen warfen Granaten und schossen auf den Bunker. Die meisten überlebten nicht. Außen sind Einschusslöcher zu sehen. Im Schutzraum hängen Bilder von Opfern, Namen und Botschaften zieren die Wände, Kerzen brennen im Gedenken an die Getöteten. Die Atmosphäre ist beklemmend.

Geburtstagsfeier ändert Stimmung

Auf dem Nova-Gelände stehen die mir aus dem Fernsehen bekannten frisch gepflanzten Bäume, sowie die Stangen mit den Bildern der 364 Todesopfer. Angehörige sorgen dafür, dass die Stätte würdig aussieht. Doch bevor mich auch hier die bedrückende Stimmung zu überwältigen droht, höre ich plötzlich Musik. Ob es wohl so ähnlich auf dem Festival geklungen hat, kurz bevor der Raketenalarm und der Überfall der Terroristen dem ein Ende setzten? Auf dem Gelände gibt es doch tatsächlich eine Geburtstagsfeier! Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass das Geburtstagskind zu einer Familie gehört, die beim Massaker eine Angehörige verloren hat – die 29-jährige Englischlehrerin Noi Aviv.

Doch offenbar wollen die Feiernden nicht, dass die Trauer ihnen alle Freude nimmt. Viele tragen T-Shirts mit der Aufschrift: „Deine Lebensfreude ist das Vermächtnis für unser Leben“. Diese tanzenden Israelis, die ihrer Kleidung nach sehr säkular erscheinen, erinnern mich an ein jüdisches Prinzip: An Trauertagen wie dem Tischa BeAv, der an die Zerstörung der Jerusalemer Tempel erinnert, sollen Juden trauern, auch wenn sie gerade fröhlich sind. Und an Freudenfesten sollen Juden fröhlich feiern, auch wenn sie gerade traurig sind. Mit ihrer Musik würdigen diese Israelis das Geburtstagskind. Und plötzlich bekommt der düstere Ort für mich eine andere Ausstrahlung.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Eine unerwartete Geburtstagsfeier auf dem Gelände des Nova-Festivals

Bei einer Solidaritätsveranstaltung der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem (ICEJ) nahe der Gaza-Grenze erlebe ich eine tapfere Kommunalpolitikerin aus dieser so verwundeten Region. Sie will sich von dem Massaker und den damit verbundenen Traumata nicht in die Knie zwingen lassen. Die Vorsitzende des Regionalrates Eschkol, Michal Usiahu, sagt, die Hamas habe einen Angriff gegen die Zivilisation verübt. Doch: „Die Kräfte der Finsternis werden nicht gewinnen, weil wir Menschen des Lichtes sind.“ Der Regionalrat umfasst 32 Gemeinden in der Wüste Negev. Von den rund 17.000 Einwohnern wurden 255 getötet und 122 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

Hoffnung macht der Politikerin die junge Generation im Kibbuz Be’eri, der bei dem Massaker 102 Bewohner verloren hat. Denn sie baue den verwüsteten Ort wieder auf. Die Hamas fürchte sich nicht vor den Panzern und den heldenhaften israelischen Soldaten. Angst bereite ihr vielmehr „der Klang von Kinderlachen in unseren Gemeinden“, meint Usiahu. In Be’eri befindet sich eine Druckerei, welche die Israelis unter anderem mit Führerscheinen versorgt. Sie hatte bereits vier Tage nach dem Terrorangriff ihren Betrieb wieder aufgenommen. Dankbar sind Usiahu und andere Israelis für die Unterstützung von Christen aus 50 Ländern, die trotz des Krieges zu der Solidaritätskundgebung in den Ha-Bsor-Park gekommen sind – 8 Kilometer vom Gazastreifen entfernt.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Nicht nur Privatleute errichten Laubhütten, es gibt sie auch vor Restaurants

Eines der Freudenfeste des jüdischen Kalenders, an denen die Menschen fröhlich sein sollen, ist Sukkot. In Jerusalem zeigt es sich nicht nur an den Laubhütten in Gärten, auf Balkonen und vor Restaurants. Auf einmal ist die Stadt doch wieder voller Menschen, wenn auch die meisten Israelis sind. Aus dem gesamten Land sind sie gekommen, um das Wallfahrtsfest in der Hauptstadt zu feiern.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Zahlreiche Juden kommen während der Festtage zur Klagemauer

Um Gedränge zu vermeiden, gibt es in der Altstadt eine Einbahnstraßenregelung für Fußgänger: Wer vom Jaffator zur Klagemauer gelangen möchte, muss den Weg nach rechts durch das jüdische Viertel nehmen, statt geradeaus zu gehen. An manchen Ampeln nahe der Altstadt regeln Polizisten den Verkehr. Denn nicht nur die heiligste Stätte des Judentums ist ein Anziehungspunkt. An den Halbfeiertagen zwischen dem Auftakt des Laubhüttenfestes und dem Fest der Freude über Gottes Lehre, Simchat Tora, strömen auch viele Israelis in die Geschäfte der Neustadt. In den Straßenbahnen finden sich kaum noch Stehplätze.

Fröhliches Feiern mit Gesang und Tanz

Beim Hallel-Gebet, dem „großen Lobgesang“, tanzen Juden in der Jerusalemer Synagoge Heichal Schlomo voller Freude darüber, dass Gott groß ist und Wunder tut. Sie haben die furchtbaren Ereignisse vom schwarzen Schabbat nicht vergessen. Aber sie loben Gott mit Psalmen und anderen Gebeten für Taten der Vergangenheit und der Zukunft, auf die sie hoffen. Anders als im Schabbatgottesdienst begleiten Instrumente die Gesänge. Immer schneller wird der Tanz, die Gesichter strahlen echte Freude aus. Von der Empore schauen Frauen begeistert zu, machen Fotos und Videoaufnahmen.

Simchat Tora ist nach dem jüdischen Kalender der Jahrestag des Hamas-Massakers. Doch zumindest in Jerusalem feiern viele Juden das Fest mit großer Hingabe. In Synagogen und vor Talmudschulen tanzen Männer mit Torarollen zu fröhlicher Musik, drücken ihre Dankbarkeit für Gottes Wort aus. Kinder bekommen Süßigkeiten. An einem Stand in einer Gasse stellen Mädchen Zuckerwatte her und verkaufen sie an Passanten.

Natürlich gibt es auch viele, die um einen geliebten Menschen trauern oder bangen – um Ermordete, Gefallene oder Geiseln. Nicht alle in Israel können sich an Sukkot oder Simchat Tora wirklich freuen. Manche verweigern auch bewusst die Feier. Auf dem Geiselplatz in Tel Aviv steht in diesen Tagen eine Laubhütte mit 101 leeren Stühlen und Gedecken; jeder erinnert an einen Menschen, der weiterhin von der Hamas im Gazastreifen festgehalten wird – tot oder lebendig. Plakate und Aufkleber in den Straßen sorgen dafür, dass die Geiseln und Gefallenen nicht in Vergessenheit geraten.

Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Laubhütte für die Geiseln

Anweisungen vor Gottesdiensten für Alarmsituationen und Hinweise auf Schutzräume zeugen davon, dass sich der einzige jüdische Staat der Welt in einem Krieg um seine Existenz befindet. Bei einer Buchvorstellung erzählt mir eine Frau, sie sei im Schwimmbad gewesen und habe auch dort ein Hinweisschild zum gegen Raketen gesicherten Bereich gesehen.

Es gibt viele Menschen, die Hoffnung und Zuversicht verbreiten. In dieser dunklen Zeit ist in Israel oft ein Lied zu hören, und es ist nicht nur bei religiösen Juden beliebt: „Am Israel Chai“ – „Das Volk Israel lebt“ – von Ejal Golan. Darin heißt es: „Denn das ewige Volk fürchtet sich niemals.“ Und auch: „Der Heilige, gepriesen sei Er, wacht über uns. Wer kann uns also etwas anhaben?“ Diese Zuversicht gibt vielen Israelis die Kraft, nicht aufzugeben und für eine bessere Zukunft zu kämpfen – sei es mit den Sicherheitskräften, durch ziviles Engagement oder durch Gebet.

Israelnetz Magazin

Dieser Artikel ist in einer Ausgabe des Israelnetz Magazins erschienen. Sie können die Zeitschrift hier kostenlos und unverbindlich bestellen. Gern können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

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6 Antworten

  1. @ Redaktion. Ihr hattet einen Artikel über den weltweiten Zerstörungsmechanismus gegen Juden, gegen Israel. Nicht nur der 7.10., bzw. Terror oder Krieg zehrt, selbst wenn man es wegschiebt, dieser geschürte Hass ist allgegenwärtig. Nur wenige stehen auf. Politiker labern rum. Der Satz aus Auschwitz: Was für ein Mensch willst du sein…ist teils ohne Inhalt geworden. Das in der BRD keine wahre Religionsfreiheit mehr für uns ist, Schande Politiker. Das Grundgesetz ausser Kraft gesetzt.
    Kein Davidstern Kettchen, Kippa ungesund.
    Shalom. Am Israel chai

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  2. Shalom,Danke an die Redaktion für diesen Bericht.Als ich vor ca.2monaten dort mit ein paar Soldaten war haben wir diese Automauer,Gedenkstätte und Beeri,Re-im und andere Gemeinden gesehen und die Zerstörung.Diese Bilder hier errinnern mich wieder daran wie schlimm es war. War ja auch vom 9.10 für 3Monate dort im Einsatz. Einfach schrecklich.Die Bilder sind schon schlimm.Aber wenn man es mit eigenen Augen gesehen hat ist es unfassbar und unvergesslich. Shabbat Shalom an alle Israel Unterstützer und Redaktion.

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  3. Danke für diesen bewegenden Artikel. Man möchte sofort Koffer packen und nach Israel fliegen. Danke, daß Sie in Israel vermittelt haben , daß es Menschen gibt, die mit dem Land solidarisch sind.

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  4. Es ist eine traurige Stimmung, in Israel und der gesamten Welt.
    Der Glaube an den lieben Gott und an ein besseres Pro-Israelisches Zeitalter sollte uns Hoffnung geben,
    dass es wieder mehr Freude, mehr Touristen und mehr eingepfropfte Zweige gibt, die für Israel da sind.
    Ich glaube an eine bessere Zukunft, momentan ist Trauer und Bitterkeit.

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  5. Danke an Redaktion und Elisabeth Hausen für den berührenden Artikel. Am Israel Chai.

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