Anlässlich des 100. Todestages präsentiert die Nationalbibliothek Israels zum ersten Mal ihre Sammlung von 80 Originalgegenstände aus dem Archiv eines des einflussreichsten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts: Franz Kafka, der die mitunter sinnlose Realität des modernen Lebens brillant, „kafkaesk“ beschreiben konnte, auf „rätselhafte Weise unheimlich, bedrohlich“.
Die Ausstellung Kafka: Metamorphose eines Autors gibt keine festgelegte Route vor. Vielmehrlädt sie Besucher ein, sich im eigenen Rhythmus einen Weg durch Kafkas Lebensetappen und sein literarisches Schaffen zu bahnen.
„Wenn ich bei einem Kafka-Werk auf der letzten Seite angekommen bin, muss ich oft die ersten Seiten nochmal lesen, weil ich verunsichert bin, ob ich Kafka verstanden habe“, gibt Stefan Litt, Kafka-Experte und Kurator der Ausstellung, während der Führung unumwunden zu. Und wenn wir ehrlich sind, ergeht es wohl vielen von uns ähnlich.
Debatte über Rolle des Judentums
Die umfangreiche Ausstellung beleuchtet unterschiedliche Aspekte in Kafkas Leben: Seinen familiären Hintergrund, zwischenmenschliche Beziehungen, Freund- und Liebschaften und sein literarisches Werk sowie eine eingehende Untersuchung seiner Haltung zum Judentum und Zionismus.
Bis heute wird über die Rolle des Judentums in Kafkas Literatur debattiert. Während einige Gelehrte jüdischen Einfluss in seinem Werk absprachen, betrachten andere, wie Gershom Scholem (1897–1982), Werke wie Der Prozess als „kabbalistisch“. Scholem war ein in Deutschland geborener israelischer Philosoph und Historiker. Er gilt als Begründer der modernen akademischen Erforschung der Kabbala und wurde zum ersten Professor für jüdische Mystik an der Hebräischen Universität von Jerusalem ernannt.
Mit der Zeit begann Kafka, sich für einige Aspekte des Judentums zu interessieren, besondersfür den Chassidismus. Das Wort chassidut bedeutet auf Deutsch „Frömmigkeit“. Es ist eine religiöse, stark traditionsorientierte und in ihren Ursprüngen auch mystische Strömung, die im 18. Jahrhundert unter ultra-orthodoxen osteuropäischen Juden, den haredim, entstand.
Kafkas enger Freund Max Brod war überzeugt, dass der Schriftsteller ein Zionist war. Und in der Tat: Nach seiner Teilnahme 1913 am elften Zionistenkongress in Wien erwog Franz Kafka, nach Israel auszuwandern, was sein kritischer Gesundheitszustand letztendlich jedoch nicht zuließ. 1917 begann Kafka, Hebräisch zu lernen, zunächst im Selbststudium. Nach einer Unterbrechung – erneut gesundheitlichen Problemen geschuldet – wurde er Schüler von Puah Ben-Tovim. Dies befähigte ihn, nach wenigen Jahren kurze Texte mühelos auf Hebräisch verfassen.
Die Geschichte von Kafkas Nachlass
Die Ausstellung zeichnet die faszinierende Geschichte von Kafkas Nachlass nach und wie sein literarisches Werk schließlich von seinem langjährigen Freund Brod vor der Verbrennung gerettet und veröffentlicht wurde. Sie endet im Jahr 2019, als Israels Oberster Gerichtshof entschied, dass Kafkas Archiv ein Kulturgut sei, das in der Nationalbibliothek Israels (NLI) hinterlegt werden müsse. Die Israelische Nationalbibliothek in Jerusalem ist neben der „Oxford Library“ und dem Marbach-Archiv in Deutschland einer der drei größten Besitzer von Kafkas Archiven.
Unter einer Vielzahl ausgestellter Gegenstände sind Kafkas 1921 verfasstes Das erste Testament. Kafka hatte Brod angewiesen, seine unveröffentlichten Manuskripte nach seinem Tod zu vernichten. Brod widersetzte sich vehement dem letzten Willen seines verstorbenen Freundes, denn er hatte Kafkas außergewöhnliches literarisches Talent früh erkannt. Statt sie nach Kafkas Tod zu verbrennen, redigierte er die Texte und veröffentlichte sie ab den 1930er Jahren.
Max Brod, 1884 in Prag geboren, gestorben 1968 in Tel Aviv-Jaffa, war selbst Romanautor, Philosoph und Kulturkritiker. Er sollte Kafkas Werk ein zweites Mal vor den Flammen retten. Denn 1933 drang ein Mob studentischer Anhänger der Nationalsozialisten in mehr als 30 deutsche Universitäten ein, um in den Bibliotheken Bücher aufzuspüren, die sie für „undeutsch“ hielten. Die Nazis kategorisierten Brod als jüdischen Autor und als Freund von Autoren „subversiver“ Literatur wie Kafka und Franz Werfel (1890–1945). Brods Bücher wurden in Nazideutschland verboten und verbrannt, Kafkas Nachlass konnte er vor den Nazis retten.
Um nach der Nazi-Invasion in seiner Heimat, der Tschechoslowakei, weiterer Verfolgung zu entgehen, gingen Brod und seine Ehefrau 1939 nach Tel Aviv, im Gepäck auch Kafkas Manuskripte, um sie vor dem Zugriff durch die Nazis zu retten. Von Max Brod stammen die umfassendsten und bedeutendsten Zeugnisse und Biografien über Kafkas Leben und Werk, einschließlich einer Monographie (Franz Kafka, 1936), weitere Studien, eine Vielzahl von Artikeln und Tagebuchnotizen, letztere gingen später leider größtenteils verloren.
Brod berichtete von persönlichen Erfahrungen
Kafka wurde auch in Brods autobiographischen Arbeiten Streitbares Leben (1960) und Der Prager Kreis (1966) große Aufmerksamkeit gewidmet. Brods Briefwechsel mit dem Freund ist das authentischste und literarisch wertvollste Dokument für die Aufschlüsselung von Kafkas Leben sowie der privaten und kulturellen Umstände, die das Werk maßgeblich prägten.
Max Brod setzte seine Arbeit in Israel im Namen seines Freundes fort. Er berichtete in lokalen Kulturkreisen von seinen persönlichen Erfahrungen und seiner Freundschaft mit Kafka. Kafkas einzigartige Schriften erregten auch in arabischen Ländern Interesse. In den späten 1960er Jahren erschienen verschiedene Übersetzungen seiner Romane und Kurzgeschichten in Ägypten, Syrien, dem Libanon und Jordanien. Infolgedessen wurden in der arabischen Welt Kafkas Schriften und seine Ansichten zum Judentum und Zionismus diskutiert.
Brods Weigerung, das Testament zu erfüllen, verlieh Franz Kafka posthum die weltweite Anerkennung als einem der bedeutendsten Schriftsteller der Moderne. Kafkas Erfolg ist auch Shlomo Zalman Schocken zu verdanken, der seine Hauptwerke 1934 in Berlin veröffentlichte. Die Nazis schlossen den jüdischen Verlag, Schocken eröffnete ihn wieder in Israel und ließ Kafkas Werke ins Hebräische übersetzen. Ab 1945 erschienen die Romane und Geschichten auf Hebräisch.
Eine Ausstellungsvitrine beherbergt neben dem anklagenden 100-seitigen „Brief an seinen Vater“ Originalmanuskripte seiner bekannten Bücher Der Prozess, Amerika und Das Schloss. Hinzu kommen Novellen, wie etwa Die Verwandlung, Erst- und seltene Ausgaben, persönliche Briefe und Postkarten sowie Kafkas Zeichnungen, Fotografien und seine Hebräisch-Schreibübungen.
Im „Brief an den Vater“, verfasst 1919, schrieb Kafka seine Zeilen nach heftigen Auseinandersetzungen; auf ursprünglich einhundert Manuskriptseiten wirft Kafka ihm mangelnde Sensibilität und mangelndes Verständnis für den geistigen und psychischen Zustand des Sohnes vor. Kafka spricht familiäre Angelegenheiten an und fordert, ihre Haltung zu jüdischen Fragen und weiteren für ihn relevanten Themen zu erfahren.
Die ausgestellte Brief-Version wurde getippt. Kafka konnte die Tipparbeit nicht abschließen, dies erklärt, warum das Ende des Briefes an seinen Vater in handschriftlicher Form des Originalmanuskripts präsentiert wird.
„Der Brief hat es in sich, klingt wie eine persönliche Abrechnung. Es ist unklar, ob er wirklich vorhatte, ihn an seinen Vater abzuschicken“, kommentiert Kurator Litt Kafkas vorwurfsvolle Zeilen. „Aber eines steht fest: es handelt sich hierbei um eine außergewöhnliche Komposition in der Weltliteratur.“
Skizzenbuch und hebräische Vokabeln
Im Nachlass von Max Brod und somit in der Nationalbibliothek Israels findet sich auch Kafkas Skizzenbuch, angelegt vermutlich um 1923. Abgesehen von kurzen literarischen Notizen auf einer Seite am Anfang, füllen Kafkas Zeichnungen das Notizbuch. Der abgegriffene Zustand lässt ahnen, wie häufig Kafka das Notizbuch in die Hand genommen hat. Der Stil der Zeichnungen unterscheidet sich deutlich von denen auf losen Blättern. Teile einiger Seiten wurden ausgeschnitten, offenbar von Max Brod.
In Kafkas Notizbüchern mit Vokabellisten für das Hebräisch-Selbststudium ab 1917 finden sich Wörter aus der hebräischen Bibel wie auch zeitgenössisches Hebräisch.
Und nicht zuletzt widmet sich Kafka: Metamorphose eines Autors auch seiner schweren Erkrankung: Franz Kafka litt von 1917 an bis zu seinem Tod 1924 an Lungentuberkulose. Als sich sein Zustand dramatisch verschlechterte, hielt sich Kafka vom 20. Dezember 1920 bis zum 27. August 1921 im Sanatorium „Villa Tatra“ in Tatranské Matliare in der Hohen Tatra stationär auf. Gegen Ende seines Lebens konnte er nur noch durch Zettelnotizen mit seinem Umfeld kommunizieren. Auf einem dieser Zettel lesen wir: „Töte mich, sonst bist du ein Mörder.“ Am Morgen des 3. Juni 1924 starb Franz Kafka.
Bestattung in Prag
Sein Leichnam wurde dem Bestattungsinstitut der Stadtgemeinde Wien übergeben und nach Prag, seinem Geburtsort, überführt. Die Beerdigung fand am 11. Juni 1924 gegen 16 Uhr bei trübgrauem Wetter auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag-Strašnice statt. Seine Familie, Freunde und Bekannte, Dora Diamant – die Liebe seines Lebens – sowie eine Trauergesellschaft aus tschechischen, deutschen und jüdischen Verehrern des Schriftstellers folgten seinem Sarg.
Der Grabstein wurde vom Architekten Leopold Ehrmann in Form eines sechseckigen, unten abgeschnittenen Kristalls gestaltet: Die hebräische Inschrift lautet auf Feutsch: „Dr. Franz Kafka, 1883–1924, Dienstag, Anfang des Monats Siwan 5684. Der großartige, unverheiratete Mann, oben zitiert, unser Lehrer und Meister Anschel, gesegneten Angedenkens, ist der Sohn des hochverehrten R. Henoch Kafka, möge sein Licht leuchten. Der Name seiner Mutter ist Jettl. Möge seine Seele in der Vereinigung des Lebens verbunden sein!“ Eine Gedenktafel am Grabstein erinnert an das Schicksal von Kafkas Schwestern Gabriele, Valerie und Otilie (Ottla), die in Konzentrationslagern umkamen.
Kafkas literarisches Werk hat bis heute Einfluss in Israel. Es inspiriert Künstler und Autoren weltweit in ihren Adaptionen in Theaterstücken, Filmen, Tanzchoreografien und bildender Kunst.
Für die Ausstellung Kafka: Metamorphose eines Autors wandte sich die NLI an acht der führenden israelischen Illustratoren – Sergey Isakov, Eitan Eloa, Nino Biniaschvili, Anat Warschavsky, Addam Jekutieli, Merav Salomon, Roni Fahima und Michel Kichka. Die Künstler und Künstlerinnen wurden gebeten, sich mit den Werken Kafkas und dessen komplexer Persönlichkeit auseinanderzusetzen und zu korrespondieren. Dies ist ihnen eindrucksvoll gelungen.
2 Antworten
@ Redaktion. Meinen besonderen Dank für diesen Artikel. Frank Kafka ein ungewöhnlicher Schriftsteller.
“ Kafkas Puppe“ verinnerliche ich jedes Jahr einmal. Die letzten Wochen aus seinem Leben in Berlin. Nach Israel schaffte er es nicht mehr, da er von Krankheit gezeichnet war. Shalom
Vielen Dank für die Besprechung der Kafka-Ausstellung in der Nationalbibliothek. Eine schöne, aktuelle Auffrischung zu Reiner Stachs großer Kafka-Biografie, auch für eine breite Leserschaft.
Gibt es einen Katalog zur Ausstellung, und welchen Weg ihn evtl. zu erwerben?