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Die Gleichberechtigung der Töne

Vor dem Versöhnungstag Jom Kippur sprechen Juden das Gebet „Kol Nidre“. Eine besondere Vertonung stammt von Arnold Schönberg.
Von Gundula Madeleine Tegtmeyer

Kol Nidre alle Gelübde ist eine juristische Formel in aramäischer Sprache, der Umgangssprache im Heiligen Land zur Zeit Jesu. Damit sagt sich der Einzelne von den Gelübden, den Nedarim, am Vorabend zu Jom Kippur los. Der G´ttesdienst zu Jom Kippur weist eine Besonderheit auf, er beginnt bereits vor der Dämmerung, in diesem Jahr am heutigen Freitag.

Die Gemeinde spricht Kol Nidre vor dem Abendgebet zum Versöhnungstag dreimal. Die Erwartung auf das feierliche Ereignis und die Vorfreude auf den Neubeginn gaben der Abendandacht ihren Namen. Aus dieser innerlichen Anspannung heraus wurde eine ergreifende Melodie geboren, anfangs ohne Worte. Sie war der Auftakt zum heiligen Tag Jom Kippur.

Während die Gemeindevorsteher den Segensspruch sprechen, verhüllen sie Haupt und Schultern unter dem Tallit, dem Gebetsmantel. Die Gemeinde folgt ihnen. In diesem Moment beginnt der Jom-Kippur-G´ttesdienst. Die Gläubigen treten vor G´tt, den König der Gerechtigkeit, die Himmelspforte ist geöffnet, zu ihr darf das Gebet emporsteigen, das Gebet aller, auch das der Sünder und Sünderinnen.

Gesang kam später dazu

Seit wann jüdische Gemeinden Worte zur Kol-Nidre-Melodie singen, darüber gibt es unterschiedliche Interpretationen. Einige jüdische Gelehrte verorten den Text in das 9. Jahrhundert nach der Zeitrechnung, er soll bereits im Gebetbuch des Amram Bar Scheschna, auch Amram Ga‘on genannt, Erwähnung finden. Der jüdische Gelehrte war in Mesopotamien, dem heutigen Irak, Leiter der Akademie von Sura. Quellen belegen, dass spanische Juden, die im Zuge der Reconquista (1492) genötigt wurden, zum Christentum zu konvertieren, das Kol Nidre sprachen. Mit dieser Formel sprachen sich diejenigen frei, die zu ihrem Judentum zurückkehren wollten.

In der Übersetzung des deutsch-französischen Rabbiners Elie Munk (1900–1981) lautet die vom Chasan, dem Kantor, feierlich vorgetragene Erklärung: „Alle Gelübde, Entsagungen, Bannsprüche, Umschreibungen und Nebenbezeichnungen derselben, Strafen und Schwüre, die wir geloben, schwören, als Bann aussprechen und als Verbot uns auferlegen, von diesem Versöhnungstage bis zum nächsten Versöhnungstage, der uns zu Gutem kommen möge, sie alle bereue ich, sie alle seien aufgelöst, erlassen, aufgehoben, ungültig und ohne Bestand: Unsere Gelübde seien keine Gelübde, unsere Schwüre keine Schwüre.“

Antisemitische Propaganda

In der antisemitischen Propaganda wurde oft böswillig behauptet, Juden sprächen sich mit dieser Formel von allen Versprechungen und Verträgen frei. Hartnäckig hält sich vielerorts die Behauptung, dass Eide, die Juden vor Gericht ablegen, wertlos seien, weil der Jude seinen Schwur am Vorabend von Jom Kippur für nichtig erkläre.

Während der Zeit des Nationalsozialismus lehrte ein deutsches Kinderbuch: „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid!“ Tatsächlich ist ein Neder, ein Gelübde, das sich ein Jude selbst auferlegt hat, oft in herausfordernden Lebenssituationen, Versprechen, für das ausschließlich gegenüber G´tt und dem eigenen Gewissen Rechenschaft abgelegt muss. Das Kol Nidre lehrt Juden und Jüdinnen: Aufrichtige Reue ermöglicht die Aufhebung eines Gelübdes.

Der Talmud beschreibt eine solche Befreiung von Gelübden für den Tag vor dem Neujahrsfest Rosch HaSchana, Traktat Nedarim 23a. Dies erklärt, warum es in vielen Machsorim, den Gebetsbüchern für die Hohen Feiertage, für den Vorabend des Neujahrsfests eine Hatarat Nedarim, eineAufhebung der Gelübde“, gibt. Denkbar ist, dass diese Hatarat Nedarim auf den Vorabend von Jom Kippur vorverlegt wurde, da an diesem Abend besonders viele Menschen in die Synagoge kommen.

Foto: Tegtmeyer
Für die Hohen Feiertage gibt es ein besonderes Gebetsbuch

Festzuhalten ist, dass sich der ursprüngliche KolNidreText auf alle Gelübde des vergangenen Jahres bezog. Die Umwandlung in eine Aussage über die Zukunft – „von diesem Versöhnungstage bis zum nächste« – hat Rabbiner Ja‘akow Tam im 12. Jahrhundert durchgesetzt. Er war ein Enkel des französischen Rabbiners Raschi, ein Akronym für Rabbi Schlomo Jitzchaki. Raschi gilt als einer der führenden Bibelexegeten des Mittelalters.

Dies erklärt, warum in heutigen Gebetsbüchern zwei Textvarianten existieren. Vorbeter und Gemeinde sprechen unmittelbar nach der KolNidre-Deklaration folgenden Toravers: „Und es sei verziehen der ganzen Gemeinde der Kinder Israels und dem Fremden, der unter ihnen weilt; denn vom ganzen Volk geschah es aus Irrtum“ (4. Mose 15,26).

Gebetshaus und Gerichtssaal

Die Synagoge ist an Jom Kippur zugleich Beit Tefila und Beit Din, Gebetshaus und Gerichtssaal: G`tt prüft die Taten jedes Menschen und besiegelt am Ende des heiligen Tages das Urteil. Das Voranstellen des Kol Nidre vor dem Gebet unterstreicht einen wichtigen Aspekt des Versöhnungstages: Es ist das Ende eines Gerichtsprozesses, der an Rosch Haschana begonnen hat. An Jom Kippur wird gebetet, aber die Gläubigen stehen auch vor Gericht. Etwa 25 Stunden nach dem Kol Nidre, beim Abschlussgebet, der Ne’ila, wird das Urteil über jeden Einzelnen gesprochen.

In der musikalischen Bearbeitung von Max Bruch hat Kol Nidre Eingang in den Konzertsaal gefunden. Weniger bekannt ist, dass auch Arnold Schönberg, der Mitbegründer der Zwölftonmusik, das Kol Nidre vertont hat.

Schönberg, einer der bedeutendsten Komponisten, talentierter Maler und Schriftsteller, kam am 13. September 1874 als Sohn des jüdischen Schuhgeschäftsinhabers Samuel Schönberg und der aus Prag stammenden Jüdin Pauline Nachod in Wien zur Welt. Seinen einzigen Kompositionsunterricht erhielt er 1900 in Wien von Alexander von Zemlinsky, dessen Schwester Mathilde er ein Jahr später heiratete.

Der Musiktheoretiker Schönberg unterrichtete auch. Von seinen Schülern ragen Alban Berg, Anton Webern, Hanns Eisler sowie die Amerikaner Dave Brubeck, John Cage und Henry Cowell besonders hervor. Als Maler folgte Schönberg 1911 einer Einladung von Wassily Kandinsky und Franz Marc, an der Ausstellung „Der Blaue Reiter“ in München teilzunehmen. Er wurde in den gleichnamigen Almanach (1912) als Textautor und als Komponist aufgenommen. Während des Ersten Weltkriegs diente der vielseitige Künstler in einer Militärkapelle, bevor er 1918 in Wien den „Verein für musikalische Privataufführungen“ gründete, um zeitgenössische Musik zu fördern.

Zwölftonmusik als Ausweg

Nach einer künstlerischen Schaffenskrise fand Schönberg Anfang der 1920er Jahre einen Ausweg: Die Komposition mit „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“. Die Dodekaphonie, die „Zwölftonmusik“, verwendet die zwölf unterschiedlichen Töne unseres Tonsystems unter der Berücksichtigung einer Grundregel: kein Ton wird bevorzugt, sondern erklingt erst wieder, wenn alle anderen Töne auch erklungen sind.

Die „Zwölftonmethode“ war für das Publikum bald Synonym für alles „Dissonanzleid“ dieser Welt. Schönberg hingegen erhoffte sich mehr Verständlichkeit, Orientierung in einer Klangwelt, in der kein Grundton mehr vorherrschte, sondern die Gleichberechtigung aller zwölf Töne der chromatischen Skala.

Mit seiner bahnbrechenden Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen leitete Arnold Schönberg 1923 mit der Serenade op. 24 für ein Kammerensemble und Singstimme ein neues Kapitel der Musikgeschichte ein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte auch Schönberg atonal komponiert. Atonale Musik bezeichnet eine durch sogenannte Atonalität charakterisierte Musik, die auf der chromatischen Tonleiter gründet, deren Harmonik und Melodik nicht auf ein tonales Zentrum beziehungsweise einen Grundton fixiert ist.

Die chromatische Tonleiter enthält alle zwölf Töne in fortlaufender Reihenfolge. Die Tonleiter kann bei jedem dieser zwölf Töne beginnen, es gibt folglich zwölf verschiedene Varianten oder Umkehrungen. Eine chromatische Tonleiter kennzeichnet sich durch eine auf- und absteigende melodische Folge von zwölf Halbtonschritten innerhalb einer Oktave.

Aus dem atonal komponierenden Expressionisten Schönberg wurde ein streng nach Regeln komponierender Konstruktivist, der weltweit nachfolgende Musikergenerationen prägen sollte. Als der Nationalsozialist Adolf Hitler am 30. Januar 1933 von Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, die sogenannte „Machtergreifung“, und Akademiepräsident Max Schilling am 1. März verkündete, dass der jüdische Einfluss zu brechen sei, verließ Schönberg die Sitzung und trat aus der Preußischen Akademie der Künste in Berlin aus. Er hatte sie seit 1926 geleitet. Am 10. Mai desselben Jahres brannten auf dem Opernplatz Bücher und Notenblätter. Sieben Tage später kehrte Schönberg Berlin für immer den Rücken zu und ging zunächst nach Paris.

Rückkehr zum Judentum

1898 war der Jude Schönberg aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ausgetreten. Unter dem Eindruck der Bücherverbrennung trat Schönberg in Paris bei Rabbiner Louis Germain Levy am 24. Juli 1933 wieder in das Judentum ein. Kein Geringerer als der russischstämmige Maler Marc Chagall bezeugte Schönbergs Teshuva, seine Umkehr zum Judentum.

Kol Nidre op. 39 für Sprecher, Chor und kleines Orchester, komponiert 1939 auf Anregung des Rabbiners Jakob Sonderling, ist eine Frucht seiner religiösen Rückbesinnung. Schönberg zögerte anfänglich, denn er hielt das „Reinigungsgebet“ für problematisch, bis er erfuhr, dass es von sephardischen Juden gebetet wurde, die sich unter Androhung von Gewalt und Tod zum Katholizismus bekennen mussten, ihrem Glauben und G‘tt aber im Stillen die Treue halten wollten.

In Schönbergs umfangreichem Oeuvre konnte sich seine Kol-Nidre-Komposition weder im liturgischen Rahmen verankern noch in Konzertsälen durchsetzen. Dies ist bedauerlich, denn es war nach langer Zeit die erste Komposition, in der Schönberg auch atonale Idiome verwendete, und dennoch ist die Komposition konstruktiv durchdacht. Auch hier walten gekonnte kompositorische Handgriffe.

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Jüdische religiöse Themen waren ein wichtiger Bestandteil im Leben Schönbergs, wie seine Werke „Die Jakobsleiter“, „Moses und Aron“ und „Der biblische Weg“ dokumentieren. Vermutlich sind auch seine Spätwerke eine nochmalige Anstrengung, seinem Glauben nach außen – vermutlich auch nach innen – erneut Ausdruck zu verleihen. Auch beim Psalm 130 bediente sich der Komponist der Zwölftontechnik, allerdings weniger rigoros. Musikalisch kulminiert das Stück bei dem Satz: „Harre, Israel, auf den Herrn“. Er widmete diese Komposition dem modernen Staat Israel.

Arnold Schönberg starb am 13. Juli 1951 im kalifornischen Los Angeles. 1941 war der gebürtige Österreicher in den USA eingebürgert worden. Seine Asche wurde in sein Geburtsland überführt und am 6. Juni 1974 auf dem Zentralfriedhof in Wien beigesetzt.

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2 Antworten

  1. Danke für den Bericht. Habe viel Neues erfahren von Arnold Schönberg.
    Ich wünsche allen ein gesegneten Jom Kippur und Schabbat.
    Möge die Welt bald besser werden, auch durch viele Gebete…!

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  2. Ich habe immer gerne meinen Mann an Yom Kippur in die Synagoge begleitet, dieses Jahr leider nicht, da der beste Ehemann von allen in der Reha ist. Beim Kol Nidre und am darauffolgenden Tag beim Segen und dem Klang des Schofar habe ich immer meine enge Verbindung zum jüdischen Volk gespürt. Allen jüdischen Freunden wünsche ich ein gesegnetes Fest, möge das Jahr 5785 ihnen Gesundheit und Freude bringen, und Frieden für Israel. Shalom, hag sameah

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