Der Schofar, auf Deutsch Widderhorn, ist eines der ältesten noch erhaltenen Aerophone und stammt möglicherweise von frühneolithischen Hirten, also aus der Jungsteinzeit. Seit der Antike haben Hirten vieler Kulturen aus den Hörnern von Herdentieren Klanginstrumente hergestellt. Hirtenhörner anderer Kulturen weisen eine Entwicklung in Form und Technologie auf, wie etwa durch die Einfügung von Grifflöchern. Der Schofar ist einzigartig, denn er hat seine ursprüngliche Form bis zum heutigen Tage beibehalten. Im Judentum erschallt er an Rosch HaSchana, dem jüdischen Neujahrsfest, und zehn Tage später an Jom Kippur, dem Versöhnungstag. In diesem Jahr beginnt Rosch HaSchana am heutigen Mittwochabend.
In der Bibel finden wir nirgends die Bezeichnung Rosch HaSchana, wörtlich: „das Jahreshaupt“. Den Ausdruck finden wir indes bei Hesekiel 40,1, im 4. Buch Mose 29,1 wird der Feiertag als „Tag des Posaunenschalls“ bezeichnet und im 3. Buch Mose 23,24 lesen wir vom „Ruhetag mit Posaunenblasen zum Gedächtnis“. Simon Phillip De Vries, ehemaliger Rabbiner der jüdischen Gemeinde von Haarlem in den Niederlanden, weist darauf hin, es handle sich bei dem Ton um einen Schall und nicht um Lärm. De Vries war einer der ersten religiösen Zionisten. Im Frühjahr 1944 ist er im Konzentrationslager Bergen-Belsen umgekommen.
Das jüdische Neujahr ist ein Zeitpunkt der Abrechnung mit der ausdrücklichen Aufforderung, eine persönliche Bilanz zu ziehen über das eigene sittliche Verhalten und religiöse Leben während des abgelaufenen Jahres und mit Gebeten für die Zukunft vor G´tt zu treten. In der Liturgie heißt der Tag daher auch „Tag des Gedenkens“.
Hoffnung auf Gnade und Vergebung
Die ersten zehn Tage des neuen Jahres gelten dem Wachrufen des Bewusstseins der Sündhaftigkeit, dem Bitten um G´ttes Gnade und seiner Vergebung. Traditionell wünschen sich Juden und Jüdinnen in dieser Zeit: „mögest du zu einem guten Jahr eingeschrieben werden!“. Denn nach jüdischem Glauben werden die Namen der Guten in das Buch des Lebens eingeschrieben, die der Bösen gelöscht. Der erste dieser zehn Tage ist der Tag des Gedenkens, der letzte Jom Kippur, der Große Versöhnungstag.
Über all diesen Ermahnungen steht der Schofar. Die Überlieferung setzt das Widderhorn mit dem Widder in Beziehung, den Abraham auf dem Altar anstelle seines Sohns Isaak schlachtete. Falls G´tt es tatsächlich von ihm verlangt hätte, hätte er ihn geopfert. Doch im letzten Moment schreitet ein Bote G´ttes und gebot Abraham Einhalt. G´tt schickte einen Widder, der sich mit seinen Hörnern im Geäst verfangen hatte und geopfert werden konnte (1. Mose 22,1–19).
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Anders als bei anderem Blasinstrumenten können mit dem Schofar keine harmonischen Melodien gespielt werden, dem Widderhorn kann aber ein durchdringender Ton entlockt werden. Dies erklärt, warum der Schofar in biblischen Zeiten auch verwendet wurde, wenn öffentlich um Aufmerksamkeit gerungen wurde oder auch als Warnung. Mit dem Schofar oder einer silbernen Trompete wurden zudem Volksversammlungen einberufen.
Nachdem G‘tt Israel aus Ägypten befreit hat, führt er das Volk an den Sinai, wo er den Bund mit ihm schließt. In diesem Kontext ist der laute Ton des Schofar ein Begleitzeichen des Erscheinens G‘ttes. Dieser Moment, der Israel zum Bundesvolk erhebt, wird besonders durch die Gegenwart des allmächtigen G‘ttes, die der Schofarton ankündigt. Der Schofar ertönte während der Wanderung der Israeliten durch die Wüste als Marschbefehl, siehe 4. Buch Mose 10,1–10. Er diente auch als Warnung bei nahender Gefahr, wie etwa bei Joel 2,15 und Amos 3,6.
An Rosch HaSchana soll die Arbeit ruhen, es sollen Opfer gebracht und eine Festversammlung gehalten werden. In 4. Mose 29,1 wird dieser Tag folgendermaßen beschrieben: Und im siebten Monat, am Ersten des Monats, sollt ihr eine heilige Versammlung halten; keinerlei Dienstarbeit sollt ihr tun; ein Tag des ⟨Horn-⟩Blasens soll es für euch sein. (Elberfelder). Gemäß dieser Beschreibung wurde der Festtag Jom T´rua (Tag des Hornblasens) genannt. Seit der Gesetzgebung bis heute wird er am 1. Tischrei, im siebten Monat, gefeiert. Auch heute ist er noch unter frommen und religiösen Juden unter dieser Bezeichnung bekannt.
Schofar auch beim Jobeljahr
Im Zusammenhang mit den Festtagen spielt der Schofar noch zu einem anderen Anlass eine wichtige Rolle, denn er soll das Jobeljahr ankündigen: Und du sollst im siebten Monat, am Zehnten des Monats, ein Lärmhorn erschallen lassen; an dem Versöhnungstag sollt ihr ein Horn durch euer ganzes Land erschallen lassen. (3. Mose 25,9, Elberfelder)
Das Jobeljahr soll ein besonderes Sabbatjahr sein, in dem nicht nur das Land ruhen soll, sondern auch die Gesellschaft, indem für Bedürftige gesorgt wird, Schulden erlassen und Leibeigene freigelassen werden (3. Mose 25). Dieser besondere Tag beginnt alle 50 Jahre am Jom Kippur und soll durch den Schofarton im ganzen Land ausgerufen werden.
Das „Jobeljahr“ leitet seinen alttestamentlichen Namen von dem Widderhorn ab, hebräisch jôvel, durch dessen Blasen es eröffnet wurde. Im Lateinischen wurde daraus neben der unübersetzten Form iobeleus – so hat es die Vulgata – später das ähnlich klingende Wort iubilaeus, das an iubilare „jubeln“ denken lässt, „Jubiläum“ und „Jubeljahr“ leiten sich hiervon ab. Martin Luther nannte das Jobeljahr „Halljahr“. Jesaja 17,13 spricht von der großen Posaune, deren Blasen die Wiedervereinigung der Verlorenen und Verstoßenen verkünden wird. Ein besonderes biblisches Ereignis ist der Transport der Bundeslade nach Jerusalem, den David angemessen feiern lässt (2. Samuel 6,15).
Im Josuabuch gebietet Gott den Israeliten bei der Einnahme Jerichos (Josua 6), am siebten Tag nach der siebten Prozession um die Stadt, Schofarot zu benutzen, während das Volk ein Kriegsgeschrei erheben soll, was dann die Mauern der Stadt zum Einsturz bringt (6,20). Dieser besondere Moment der Landnahme hat durchaus kultische Anklänge, da die Priester mitsamt der Bundeslade, die die Gegenwart des einen Gottes im Bundesvolk symbolisiert, das Volk bei der Umrundung der Stadt anführen.
Im Laufe der biblischen Ereignisse erfüllt das Widderhorn auch in kriegerischen Auseinandersetzungen eine wichtige Aufgabe: es warnt, wenn Feinde gesichtet werdenund erschallt, wenn ein Heer zusammengerufen werden soll und wenn die Israeliten gesiegt hatten. Und nicht zuletzt: Der Tag des HERRN, sein Erscheinen, wird begleitet werden vom Erklingen des Schofar.
Widderhorn ertönt bereits im letzten Monat des Jahres
Wie es bei vielen jüdischen Traditionen zu beobachten ist, erfährt auch der Gebrauch des Widderhorns eine maßgebliche Veränderung in dem fast zwei Jahrtausende währenden zweiten Exil. Eine bis heute gängige Erweiterung bildet sich schon während der römischen Besatzung: Bereits im Monat Elul, der dem Jom T´rua (Rosch haSchana) am 1. Tischrei vorangeht, wird täglich der Schofar geblasen.
Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, wann genau diese Tradition ihren Anfang nahm, aber schon im 1. Jahrhundert nach Christi Geburt wird sie in rabbinischer Lehre behandelt, nach der sie tatsächlich auf einem historischen Ereignis beruhen soll: Es sei der 1. Elul gewesen, an dem G‘tt Mose aufgefordert habe, nach dem Geschehen rund um das goldene Kalb und dem Zerbrechen der ersten Bundestafeln erneut auf den Berg zu steigen, um die Gebote nochmals zu empfangen.
Als Mose sich zum zweiten Mal auf den Weg auf den Berg Sinai machte, sei im Lager der Israeliten der Schofar geblasen worden, um sie zur Teschuwa, zurUmkehr, zu rufen. Ihre Abkehr von G´tt sollte sich nicht wiederholen. Daraus hat sich die Tradition entwickelt, am 1. Elul den Schofar zu blasen, wie Rabbiner Elieser Ben Hyrkanos laut der Schrift Pirkej deRabbi Elieser überliefert hat.
Über Rabbiner Elieser Ben Hyrkanos ist nur bekannt, dass er der Lehrer des berühmten Rabbi Akiwa (um 50/55 bis 135 nach der Zeitrechnung) war. Beide waren vermutlich Zeitzeugen Jesu Christi. Dies bedeutet, dass Rabbi ben Hyrkanos sich auf die Tradition des Schofarblasens am 1. Elul als etwas bezieht, das zu Jesu Zeit bereits fest etabliert war.
Mit der Niederschlagung der Römer des Bar-Kochba-Aufstandes 136 nach der Zeitrechnung ist das zweite Exil besiegelt ist und Juden finden sich verstreut in unterschiedlichen Kulturen wieder. In einem Jahrhunderte andauernden Kampf zwischen Bewahrung der eigenen Identität und Traditionen und der Anpassung an neue Kulturen und die aktuellen Umstände verändern sich mit der Zeit Traditionen. Das wird auch in den unterschiedlichen jüdischen Strömungen deutlich.
In orientalischen Ländern wird ein großes und gewundenes Schofarhorn von bis zu einem Meter Länge verwendet. Unter den Aschkenasim, die in Ost- und Westeuropa angesiedelt sind, hat sich der Gebrauch kleiner Schofarot etabliert. Im ausgehenden Mittelalter berichtet Rabbiner Josef Karo (1488–1575) in seinem Werk Schulchan Aruch, hebräisch für „gedeckter Tisch“, davon, dass es zu seiner Zeit vielerorts in jüdischen Gemeinden Brauch war, während des gesamten Monat Elul täglich den Schofar zu blasen.
Rettung eines Schofars während der Schoa
Die Geschichte des Holocaust-Überlebenden Moshe Ben-Dov Winterer verdeutlicht die hohe Bedeutung des Schofar im Judentum bis zum heutigen Tag. Winterer wurde im Zwangsarbeitslager Skarżysko-Kamienna inhaftiert und musste für das deutsche Rüstungsunternehmen HASAGschuften. Unter den Mitgefangenen war auch der Rabbiner Yitzhak Finkler, der trotz der Umstände das Gebot erfüllen wollte, im Jahr 1943 an Rosch HaSchana den Schofar ertönen zu lassen.
Finkler bat Winterer, ein entsprechendes Horn nach halachischen Vorschriften zu bearbeiten, das er durch Bestechung eines polnischen Wachmanns beschafft hatte. Aus Angst vor einer drakonischen Strafe lehnte Winterer zunächst ab, stimmte dann doch zu und präparierte das Widderhorn. Die jüdischen Insassen versammelten sich zum Feiertag und konnten das Neue Jahr mit dem Ton des Schofars begrüßen.
Moshe Ben-Dov Winterer wurde in das Konzentrationslager Tschenstochau (Częstochowa) überstellt, wohin er das Horn mitnehmen konnte. Als er nach Buchenwald deportiert wurde, blieb der Schofar in Częstochowa zurück. Nach Kriegsende wurde er der dortigen jüdischen Gemeinde übergeben und gelangte schließlich in die USA. Winterer überlebte wie durch ein Wunder den Holocaust und emigrierte nach Israel, wo er Yad Vashembei der Überführung des Schofars nach Israel zur Gedenkstätte unterstützte. Hier wird er seit 1977 aufbewahrt. Das Widderhorn ist ein signifikanter Bestandteil jüdischer Tradition.
Der Tag des Hornklangs, Jom T´rua, entwickelte sich über die Zeit zum jüdischen Neujahrsfest. Doch auch wenn es heute als ein Neujahrsfest gefeiert wird, ist der Höhepunkt das Blasen des Schofar während des morgendlichen G´ttesdienstes, wobei sich eine Tradition etabliert hat: Zuerst ertönt die Tekia, ein langer Ton, ihm folgen drei mittellange Töne, die Sch´warim, denAbschluss bildet das Blasen des Sshofar mit neun T´rua, sehr kurz gepressten Tönen. Nach dem Klang des Schofar wünschen sich jüdische Menschen gegenseitig, dass sie für ein weiteres Jahr im Buch des Lebens eingeschrieben sein mögen.
Irreführende Übersetzungen
Laut mündlicher Überlieferung des Judentums wurde am 1. Tischrei die Erschaffung der Welt abgeschlossen. Der Schofar erinnert auch an G`ttes Schöpfungswerk, den Beginn der Menschheit und an seine Herrschaft als König über die Schöpfung. Vor diesem König muss sich der Mensch verantworten.
Um die kulturelle Distanz zum Urtext zu überwinden, haben viele Übersetzer das hebräische Wort Schofar mit einem vergleichbaren, in Europa bekannten Instrument wiedergegeben. Luther beispielsweise hat das Wort Schofar durch Posaune und manchmal auch Trompete ersetzt. Dies erklärt den Ursprung von „die Posaunen von Jericho“, die es nie gab.
Trompeten kamen im kultischen Kontext am Tempel vor, aber auch sie waren anders gestaltet als solche zur Zeit Luthers. Anders als beim Schofar im Judentum verhält es sich mit den Blechblasinstrumenten im Christentum. Ihre gottesdienstliche Funktion unterscheidet sich von der des Schofars. An die Stelle des aufrüttelnden, archaisch-schroffen Signaltons tritt in der Reformation primär das Lob G*ttes in Musik und gesungenen Bibelversen. So wie es in Martin Luthers Übersetzung von Psalm 150 heißt: „Lobet G‘tt in seinem Heiligtum! Lobet ihn mit Posaunen!“
Luthers Übersetzung des hebräischen Wortes Schofar als Posaune hatte weitreichende Folgen für die Entwicklung der Kirchen- und der Volksmusik in ganz Europa und darüber hinaus. Bei den Autoren der Briefe und der Offenbarung handelt es sich um jüdische Männer aus der Zeit Jesu oder kurz danach. Sie allesamt glaubten an Jesus Christus als ihren Retter in einer Zeit, in der der Schofar noch in Gebrauch war und eine bedeutende Rolle spielte. Daher muss an den entsprechenden Stellen von diesem Bild ausgegangen werden: Es wird keine Posaune geblasen, sondern das Widderhorn.
Der Posaunenklang ist ein Aufschrei, sein Ton soll das Gemüt des Juden durchdringen, wie es der große jüdische Gelehrte Moses Maimonides, auch RaMBaM (1135–1204), sinngemäß ausdrückte: Erwacht, die ihr da schlummert, und ihr, die ihr in tiefem Schlaf versunken seid. Prüft eure Taten, haltet Einkehr und denkt an euren Schöpfer! Ihr, die ihr im unwesentlichen der Zeit die Wahrheit vergessen habt, und das ganze Jahr hinter Nichtigkeiten geirrt seid, die euch keinen Nutzen bringen, schaut hinein in euch selbst, prüft eure Handlungen und euer Verhalten. Möge jeder, den es betrifft, den falschen Weg verlassen und von allen bösen Gedanken und g‘ttlosen Vorsätzen Abstand nehmen!
Das ist die unmittelbare Intention des Schofarblasens an Rosch HaSchana.
6 Antworten
Vielen Dank für die interessante Erklärung der jüdischen Tradition mit dem Schofar.
Der Text von Moses Maimonidis gefällt mir sehr. Das tut auch uns Christen gut: Erwachen, prüfen, Einkehr halten, falsche Wege verlassen und von gottlosen Vorsätzen Abstand nehmen.
Ich wünsche den Israelis heute zum Neujahrsfest, dass das Schofar laut erschallt und ihre Namen ins Buch des Lebens geschrieben sind.
Auch ich möchte mich herzlich bei der Redaktion für diesen informativen Beitrag bedanken. Er bringt mein Christ sein wieder mehr in seinen ursprünglichen „Kontext“. Bin ich doch eine „Eingepfropfte“.
Beim Lesen festgestellt, auch für mich scheint gerade ein „neues Jahr“ zu beginnen und ich habe einiges, aus dem letzten Jahr zu überdenken und zu prüfen…
Ich bedanke mich ebenfalls bei Israel-Netz für diesen sehr interessanten Bericht. Das gibt meinem Christsein ein ganz anderes Bild! Vieles ist doch von Kirchen geprägt und man hatte sich „angepasst“. Ich werde vieles überdenken!
Herzlichen Dank an Israelnetz und Frau Tegtmeyer — dieser tiefe Einblick war erwünscht. Je mehr Gelegenheiten, ins Judentum einzutauchen, desto besser.
Und beim Lesen der Schlachter-Übersetzung an den im Artikel genannten Bibelstellen mit dem Wort Posaune kam mir in letzter Zeit oft die Frage in den Sinn, ob wirklich Posaunen gemeint sind.
Aber als staatlich geprüfte Übersetzerin weiß ich, dass eine Übersetzung mehr Fehler enthalten kann, wenn sie öfter übersetzt wurde — sprich im Fall der Bibel vom Hebräischen ins Lateinische und dann ins Deutsche. Hier wurden ja auch mehrere Kulturen integriert bzw. mangels besseren Wissens von der eigenen Kultur ausgegangen.
Israel, גמר חתימה טובה (gmar chatima tova — Mögt ihr im Buch des Lebens eingetragen und versiegelt sein)! L’Schana tova uMetuka!
Auch von mir ein Herzlichen Dank an den informativen Bericht von Israel-Netzwerk !
Möge alles im neuen Jüdischen Kalenderjahr noch besser werden, und die Trübsal verblassen…!
Shalom Israel!